Hallo.
Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit
gelesen habe, möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen
anderen hier Mitlesenden sehr ans Herz legen, wenn noch
nicht bekannt:
https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/
Leider: Auch Herzbruch, obwohl sie "in der Rolle der frühemeritierten Linguistin" auftritt (und es daher besser wissen sollte), zieht die englischsprachige Geschichte, in der von einem als "surgeon" bezeichneten Menschen die Rede ist, als Beleg für die Unzulänglichkeit des generischen Maskulinum heran. Ich will gar nicht darauf eingehen, ob ich an die Möglichkeit eines generischen Maskulinum (im modernen Stadium oder in irgendeinem früheren Stadium des Deutschen
oder in irgendeiner anderen Sprache) überhaupt glaube. Aber die Logik gebietet: Wenn ein Ausdruck (hier: "surgeon") ein Beispiel für generisches Maskulinum darstellen soll, dann muss es sich bei diesem Ausdruck zunächst einmal überhaupt um ein Maskulinum handeln. Mit anderen Worten: Nur wenn das Wort "surgeon" ein Maskulinum wäre, könnte man behaupten, dies wäre ein Ausdruck, der "eigentlich" Männer bezeichnet, der aber in diesem Fall
Frauen "mitmeinen" soll. Das Wort "surgeon" ist jedoch ersichtlich – im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" – kein Maskulinum, sondern ein Utrum. Das heißt: Wenn klargestellt werden sollte, dass ein Mann oder eine Frau gemeint ist, müsste ausdrücklich "male surgeon" / "man surgeon" / "female surgeon" / "woman surgeon" (oder ähnlich) gesagt werden. Das Wort "surgeon" kann nichts dafür,
dass es vielen schwerfällt, darauf zu kommen, dass in diesem Fall eine Chirurgin gemeint ist. Das liegt vielmehr am Vorstellungsvermögen, das wiederum von der historischen Wirklichkeit geprägt ist. Mit anderen Worten: Ja, man kann es durch Untersuchungen feststellen, dass auch viele, die Englisch als Muttersprache sprechen, sich leichter Männer operierend vorstellen können als Frauen, aber was diese Untersuchungen zeigen, ist genau das: die Verknüpfung von (wahrgenommenem)
Geschlecht und Tätigkeit in der Vorstellung der Versuchspersonen. Was diese Untersuchungen dagegen nicht zeigen, ist, dass dabei das grammatische Genus des Wortes "surgeon" eine Rolle spielt; das können diese Untersuchungen auch nicht zeigen, weil wie gesagt "surgeon" kein Maskulinum ist. Wegen besagter Verknüpfung kann das Wort für die Tätigkeit zugleich die Vorstellung des Geschlechts aktivieren. Das gilt übrigens nicht nur beim nomen agentis, sondern auch
beim nomen actionis: Stellen Sie sich mal bildlich "eine Operation" vor. Wenn Sie vor Ihrem geistigen Auge auf Anhieb ein Team von Operateurinnen unterstützt von (männlichen) Praxishelfern gesehen haben: Glückwunsch. Wenn Sie das können, dann können Sie auch darauf kommen, dass mit "surgeon" eine Frau, nämlich die Mutter, gemeint sein kann. Nichts an dem Wort "surgeon" selbst kann Sie daran hindern; denn es hat nichts inhärent Maskulines.
(Übrigens stimme ich allen zu, die dieses "Rätsel" entsetzlich heteronormativ finden.) Wie auch immer: Das Wort "surgeon" ist nicht schuld; denn im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg" ist es kein Maskulinum, und da es das nicht ist, kann es auch nicht als generisches Maskulinum gebraucht werden und kann somit auch nicht sinnvollerweise als Beispiel für die Geeignetheit oder Ungeeignetheit des generischen Maskulinum dienen. Die surgeon-Geschichte beweist gerade
nicht, dass an der Sprache etwas nicht stimmt, sondern dass bestehende Verhältnisse Vorstellungen prägen. Wenn wir weiterhin unsere Babys nach rosa und blau sortieren, werden wir in der Hinsicht auch nicht so schnell vorankommen, selbst wenn wir engagiert an der Sprache herumdoktern.
Schönen Abend
Sean Nowak