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Re: [InetBib] Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)



Nachtrag:
Ich bin ja dafür, dass man es bei Bibliothekarstag belassen sollte. Aber, ich würde 
mich ansonsten für Bibliothekskongress aussprechen.

Aber so hat es doch noch nie geheißen, Herr Holzbach!
Und bitte lesen Sie mal meine Listen-Mail vom 2. Juli.

Da sich Herr Holzbach eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen Punkten wünscht, möchte ich auf zwei Aspekte eingehen. Er hat geschrieben:

Jeder der Latein gelernt hat, hat zugleich ein vertieftes sprachliches Verständnis der 
deutschen Sprache. Deswegen halte ich weiterhin daran fest, dass das Latinum meiner Meinung nach  
eine unverzichtbare Voraussetzung bleiben muss, um überhaupt an der Universität studieren 
zu können.

Darin spiegelt sich eine Annahme, die in der Sprachwissenschaft seit vielen Jahrzehnten überwunden ist - nämlich dass man die modernen Sprachen nach dem Vorbild des Lateinischen verstehen und beschreiben sollte. Für diese traditionelle Grammatik bzw. Sprachwissenschaft zitiere ich der Einfachheit halber eine Definition aus einem Handbuch, das ich während meines Anglistikstudiums in den 1990er Jahren verwendet habe (Herbst/Stoll/Westermayr: Terminologie der Sprachbeschreibung, Ismaning 1991, S. 266): "Sprachbeschreibung, wie sie seit der Antike zunächst für das Griechische und Lateinische entwickelt, später auch auf die europäischen Sprachen angewandt wurde." Als "typische Kennzeichen" werden u.a. genannt "eine oft präskriptive und puristische Haltung" und "eine Orientierung am Vorbild des Lateinischen".

Das war in den Schulgrammatiken des 18. und 19. Jahrhunderts gängig und hat noch ins 20. Jahrhundert hineingewirkt. Aber es ist seit langem wissenschaftlicher Konsens, dass jede Sprache aus sich selbst heraus zu verstehen ist und nicht Strukturen einer anderen Sprache sozusagen "übergestülpt" bekommen kann und dass wissenschaftliche Sprachbeschreibung nicht präskriptiv, sondern deskriptiv erfolgt. Wenn sprachliche Veränderungen stattfinden (und das passiert immer und überall) und eine genügend große Zahl von Sprecher:innen diese anwendet, dann sind das auch keine "Fehler" mehr. Auch die Dudenredaktion arbeitet natürlich mit einem großen Korpus, beobachtet also die real stattfindende Sprache. Geschlechtersensibler Sprachgebrauch ist an vielen Stellen schon lange üblich. Aus linguistischer Sicht ist es einzig bemerkenswert, wie groß die Dynamik ist und wieviele unterschiedliche Methoden dafür schon gefunden wurden. Welche sich längerfristig durchsetzen werden, entscheiden am Ende die Sprecher:innen, und deren Motive (vgl. M. Holzbach: "Veränderungen in der Grammatik [sollen] gesellschaftliche Veränderungen bewirken") sind dabei herzlich egal.

Ich selbst bin ein großer Fan des Lateinischen und habe Mittellatein als Drittfach studiert. Ich freue mich über alle, die noch Latein in der Schule lernen, und sehe dabei manche Vorteile, inbesondere bei der Ableitung von Fremdwörtern und dem Verständnis für romanische Sprachen. Dass sich daraus per se ein "vertieftes sprachliches Verständnis der deutschen Sprache" ergeben würde, kann ich jedoch nicht erkennen. Und man kann auch sehr gute Gründe dafür nennen, als zweite Fremdsprache z.B. Französisch oder Spanisch zu lernen. An der Uni braucht man Latein definitiv nur in bestimmten Fächern (ja, für die Mittelalterliche Geschichte habe ich es benötigt). Herr Holzbach erweist dem Lateinlernen m.E. einen Bärendienst, wenn er dies zum Kennzeichen einer studierfähigen Elite machen will (und anders kann man seine Ausführungen eigentlich nicht verstehen, trotz des teilweisen "Zurückruderns" als Antwort auf die Mail von Frau Escher-Schenkschuck).

Herr Holzbach hat außerdem geschrieben:

Es bleibt für mich vor allem die Frage offen, was das grammatische mit dem biologischen Geschlecht zu tun hat.

Das ist eine bemerkenswert naive Sichtweise. Natürlich ist das grammatische Genus unproblematisch bei Gegenständen, aber bei Personen verwendet die deutsche Sprache eben sehr wohl eine morphologische Kennzeichnung des natürlichen Geschlechts und entsprechende Pronomina. Generisches Maskulinum im Plural ist mindestens missverständlich, weil man nicht weiß, ob es sich nur auf Männer bezieht oder auch auf andere Menschen. Das ist ein "logisches" Argument. Aber es geht hier auch darum, wie Menschen Sprache interpretieren und wahrnehmen. Und immer mehr Nicht-Männer (ich sage bewusst nicht "Frauen") empfinden solche Formen eben als verletzend. Aus eigener Erfahrung als Frau kann ich Ihnen sagen, dass ich es schlichtweg satt hatte, wenn in offiziellen Äußerungen meiner Hochschule von den "Professoren" die Rede war und ich mich dabei halt "mitgemeint" fühlen sollte. Zum Glück hat sich die offizielle Sprachpraxis bei uns mittlerweile verändert.

Generisches Maskulinum im Singular ist vielfach völlig irritierend, wie die bekannte Geschichte zeigt (ich zitiere nach https://gedim.uni-koeln.de/sites/genderqm/user_upload/Leitfaden_geschlechtersensible_Sprache_5.Auflage_2017.pdf, S. 3):

Ein Vater fährt mit seinem Sohn im Auto. Sie verunglücken. Der Vater stirbt an der Unfallstelle. Der Sohn wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und muss operiert werden. Ein Chirurg eilt in den OP, tritt an den Operationstisch heran, auf dem der Junge liegt, wird kreidebleich und sagt: "Ich bin nicht im Stande zu operieren. Dies ist mein Sohn."

Im Original ist die Story übrigens englisch (vgl. https://www.bu.edu/articles/2014/bu-research-riddle-reveals-the-depth-of-gender-bias/) und da funktioniert es auch - obwohl es doch immer heißt, dass englische Wörter wie "teacher" oder "surgeon" geschlechtsneutral seien. Dennoch kam nur ein kleiner Teil der Getesteten darauf, dass der Sohn im Krankenhaus auf seine *Mutter* trifft.

Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit gelesen habe, möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen anderen hier Mitlesenden sehr ans Herz legen, wenn noch nicht bekannt:
https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/

Ein letztes noch: Es wird manchmal gesagt, dass mit dem Gendern der Aspekt des Geschlechts unverhältnismäßig betont wird; auch Herr Holzbach hat etwas in dieser Richtung geschrieben. Das ist richtig, aber es liegt in der Natur des Deutschen, das eben diese Dimension morphologisch kennzeichnet und andere Dinge wie z.B. die Größe oder Haarfarbe von Menschen nicht.

In eigener Sache: Ich habe jetzt alles gesagt, was ich zum Thema Gendern sagen wollte, und werde mich an einer weiteren Diskussion dazu hier auf der Liste nicht mehr beteiligen. (Wer mag, kann sich noch ein Drosten-Zitat dazu denken.)

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller


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Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
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