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Re: [InetBib] OT: Re: Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)
- Date: Mon, 5 Jul 2021 11:32:29 +0200
- From: Mathis Holzbach via InetBib <inetbib@xxxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] OT: Re: Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)
Guten Tag!
Warum muss im täglichen Gebrauch der Sprache ständig das Geschlecht evoziert
werden. Daher frage ich mich, ob es wichtig ist, immer zu reflektieren, dass
mein Gesprächspartner dieses oder jenes Geschlecht hat. Für mich ist das nichts
anderes als Transparenzwahn, der jede Distanz aufgibt. Wenn das generische
Femininum sich durchgesetzt hätte, würde ich es akzeptieren und mich nicht
benachteiligt fühlen. Schon gar nicht käme ich auf die Idee, mich nicht für
eine Tätigkeit als „Professorin“ zu interessieren. Schließlich haben sich
seinerzeit auch Frauen interessiert, den Beruf des „Kaufmanns“ zu ergreifen.
Und ich muss in diesem Punkt widersprechen, dass mit dem Gendern eine
Sprachentwicklung eingesetzt hat; denn diese Sprachänderungen werden
tatsächlich künstlich erzeugt. Wenn unterrichtet werden muss, wie gegendert
werden soll, ist dies schon sehr merkwürdig und spricht nicht dafür, dass eine
Sprachentwicklung vorliegt. Auch der empfohlene Bloggertext
(https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/),
<https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/),%22%20%5Cl%20%22-1> wohl einzig
als Handreichung gedacht, um bei Markus Lanz sich „trittsicher“ zu
präsentieren, operiert mit Gefühlsargumenten: Dass sich etwas „nicht zeitgemäß
anfühlt“ ist ja wohl sehr vage. Außerdem wird suggeriert, dass wissenschaftlich
in dieser Frage alles schon entschieden sei und Widersprüche erfolgreich in
Studien entkräftet seien. Das nenne ich naiv! Wenn auch gewisse Untersuchungen
zeigen, dass „mit der geschlechtsübergreifenden Standardform im Deutschen, dem
generischen Maskulinum, eher Männer als Frauen assoziiert werden“, sollte eines
nicht außer Acht kommen, wie Frau Dörte Stein in einem Essay in der taz
konstatiert: die „Bedeutung entsteht im Kontext, und zwar nicht nur im
Satzzusammenhang, sondern auch im außersprachlichen Kontext unserer Erfahrungen
und Denkmuster“. Ferner greift sie ein Argument auf, dass ich ebenso sehr
interessant finde: In der türkischen Sprache liegt der genderneutrale
Idealzustand vor, dort gibt es gar kein grammatisches Geschlecht: Sind Frauen
in der Türkei besser gestellt?
(https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/)
<https://taz.de/Gendern-als-Ausschlusskriterium/!5782080/)%22%20%5Cl%20%22-1>.
Ebenfalls hebt Frau Stein hervor, dass vor allem Sehbehinderte und Blinde
benachteiligt werden, wenn mit Gendersternchen der Lesefluss erschwert wird.
Und so teile ich ihren Standpunkt, dass die angeblich diskriminierungsfreie
Sprache „nicht nur antifeministisch und sexistisch“ ist, „sie ist auch
diskriminierend. Die Sprache absichtlich zu verkomplizieren bedeutet
zwangsläufig auch, die Hürde höher zu legen und Andere aus dem Diskurs
auszuschließen.“ Auch juristisch sehe ich wenig Spielraum. An dieser Stelle
darf ich an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erinnern. Das
Bundesgericht hatte in einem Grundsatzurteil (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer
des ersten Senats vom 26. Mai 2020 – 1 BvR 1074/18-. Rn.1-8) festgestellt, dass
allein durch das so genannte generische Maskulinum, mit Blick auf die
Gesetzestexte, jedes natürliche Geschlecht erfasst wird. Darin kann man schon
eine gewisse Richtung erkennen, dass das Gendern nicht so leicht sich
juristisch durchsetzen lässt. Aber: Wer gendern möchte, solle es tun, wer
nicht, darf und kann nicht gezwungen werden.
Bzgl. des Namens: Ich wurde ja darum gebeten, einen Namensvorschlag zu machen.
„Bibliothekswelt“, liebe Frau Wiesenmüller, hat diese Tagung ja auch nicht
geheißen, wurde aber vorgeschlagen. Wenn es aus Gründen „Bibliothekartag“ nicht
sein darf, habe ich „Bibliothekskongress“ vorgeschlagen. Das war ein Vorschlag,
mehr nicht.
Mir fällt bzgl. der bemühten Schaffung einer geschlechtergerechten Sprache
hierbei etwas ein, welches man in gewisser Hinsicht als eine historische
Parallele (Parallele - kein Vergleich (!)) ansehen kann: Infolge der
Französischen Revolution war man bemüht, alles Feudale, alles, was vermeintlich
an herrschaftliche Gesinnungen, Unterdrückung erinnert, abzutun. Man war quasi
im Sinne des Prinzips der Vernunft bemüht, aus diesen Gründen die Lebensordnung
neu zu erfinden. Man schuf neue Maßsysteme, einen neuen Kalender, eine neue
Zeitrechnung, die zu der Einführung des Dezimalsystems führten und somit zB zu
einer Zehntagewoche. Kurz, man wollte alles besser machen und gerechter. Die
jüngeren Generationen wurden darauf vorbereitet. Auch wenn Napoleon dies alles
per Dekret stoppte, dürften die Schwierigkeiten dieses Systems schon allein im
(wirtschaftlichen) internationalen Austausch offenbar gewesen sein.
Schönen Gruß
Mathis Holzbach
———————————————————
Dr. Mathis Holzbach, M.L.I.S.
P. Prof. Dr. Heribert Niederschlag SAC
Büro P. F. Reinisch
Pallottistr. 3
56179 Vallendar
Am 05.07.2021 um 08:45 schrieb Heidrun Wiesenmüller via InetBib
<inetbib@xxxxxxxxxx>:
Guten Morgen zusammen,
ich wollte ja nichts mehr zum Thema Gendering schreiben, muss aber nun leider
doch kurz auf die Mail von Herrn Nowak reagieren.
1. Natürlich spiegelt die Sprache die Gesellschaft. Ich glaube, in der ganzen
Diskussion hier hat das noch niemand bestritten. Auch Herzbruch spricht das
explizit an ("Gesellschaftliche Tradition, wir leben nun einmal in einer
Kultur, in der die Ärzte den allergrößten Teil der Geschichte Männer waren").
Wenn die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen vertauscht wären,
dann wären jetzt wahrscheinlich die weiblichen Formen die kürzeren und wir
würden über das generische Femininum diskutieren.
Umso mehr ist es doch wichtig, unbefriedigende gesellschaftliche Situationen
nicht auch noch sprachlich zu stützen und zu verfestigen. Nehmen wir noch mal
mein eigenes Beispiel: An der HdM beträgt der Anteil der Professorinnen
derzeit ca. 17 % (ob wir auch nicht-binäre Kolleg:innen haben, weiß ich
leider nicht - Entschuldigung an Nik Baumann). Wenn man nun immer von
"Professoren" spricht, wird dieser ohnehin viel zu kleine Anteil weiter
marginalisiert und unsichtbar gemacht - und gewiss werden junge
Wissenschaftlerinnen dadurch nicht gerade dazu ermutigt und animiert, sich
für eine Karriere als FH-Prof. zu interessieren.
2. Zu dem Autounfall-Beispiel: Ich selbst habe zunächst eine deutsche Fassung
verwendet mit einem eindeutigen generischen Maskulin. Und bei meinem Hinweis
auf das Englische habe ich auf die angenommene Geschlechtsneutralität der
Substantive explizit hingewiesen. Vielleicht hätten Herzbruch und/oder ich
selbst noch mehr zum Englischen schreiben sollen, aber das war ja eigentlich
nicht das Thema.
Um es aber kurz nachzuholen: Nur auf den ersten Blick betrachtet hat das
Englische kein Gender-Problem (und ich argwöhne, dass auch Sie das eigentlich
wissen). Denn zwar sind die Substantive nicht morphologisch nach Genus
markiert, aber man muss ja Pronomina verwenden. Von wenigen Ausnahmen
abgesehen, werden für die generische Bedeutung traditionell - Überraschung! -
maskuline Pronomina verwendet, z.B.: "A good teacher makes his lessons fun."
Insofern stützt auch die englische Sprache das Bild vom Mann als Normalfall.
Ich bin auch ziemlich sicher, dass Sie Formen wie "female doctor" oder "lady
doctor" in Korpora sehr viel häufiger antreffen werden als "male doctor" (ein
Pendant für "lady doctor" gibt es wohl gar nicht, was auch schon wieder für
sich spricht). Ich denke schon, dass dies zumindest einen Anteil daran hat,
welche Bilder die englische Variante der Autounfall-Geschichte in den meisten
Köpfen erzeugt.
Soweit ich mich erinnern kann, habe ich übrigens in der Schule nur das
generische "he" gelernt und erst an der Uni erfahren, dass es z.B. auch
"s/he" oder "his or her" gibt. In jüngerer Zeit wird immer stärker "singular
they" verwendet, d.h. die genderneutralen Pluralpronomina werden auch im
Singular benutzt. Das ist aus meiner Sicht die beste Lösung, weil es auch
nicht-binäre Personen mit einschließt.
Neben den Pronomina gibt es im Englischen weitere Problembereiche wie z.B.
"chairman" und "mankind"; Wikipedia bringt eine gute Übersicht:
https://en.wikipedia.org/wiki/Gender_neutrality_in_English.
Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller
Am 04.07.2021 um 19:44 schrieb nwk--- via InetBib:
Hallo.
Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit
gelesen habe, möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen
anderen hier Mitlesenden sehr ans Herz legen, wenn noch
nicht bekannt:
https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/
Leider: Auch Herzbruch, obwohl sie "in der Rolle der frühemeritierten
Linguistin" auftritt (und es daher besser wissen sollte), zieht die
englischsprachige Geschichte, in der von einem als "surgeon" bezeichneten
Menschen die Rede ist, als Beleg für die Unzulänglichkeit des generischen
Maskulinum heran. Ich will gar nicht darauf eingehen, ob ich an die
Möglichkeit eines generischen Maskulinum (im modernen Stadium oder in
irgendeinem früheren Stadium des Deutschen oder in irgendeiner anderen
Sprache) überhaupt glaube. Aber die Logik gebietet: Wenn ein Ausdruck (hier:
"surgeon") ein Beispiel für generisches Maskulinum darstellen soll, dann
muss es sich bei diesem Ausdruck zunächst einmal überhaupt um ein Maskulinum
handeln. Mit anderen Worten: Nur wenn das Wort "surgeon" ein Maskulinum
wäre, könnte man behaupten, dies wäre ein Ausdruck, der "eigentlich" Männer
bezeichnet, der aber in diesem Fall Frauen "mitmeinen" soll. Das Wort
"surgeon" ist jedoch ersichtlich – im Gegensatz zum deutschen Wort "Chirurg"
– kein Maskulinum, sondern ein Utrum. Das heißt: Wenn klargestellt werden
sollte, dass ein Mann oder eine Frau gemeint ist, müsste ausdrücklich "male
surgeon" / "man surgeon" / "female surgeon" / "woman surgeon" (oder ähnlich)
gesagt werden. Das Wort "surgeon" kann nichts dafür, dass es vielen
schwerfällt, darauf zu kommen, dass in diesem Fall eine Chirurgin gemeint
ist. Das liegt vielmehr am Vorstellungsvermögen, das wiederum von der
historischen Wirklichkeit geprägt ist. Mit anderen Worten: Ja, man kann es
durch Untersuchungen feststellen, dass auch viele, die Englisch als
Muttersprache sprechen, sich leichter Männer operierend vorstellen können
als Frauen, aber was diese Untersuchungen zeigen, ist genau das: die
Verknüpfung von (wahrgenommenem) Geschlecht und Tätigkeit in der Vorstellung
der Versuchspersonen. Was diese Untersuchungen dagegen nicht zeigen, ist,
dass dabei das grammatische Genus des Wortes "surgeon" eine Rolle spielt;
das können diese Untersuchungen auch nicht zeigen, weil wie gesagt "surgeon"
kein Maskulinum ist. Wegen besagter Verknüpfung kann das Wort für die
Tätigkeit zugleich die Vorstellung des Geschlechts aktivieren. Das gilt
übrigens nicht nur beim nomen agentis, sondern auch beim nomen actionis:
Stellen Sie sich mal bildlich "eine Operation" vor. Wenn Sie vor Ihrem
geistigen Auge auf Anhieb ein Team von Operateurinnen unterstützt von
(männlichen) Praxishelfern gesehen haben: Glückwunsch. Wenn Sie das können,
dann können Sie auch darauf kommen, dass mit "surgeon" eine Frau, nämlich
die Mutter, gemeint sein kann. Nichts an dem Wort "surgeon" selbst kann Sie
daran hindern; denn es hat nichts inhärent Maskulines. (Übrigens stimme ich
allen zu, die dieses "Rätsel" entsetzlich heteronormativ finden.) Wie auch
immer: Das Wort "surgeon" ist nicht schuld; denn im Gegensatz zum deutschen
Wort "Chirurg" ist es kein Maskulinum, und da es das nicht ist, kann es auch
nicht als generisches Maskulinum gebraucht werden und kann somit auch nicht
sinnvollerweise als Beispiel für die Geeignetheit oder Ungeeignetheit des
generischen Maskulinum dienen. Die surgeon-Geschichte beweist gerade nicht,
dass an der Sprache etwas nicht stimmt, sondern dass bestehende Verhältnisse
Vorstellungen prägen. Wenn wir weiterhin unsere Babys nach rosa und blau
sortieren, werden wir in der Hinsicht auch nicht so schnell vorankommen,
selbst wenn wir engagiert an der Sprache herumdoktern.
Schönen Abend
Sean Nowak
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