Guten Tag!
Warum muss im täglichen Gebrauch der Sprache ständig das Geschlecht
evoziert werden. Daher frage ich mich, ob es wichtig ist, immer zu
reflektieren, dass mein Gesprächspartner dieses oder jenes Geschlecht
hat. Für mich ist das nichts anderes als Transparenzwahn, der jede
Distanz aufgibt. Wenn das generische Femininum sich durchgesetzt
hätte, würde ich es akzeptieren und mich nicht benachteiligt fühlen.
Schon gar nicht käme ich auf die Idee, mich nicht für eine Tätigkeit
als „Professorin“ zu interessieren. Schließlich haben sich seinerzeit
auch Frauen interessiert, den Beruf des „Kaufmanns“ zu ergreifen. Und
ich muss in diesem Punkt widersprechen, dass mit dem Gendern eine
Sprachentwicklung eingesetzt hat; denn diese Sprachänderungen werden
tatsächlich künstlich erzeugt. Wenn unterrichtet werden muss, wie
gegendert werden soll, ist dies schon sehr merkwürdig und spricht
nicht dafür, dass eine Sprachentwicklung vorliegt. Auch der empfohlene
Bloggertext (https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/),
<https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/),%22%20%5Cl%20%22-1>
wohl einzig als Handreichung gedacht, um bei Markus Lanz sich
„trittsicher“ zu präsentieren, operiert mit Gefühlsargumenten: Dass
sich etwas „nicht zeitgemäß anfühlt“ ist ja wohl sehr vage. Außerdem
wird suggeriert, dass wissenschaftlich in dieser Frage alles schon
entschieden sei und Widersprüche erfolgreich in Studien entkräftet
seien. Das nenne ich naiv! Wenn auch gewisse Untersuchungen zeigen,
dass „mit der geschlechtsübergreifenden Standardform im Deutschen, dem
generischen Maskulinum, eher Männer als Frauen assoziiert werden“,
sollte eines nicht außer Acht kommen, wie Frau Dörte Stein in einem
Essay in der taz konstatiert: die „Bedeutung entsteht im Kontext, und
zwar nicht nur im Satzzusammenhang, sondern auch im außersprachlichen
Kontext unserer Erfahrungen und Denkmuster“. Ferner greift sie ein
Argument auf, dass ich ebenso sehr interessant finde: In der
türkischen Sprache liegt der genderneutrale Idealzustand vor, dort
gibt es gar kein grammatisches Geschlecht: Sind Frauen in der Türkei
besser gestellt?
(https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/)
<https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/)%22%20%5Cl%20%22-1>.
Ebenfalls hebt Frau Stein hervor, dass vor allem Sehbehinderte und
Blinde benachteiligt werden, wenn mit Gendersternchen der Lesefluss
erschwert wird. Und so teile ich ihren Standpunkt, dass die angeblich
diskriminierungsfreie Sprache „nicht nur antifeministisch und
sexistisch“ ist, „sie ist auch diskriminierend. Die Sprache
absichtlich zu verkomplizieren bedeutet zwangsläufig auch, die Hürde
höher zu legen und Andere aus dem Diskurs auszuschließen.“ Auch
juristisch sehe ich wenig Spielraum. An dieser Stelle darf ich an eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erinnern. Das Bundesgericht
hatte in einem Grundsatzurteil (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
ersten Senats vom 26. Mai 2020 – 1 BvR 1074/18-. Rn.1-8) festgestellt,
dass allein durch das so genannte generische Maskulinum, mit Blick auf
die Gesetzestexte, jedes natürliche Geschlecht erfasst wird. Darin
kann man schon eine gewisse Richtung erkennen, dass das Gendern nicht
so leicht sich juristisch durchsetzen lässt. Aber: Wer gendern möchte,
solle es tun, wer nicht, darf und kann nicht gezwungen werden.
Bzgl. des Namens: Ich wurde ja darum gebeten, einen Namensvorschlag zu
machen. „Bibliothekswelt“, liebe Frau Wiesenmüller, hat diese Tagung
ja auch nicht geheißen, wurde aber vorgeschlagen. Wenn es aus Gründen
„Bibliothekartag“ nicht sein darf, habe ich „Bibliothekskongress“
vorgeschlagen. Das war ein Vorschlag, mehr nicht.
Mir fällt bzgl. der bemühten Schaffung einer geschlechtergerechten
Sprache hierbei etwas ein, welches man in gewisser Hinsicht als eine
historische Parallele (Parallele - kein Vergleich (!)) ansehen kann:
Infolge der Französischen Revolution war man bemüht, alles Feudale,
alles, was vermeintlich an herrschaftliche Gesinnungen, Unterdrückung
erinnert, abzutun. Man war quasi im Sinne des Prinzips der Vernunft
bemüht, aus diesen Gründen die Lebensordnung neu zu erfinden. Man
schuf neue Maßsysteme, einen neuen Kalender, eine neue Zeitrechnung,
die zu der Einführung des Dezimalsystems führten und somit zB zu einer
Zehntagewoche. Kurz, man wollte alles besser machen und gerechter. Die
jüngeren Generationen wurden darauf vorbereitet. Auch wenn Napoleon
dies alles per Dekret stoppte, dürften die Schwierigkeiten dieses
Systems schon allein im (wirtschaftlichen) internationalen Austausch
offenbar gewesen sein.
Schönen Gruß
Mathis Holzbach
———————————————————
Dr. Mathis Holzbach, M.L.I.S.
P. Prof. Dr. Heribert Niederschlag SAC Büro P. F. Reinisch
Pallottistr. 3
56179 Vallendar
Am 05.07.2021 um 08:45 schrieb Heidrun Wiesenmüller via InetBib
<inetbib@xxxxxxxxxx>:
Guten Morgen zusammen,
ich wollte ja nichts mehr zum Thema Gendering schreiben, muss aber
nun leider doch kurz auf die Mail von Herrn Nowak reagieren.
1. Natürlich spiegelt die Sprache die Gesellschaft. Ich glaube, in
der ganzen Diskussion hier hat das noch niemand bestritten. Auch
Herzbruch spricht das explizit an ("Gesellschaftliche Tradition, wir
leben nun einmal in einer Kultur, in der die Ärzte den allergrößten
Teil der Geschichte Männer waren"). Wenn die gesellschaftlichen
Rollen von Männern und Frauen vertauscht wären, dann wären jetzt
wahrscheinlich die weiblichen Formen die kürzeren und wir würden über
das generische Femininum diskutieren.
Umso mehr ist es doch wichtig, unbefriedigende gesellschaftliche
Situationen nicht auch noch sprachlich zu stützen und zu verfestigen.
Nehmen wir noch mal mein eigenes Beispiel: An der HdM beträgt der
Anteil der Professorinnen derzeit ca. 17 % (ob wir auch nicht-binäre
Kolleg:innen haben, weiß ich leider nicht - Entschuldigung an Nik
Baumann). Wenn man nun immer von "Professoren" spricht, wird dieser
ohnehin viel zu kleine Anteil weiter marginalisiert und unsichtbar
gemacht - und gewiss werden junge Wissenschaftlerinnen dadurch nicht
gerade dazu ermutigt und animiert, sich für eine Karriere als
FH-Prof. zu interessieren.
2. Zu dem Autounfall-Beispiel: Ich selbst habe zunächst eine deutsche
Fassung verwendet mit einem eindeutigen generischen Maskulin. Und bei
meinem Hinweis auf das Englische habe ich auf die angenommene
Geschlechtsneutralität der Substantive explizit hingewiesen.
Vielleicht hätten Herzbruch und/oder ich selbst noch mehr zum
Englischen schreiben sollen, aber das war ja eigentlich nicht das
Thema.
Um es aber kurz nachzuholen: Nur auf den ersten Blick betrachtet hat
das Englische kein Gender-Problem (und ich argwöhne, dass auch Sie
das eigentlich wissen). Denn zwar sind die Substantive nicht
morphologisch nach Genus markiert, aber man muss ja Pronomina
verwenden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden für die generische
Bedeutung traditionell - Überraschung! - maskuline Pronomina
verwendet, z.B.: "A good teacher makes his lessons fun." Insofern
stützt auch die englische Sprache das Bild vom Mann als Normalfall.
Ich bin auch ziemlich sicher, dass Sie Formen wie "female doctor"
oder "lady doctor" in Korpora sehr viel häufiger antreffen werden als
"male doctor" (ein Pendant für "lady doctor" gibt es wohl gar nicht,
was auch schon wieder für sich spricht). Ich denke schon, dass dies
zumindest einen Anteil daran hat, welche Bilder die englische
Variante der Autounfall-Geschichte in den meisten Köpfen erzeugt.
Soweit ich mich erinnern kann, habe ich übrigens in der Schule nur
das generische "he" gelernt und erst an der Uni erfahren, dass es
z.B. auch "s/he" oder "his or her" gibt. In jüngerer Zeit wird immer
stärker "singular they" verwendet, d.h. die genderneutralen
Pluralpronomina werden auch im Singular benutzt. Das ist aus meiner
Sicht die beste Lösung, weil es auch nicht-binäre Personen mit
einschließt.
Neben den Pronomina gibt es im Englischen weitere Problembereiche wie
z.B. "chairman" und "mankind"; Wikipedia bringt eine gute Übersicht:
https://en.wikipedia.org/wiki/Gender_neutrality_in_English.
Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller
Am 04.07.2021 um 19:44 schrieb nwk--- via InetBib:
Hallo.
Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit gelesen
habe, möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen anderen hier
Mitlesenden sehr ans Herz legen, wenn noch nicht bekannt:
https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/
Leider: Auch Herzbruch, obwohl sie "in der Rolle der
frühemeritierten Linguistin" auftritt (und es daher besser wissen
sollte), zieht die englischsprachige Geschichte, in der von einem
als "surgeon" bezeichneten Menschen die Rede ist, als Beleg für die
Unzulänglichkeit des generischen Maskulinum heran. Ich will gar
nicht darauf eingehen, ob ich an die Möglichkeit eines generischen
Maskulinum (im modernen Stadium oder in irgendeinem früheren Stadium
des Deutschen oder in irgendeiner anderen Sprache) überhaupt glaube.
Aber die Logik gebietet: Wenn ein Ausdruck (hier: "surgeon") ein
Beispiel für generisches Maskulinum darstellen soll, dann muss es
sich bei diesem Ausdruck zunächst einmal überhaupt um ein Maskulinum
handeln. Mit anderen Worten: Nur wenn das Wort "surgeon" ein
Maskulinum wäre, könnte man behaupten, dies wäre ein Ausdruck, der
"eigentlich" Männer bezeichnet, der aber in diesem Fall Frauen
"mitmeinen" soll. Das Wort "surgeon" ist jedoch ersichtlich – im
Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" – kein Maskulinum, sondern
ein Utrum. Das heißt: Wenn klargestellt werden sollte, dass ein Mann
oder eine Frau gemeint ist, müsste ausdrücklich "male surgeon" /
"man surgeon" / "female surgeon" / "woman surgeon" (oder ähnlich)
gesagt werden. Das Wort "surgeon" kann nichts dafür, dass es vielen
schwerfällt, darauf zu kommen, dass in diesem Fall eine Chirurgin
gemeint ist. Das liegt vielmehr am Vorstellungsvermögen, das
wiederum von der historischen Wirklichkeit geprägt ist. Mit anderen
Worten: Ja, man kann es durch Untersuchungen feststellen, dass auch
viele, die Englisch als Muttersprache sprechen, sich leichter Männer
operierend vorstellen können als Frauen, aber was diese
Untersuchungen zeigen, ist genau das: die Verknüpfung von
(wahrgenommenem) Geschlecht und Tätigkeit in der Vorstellung der
Versuchspersonen. Was diese Untersuchungen dagegen nicht zeigen,
ist, dass dabei das grammatische Genus des Wortes "surgeon" eine
Rolle spielt; das können diese Untersuchungen auch nicht zeigen,
weil wie gesagt "surgeon" kein Maskulinum ist. Wegen besagter
Verknüpfung kann das Wort für die Tätigkeit zugleich die Vorstellung
des Geschlechts aktivieren. Das gilt übrigens nicht nur beim nomen
agentis, sondern auch beim nomen actionis: Stellen Sie sich mal
bildlich "eine Operation" vor. Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge auf
Anhieb ein Team von Operateurinnen unterstützt von (männlichen)
Praxishelfern gesehen haben: Glückwunsch. Wenn Sie das können, dann
können Sie auch darauf kommen, dass mit "surgeon" eine Frau, nämlich
die Mutter, gemeint sein kann. Nichts an dem Wort "surgeon" selbst
kann Sie daran hindern; denn es hat nichts inhärent Maskulines.
(Übrigens stimme ich allen zu, die dieses "Rätsel" entsetzlich
heteronormativ finden.) Wie auch immer: Das Wort "surgeon" ist nicht
schuld; denn im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" ist es kein
Maskulinum, und da es das nicht ist, kann es auch nicht als
generisches Maskulinum gebraucht werden und kann somit auch nicht
sinnvollerweise als Beispiel für die Geeignetheit oder
Ungeeignetheit des generischen Maskulinum dienen. Die
surgeon-Geschichte beweist gerade nicht, dass an der Sprache etwas
nicht stimmt, sondern dass bestehende Verhältnisse Vorstellungen
prägen. Wenn wir weiterhin unsere Babys nach rosa und blau
sortieren, werden wir in der Hinsicht auch nicht so schnell
vorankommen, selbst wenn wir engagiert an der Sprache herumdoktern.
Schönen Abend
Sean Nowak
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Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
Hochschule der Medien
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