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Re: [InetBib] OT: Re: Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)



Liebe Frau Wiesenmüller (herzlichen Gruß!), lieber Herr Holzbach, sehr geehrte Damen und Herren, der Hinweis auf die Französische Revolution ist hilfreich. Sehr interessant ist auch ein Aufsatz von Frau Dr. Annette Weidhas, der Leiterin der Evang. Verlagsanstalt Leipzig, in der Zeitschrift "Zeitzeichen" (1/2021, S. 27-29). Sie fühlt sich in vielem an die Sprachvorgaben der DDR erinnert, die sie persönlich erlebt hat. Was ich in meiner Wortmeldung vom Freitag deutlich machen wollte, ist, dass es sich bei dieser Frage, wie ja auch die Diskussion zeigt, nicht um eine einfache Sprachregelung handelt, sondern um eine weltanschauliche Auseinandersetzung. Die Analysen der Befürworter des Genderns (wobei ja dann noch zahlreiche Varianten innerhalb des Genderns besprochen werden müssten und auch die Frage der Konsequenz, weil man auch Artikel und Pronomen einbeziehen müsste) sind so lange schlüssig, als man die Prämissen der dahinterstehenden Philosophie teilt. Das aber setzt bereits eine weltanschauliche Entscheidung voraus. Beim generischen Maskulinum war dagegen nie an eine weltanschauliche Festlegung gedacht, auch wenn das aus Sicht der poststrukturalistischen Philosophie anders unterstellt wird. Indem die Berufsverbände, die den Bibliothekartag verantworten, alle Beteiligten auf die Gender-Sprache verpflichten würden (was bereits im Titel der Veranstaltung artikuliert würde), würden sie keine reinen Berufsverbände mehr sein, sondern weltanschaulich vorgeprägte Vereinigungen. Bibliothekare würden zu Aktivisten für eine bestimmte Weltanschauung - worin es durchaus Parallelen zu anderen Berufsgruppen wie Journalisten und Teilen des wissenschaftlichen Personals in den Universitäten gäbe. Das kann man so machen, aber dann darf man nicht erwarten, dass sich noch alle, die diesen Beruf ausüben, vertreten fühlen. Das bibliothekarische Berufsethos würde sich stark verändern, weil nicht mehr auf Ergebnisoffenheit von Forschung und Vielfalt des Bestandsaufbaus geachtet würde. Im angloamerikanischen Bereich werden ja bereits Säuberungen in Bibliotheken und in klassischen Texten vorgenommen, indem für ein bestimmtes Weltbild unliebsame Literatur oder entsprechende Textstellen aus dem Angebot entfernt werden. Ich möchte nur auf solche Entwicklungen aufmerksam machen, die in Deutschland jetzt zur Gründung des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit geführt haben (dem übrigens sehr viele Professorinnen, hier explizit auf die Weiblichkeit abgehoben, angehören).
Mit herzlichen Grüßen, Ihr
Christian Herrmann

Am 05.07.2021 um 11:32 schrieb Mathis Holzbach via InetBib:
Guten Tag!

Warum muss im täglichen Gebrauch der Sprache ständig das Geschlecht evoziert werden. Daher frage ich mich, ob es wichtig ist, immer zu reflektieren, dass mein Gesprächspartner dieses oder jenes Geschlecht hat. Für mich ist das nichts anderes als Transparenzwahn, der jede Distanz aufgibt. Wenn das generische Femininum sich durchgesetzt hätte, würde ich es akzeptieren 
und mich nicht benachteiligt fühlen. Schon gar nicht käme ich auf die Idee, mich nicht für eine Tätigkeit als „Professorin“ zu interessieren. Schließlich haben sich seinerzeit auch Frauen interessiert, den Beruf des „Kaufmanns“ zu ergreifen. Und ich muss in diesem Punkt widersprechen, dass mit dem Gendern eine Sprachentwicklung eingesetzt hat; 
denn diese Sprachänderungen werden tatsächlich künstlich erzeugt. Wenn unterrichtet werden muss, wie gegendert werden soll, ist dies schon sehr merkwürdig und spricht nicht dafür, dass eine Sprachentwicklung vorliegt. Auch der empfohlene Bloggertext (https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/), <https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/),%22%20%5Cl%20%22-1> 
wohl einzig als Handreichung gedacht, um bei Markus Lanz sich „trittsicher“ zu präsentieren, operiert mit Gefühlsargumenten: Dass sich etwas „nicht zeitgemäß anfühlt“ ist ja wohl sehr vage. Außerdem wird suggeriert, dass wissenschaftlich in dieser Frage alles schon entschieden sei und Widersprüche erfolgreich in Studien entkräftet 
seien. Das nenne ich naiv! Wenn auch gewisse Untersuchungen zeigen, dass „mit der geschlechtsübergreifenden Standardform im Deutschen, dem generischen Maskulinum, eher Männer als Frauen assoziiert werden“, sollte eines nicht außer Acht kommen, wie Frau Dörte Stein in einem Essay in der taz konstatiert: die „Bedeutung entsteht im Kontext, und zwar nicht nur 
im Satzzusammenhang, sondern auch im außersprachlichen Kontext unserer Erfahrungen und Denkmuster“. Ferner greift sie ein Argument auf, dass ich ebenso sehr interessant finde: In der türkischen Sprache liegt der genderneutrale Idealzustand vor, dort gibt es gar kein grammatisches Geschlecht: Sind Frauen in der Türkei besser gestellt? 
(https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/) <https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/)%22%20%5Cl%20%22-1>. Ebenfalls hebt Frau Stein hervor, dass vor allem Sehbehinderte und Blinde benachteiligt werden, wenn mit Gendersternchen der Lesefluss erschwert wird. Und so teile ich ihren Standpunkt, dass die angeblich diskriminierungsfreie Sprache „nicht nur 
antifeministisch und sexistisch“ ist, „sie ist auch diskriminierend. Die Sprache absichtlich zu verkomplizieren bedeutet zwangsläufig auch, die Hürde höher zu legen und Andere aus dem Diskurs auszuschließen.“ Auch juristisch sehe ich wenig Spielraum. An dieser Stelle darf ich an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erinnern. Das Bundesgericht 
hatte in einem Grundsatzurteil (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des ersten Senats vom 26. Mai 2020 – 1 BvR 1074/18-. Rn.1-8) festgestellt, dass allein durch das so genannte generische Maskulinum, mit Blick auf die Gesetzestexte, jedes natürliche Geschlecht erfasst wird. Darin kann man schon eine gewisse Richtung erkennen, dass das Gendern nicht so leicht sich juristisch durchsetzen 
lässt. Aber: Wer gendern möchte, solle es tun, wer nicht, darf und kann nicht gezwungen werden.


Bzgl. des Namens: Ich wurde ja darum gebeten, einen Namensvorschlag zu machen. „Bibliothekswelt“, liebe Frau 
Wiesenmüller, hat diese Tagung ja auch nicht geheißen, wurde aber vorgeschlagen. Wenn es aus Gründen 
„Bibliothekartag“ nicht sein darf, habe ich „Bibliothekskongress“ vorgeschlagen. Das war ein Vorschlag, mehr 
nicht.

Mir fällt bzgl. der bemühten Schaffung einer geschlechtergerechten Sprache hierbei etwas ein, welches man in gewisser Hinsicht 
als eine historische Parallele (Parallele - kein Vergleich (!)) ansehen kann: Infolge der Französischen Revolution war man 
bemüht, alles Feudale, alles, was vermeintlich an herrschaftliche Gesinnungen, Unterdrückung erinnert, abzutun. Man war quasi im 
Sinne des Prinzips der Vernunft bemüht, aus diesen Gründen die Lebensordnung neu zu erfinden. Man schuf neue Maßsysteme, 
einen neuen Kalender, eine neue Zeitrechnung, die zu der Einführung des Dezimalsystems führten und somit zB zu einer 
Zehntagewoche. Kurz, man wollte alles besser machen und gerechter. Die jüngeren Generationen wurden darauf vorbereitet. Auch wenn 
Napoleon dies alles per Dekret stoppte, dürften die Schwierigkeiten dieses Systems schon allein im (wirtschaftlichen) internationalen 
Austausch offenbar gewesen sein.


Schönen Gruß

Mathis Holzbach


———————————————————

Dr. Mathis Holzbach, M.L.I.S.
P. Prof. Dr. Heribert Niederschlag SAC
Büro P. F. Reinisch
Pallottistr. 3
56179 Vallendar



Am 05.07.2021 um 08:45 schrieb Heidrun Wiesenmüller via InetBib 
<inetbib@xxxxxxxxxx>:

Guten Morgen zusammen,

ich wollte ja nichts mehr zum Thema Gendering schreiben, muss aber nun leider 
doch kurz auf die Mail von Herrn Nowak reagieren.

1. Natürlich spiegelt die Sprache die Gesellschaft. Ich glaube, in der ganzen Diskussion hier hat das noch niemand bestritten. Auch 
Herzbruch spricht das explizit an ("Gesellschaftliche Tradition, wir leben nun einmal in einer Kultur, in der die Ärzte den 
allergrößten Teil der Geschichte Männer waren"). Wenn die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen vertauscht 
wären, dann wären jetzt wahrscheinlich die weiblichen Formen die kürzeren und wir würden über das generische Femininum 
diskutieren.

Umso mehr ist es doch wichtig, unbefriedigende gesellschaftliche Situationen nicht auch noch sprachlich zu 
stützen und zu verfestigen. Nehmen wir noch mal mein eigenes Beispiel: An der HdM beträgt der Anteil der 
Professorinnen derzeit ca. 17 % (ob wir auch nicht-binäre Kolleg:innen haben, weiß ich leider nicht - 
Entschuldigung an Nik Baumann). Wenn man nun immer von "Professoren" spricht, wird dieser ohnehin viel 
zu kleine Anteil weiter marginalisiert und unsichtbar gemacht - und gewiss werden junge Wissenschaftlerinnen 
dadurch nicht gerade dazu ermutigt und animiert, sich für eine Karriere als FH-Prof. zu interessieren.

2. Zu dem Autounfall-Beispiel: Ich selbst habe zunächst eine deutsche Fassung verwendet 
mit einem eindeutigen generischen Maskulin. Und bei meinem Hinweis auf das Englische habe ich 
auf die angenommene Geschlechtsneutralität der Substantive explizit hingewiesen. 
Vielleicht hätten Herzbruch und/oder ich selbst noch mehr zum Englischen schreiben 
sollen, aber das war ja eigentlich nicht das Thema.

Um es aber kurz nachzuholen: Nur auf den ersten Blick betrachtet hat das Englische kein Gender-Problem (und ich argwöhne, dass auch Sie das eigentlich wissen). Denn 
zwar sind die Substantive nicht morphologisch nach Genus markiert, aber man muss ja Pronomina verwenden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden für die generische 
Bedeutung traditionell - Überraschung! - maskuline Pronomina verwendet, z.B.: "A good teacher makes his lessons fun." Insofern stützt auch die 
englische Sprache das Bild vom Mann als Normalfall. Ich bin auch ziemlich sicher, dass Sie Formen wie "female doctor" oder "lady doctor" in Korpora 
sehr viel häufiger antreffen werden als "male doctor" (ein Pendant für "lady doctor" gibt es wohl gar nicht, was auch schon wieder für 
sich spricht). Ich denke schon, dass dies zumindest einen Anteil daran hat, welche Bilder die englische Variante der Autounfall-Geschichte in den meisten Köpfen 
erzeugt.

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich übrigens in der Schule nur das generische "he" gelernt und erst an der Uni erfahren, dass es 
z.B. auch "s/he" oder "his or her" gibt. In jüngerer Zeit wird immer stärker "singular they" verwendet, d.h. 
die genderneutralen Pluralpronomina werden auch im Singular benutzt. Das ist aus meiner Sicht die beste Lösung, weil es auch nicht-binäre 
Personen mit einschließt.

Neben den Pronomina gibt es im Englischen weitere Problembereiche wie z.B. "chairman" und 
"mankind"; Wikipedia bringt eine gute Übersicht: 
https://en.wikipedia.org/wiki/Gender_neutrality_in_English.

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller




Am 04.07.2021 um 19:44 schrieb nwk--- via InetBib:
Hallo.
Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit
gelesen habe, möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen
anderen hier Mitlesenden sehr ans Herz legen, wenn noch
nicht bekannt:

https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/
Leider: Auch Herzbruch, obwohl sie "in der Rolle der frühemeritierten Linguistin" auftritt (und es daher besser wissen sollte), zieht die englischsprachige Geschichte, in der von einem als "surgeon" bezeichneten Menschen die Rede ist, als Beleg für die Unzulänglichkeit des generischen Maskulinum heran. Ich will gar nicht darauf eingehen, ob ich an die Möglichkeit eines generischen Maskulinum (im modernen Stadium oder in irgendeinem früheren Stadium des Deutschen 
oder in irgendeiner anderen Sprache) überhaupt glaube. Aber die Logik gebietet: Wenn ein Ausdruck (hier: "surgeon") ein Beispiel für generisches Maskulinum darstellen soll, dann muss es sich bei diesem Ausdruck zunächst einmal überhaupt um ein Maskulinum handeln. Mit anderen Worten: Nur wenn das Wort "surgeon" ein Maskulinum wäre, könnte man behaupten, dies wäre ein Ausdruck, der "eigentlich" Männer bezeichnet, der aber in diesem Fall 
Frauen "mitmeinen" soll. Das Wort "surgeon" ist jedoch ersichtlich – im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" – kein Maskulinum, sondern ein Utrum. Das heißt: Wenn klargestellt werden sollte, dass ein Mann oder eine Frau gemeint ist, müsste ausdrücklich "male surgeon" / "man surgeon" / "female surgeon" / "woman surgeon" (oder ähnlich) gesagt werden. Das Wort "surgeon" kann nichts dafür, 
dass es vielen schwerfällt, darauf zu kommen, dass in diesem Fall eine Chirurgin gemeint ist. Das liegt vielmehr am Vorstellungsvermögen, das wiederum von der historischen Wirklichkeit geprägt ist. Mit anderen Worten: Ja, man kann es durch Untersuchungen feststellen, dass auch viele, die Englisch als Muttersprache sprechen, sich leichter Männer operierend vorstellen können als Frauen, aber was diese Untersuchungen zeigen, ist genau das: die Verknüpfung von (wahrgenommenem) 
Geschlecht und Tätigkeit in der Vorstellung der Versuchspersonen. Was diese Untersuchungen dagegen nicht zeigen, ist, dass dabei das grammatische Genus des Wortes "surgeon" eine Rolle spielt; das können diese Untersuchungen auch nicht zeigen, weil wie gesagt "surgeon" kein Maskulinum ist. Wegen besagter Verknüpfung kann das Wort für die Tätigkeit zugleich die Vorstellung des Geschlechts aktivieren. Das gilt übrigens nicht nur beim nomen agentis, sondern auch 
beim nomen actionis: Stellen Sie sich mal bildlich "eine Operation" vor. Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge auf Anhieb ein Team von Operateurinnen unterstützt von (männlichen) Praxishelfern gesehen haben: Glückwunsch. Wenn Sie das können, dann können Sie auch darauf kommen, dass mit "surgeon" eine Frau, nämlich die Mutter, gemeint sein kann. Nichts an dem Wort "surgeon" selbst kann Sie daran hindern; denn es hat nichts inhärent Maskulines. 
(Übrigens stimme ich allen zu, die dieses "Rätsel" entsetzlich heteronormativ finden.) Wie auch immer: Das Wort "surgeon" ist nicht schuld; denn im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" ist es kein Maskulinum, und da es das nicht ist, kann es auch nicht als generisches Maskulinum gebraucht werden und kann somit auch nicht sinnvollerweise als Beispiel für die Geeignetheit oder Ungeeignetheit des generischen Maskulinum dienen. Die surgeon-Geschichte beweist gerade 
nicht, dass an der Sprache etwas nicht stimmt, sondern dass bestehende Verhältnisse Vorstellungen prägen. Wenn wir weiterhin unsere Babys nach rosa und blau sortieren, werden wir in der Hinsicht auch nicht so schnell vorankommen, selbst wenn wir engagiert an der Sprache herumdoktern.

Schönen Abend

Sean Nowak

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Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
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Dr. theol. Christian Herrmann
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