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Re: [InetBib] OT: Re: Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)



Guten Morgen zusammen,

ich wollte ja nichts mehr zum Thema Gendering schreiben, muss aber nun leider doch kurz auf die Mail von Herrn Nowak reagieren.

1. Natürlich spiegelt die Sprache die Gesellschaft. Ich glaube, in der ganzen Diskussion hier hat das noch niemand bestritten. Auch Herzbruch spricht das explizit an ("Gesellschaftliche Tradition, wir leben nun einmal in einer Kultur, in der die Ärzte den allergrößten Teil der Geschichte Männer waren"). Wenn die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen vertauscht wären, dann wären jetzt wahrscheinlich die weiblichen Formen die kürzeren und wir würden über das generische Femininum diskutieren.

Umso mehr ist es doch wichtig, unbefriedigende gesellschaftliche Situationen nicht auch noch sprachlich zu stützen und zu verfestigen. Nehmen wir noch mal mein eigenes Beispiel: An der HdM beträgt der Anteil der Professorinnen derzeit ca. 17 % (ob wir auch nicht-binäre Kolleg:innen haben, weiß ich leider nicht - Entschuldigung an Nik Baumann). Wenn man nun immer von "Professoren" spricht, wird dieser ohnehin viel zu kleine Anteil weiter marginalisiert und unsichtbar gemacht - und gewiss werden junge Wissenschaftlerinnen dadurch nicht gerade dazu ermutigt und animiert, sich für eine Karriere als FH-Prof. zu interessieren.

2. Zu dem Autounfall-Beispiel: Ich selbst habe zunächst eine deutsche Fassung verwendet mit einem eindeutigen generischen Maskulin. Und bei meinem Hinweis auf das Englische habe ich auf die angenommene Geschlechtsneutralität der Substantive explizit hingewiesen. Vielleicht hätten Herzbruch und/oder ich selbst noch mehr zum Englischen schreiben sollen, aber das war ja eigentlich nicht das Thema.

Um es aber kurz nachzuholen: Nur auf den ersten Blick betrachtet hat das Englische kein Gender-Problem (und ich argwöhne, dass auch Sie das eigentlich wissen). Denn zwar sind die Substantive nicht morphologisch nach Genus markiert, aber man muss ja Pronomina verwenden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden für die generische Bedeutung traditionell - Überraschung! - maskuline Pronomina verwendet, z.B.: "A good teacher makes his lessons fun." Insofern stützt auch die englische Sprache das Bild vom Mann als Normalfall. Ich bin auch ziemlich sicher, dass Sie Formen wie "female doctor" oder "lady doctor" in Korpora sehr viel häufiger antreffen werden als "male doctor" (ein Pendant für "lady doctor" gibt es wohl gar nicht, was auch schon wieder für sich spricht). Ich denke schon, dass dies zumindest einen Anteil daran hat, welche Bilder die englische Variante der Autounfall-Geschichte in den meisten Köpfen erzeugt.

Soweit ich mich erinnern kann, habe ich übrigens in der Schule nur das generische "he" gelernt und erst an der Uni erfahren, dass es z.B. auch "s/he" oder "his or her" gibt. In jüngerer Zeit wird immer stärker "singular they" verwendet, d.h. die genderneutralen Pluralpronomina werden auch im Singular benutzt. Das ist aus meiner Sicht die beste Lösung, weil es auch nicht-binäre Personen mit einschließt.

Neben den Pronomina gibt es im Englischen weitere Problembereiche wie z.B. "chairman" und "mankind"; Wikipedia bringt eine gute Übersicht: https://en.wikipedia.org/wiki/Gender_neutrality_in_English.

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller




Am 04.07.2021 um 19:44 schrieb nwk--- via InetBib:
Hallo.
Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit
gelesen habe, möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen
anderen hier Mitlesenden sehr ans Herz legen, wenn noch
nicht bekannt:

https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/
Leider: Auch Herzbruch, obwohl sie "in der Rolle der frühemeritierten Linguistin" auftritt (und es daher besser wissen sollte), zieht die englischsprachige Geschichte, in der von einem als "surgeon" bezeichneten Menschen die Rede ist, als Beleg für die Unzulänglichkeit des generischen Maskulinum heran. Ich will gar nicht darauf eingehen, ob ich an die Möglichkeit eines generischen Maskulinum (im modernen Stadium oder in irgendeinem früheren Stadium des Deutschen 
oder in irgendeiner anderen Sprache) überhaupt glaube. Aber die Logik gebietet: Wenn ein Ausdruck (hier: "surgeon") ein Beispiel für generisches Maskulinum darstellen soll, dann muss es sich bei diesem Ausdruck zunächst einmal überhaupt um ein Maskulinum handeln. Mit anderen Worten: Nur wenn das Wort "surgeon" ein Maskulinum wäre, könnte man behaupten, dies wäre ein Ausdruck, der "eigentlich" Männer bezeichnet, der aber in diesem Fall 
Frauen "mitmeinen" soll. Das Wort "surgeon" ist jedoch ersichtlich – im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" – kein Maskulinum, sondern ein Utrum. Das heißt: Wenn klargestellt werden sollte, dass ein Mann oder eine Frau gemeint ist, müsste ausdrücklich "male surgeon" / "man surgeon" / "female surgeon" / "woman surgeon" (oder ähnlich) gesagt werden. Das Wort "surgeon" kann nichts dafür, 
dass es vielen schwerfällt, darauf zu kommen, dass in diesem Fall eine Chirurgin gemeint ist. Das liegt vielmehr am Vorstellungsvermögen, das wiederum von der historischen Wirklichkeit geprägt ist. Mit anderen Worten: Ja, man kann es durch Untersuchungen feststellen, dass auch viele, die Englisch als Muttersprache sprechen, sich leichter Männer operierend vorstellen können als Frauen, aber was diese Untersuchungen zeigen, ist genau das: die Verknüpfung von (wahrgenommenem) 
Geschlecht und Tätigkeit in der Vorstellung der Versuchspersonen. Was diese Untersuchungen dagegen nicht zeigen, ist, dass dabei das grammatische Genus des Wortes "surgeon" eine Rolle spielt; das können diese Untersuchungen auch nicht zeigen, weil wie gesagt "surgeon" kein Maskulinum ist. Wegen besagter Verknüpfung kann das Wort für die Tätigkeit zugleich die Vorstellung des Geschlechts aktivieren. Das gilt übrigens nicht nur beim nomen agentis, sondern auch 
beim nomen actionis: Stellen Sie sich mal bildlich "eine Operation" vor. Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge auf Anhieb ein Team von Operateurinnen unterstützt von (männlichen) Praxishelfern gesehen haben: Glückwunsch. Wenn Sie das können, dann können Sie auch darauf kommen, dass mit "surgeon" eine Frau, nämlich die Mutter, gemeint sein kann. Nichts an dem Wort "surgeon" selbst kann Sie daran hindern; denn es hat nichts inhärent Maskulines. 
(Übrigens stimme ich allen zu, die dieses "Rätsel" entsetzlich heteronormativ finden.) Wie auch immer: Das Wort "surgeon" ist nicht schuld; denn im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" ist es kein Maskulinum, und da es das nicht ist, kann es auch nicht als generisches Maskulinum gebraucht werden und kann somit auch nicht sinnvollerweise als Beispiel für die Geeignetheit oder Ungeeignetheit des generischen Maskulinum dienen. Die surgeon-Geschichte beweist gerade 
nicht, dass an der Sprache etwas nicht stimmt, sondern dass bestehende Verhältnisse Vorstellungen prägen. Wenn wir weiterhin unsere Babys nach rosa und blau sortieren, werden wir in der Hinsicht auch nicht so schnell vorankommen, selbst wenn wir engagiert an der Sprache herumdoktern.

Schönen Abend

Sean Nowak


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Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
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