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Re: [InetBib] Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)
- Date: Sun, 4 Jul 2021 14:53:43 +0200
- From: Heidrun Wiesenmüller via InetBib <inetbib@xxxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] Andere Meinungen un der richtige Ton (war: Bibliothekar*tag + Gender Diskussion)
Nachtrag:
Ich bin ja dafür, dass man es bei Bibliothekarstag belassen sollte. Aber, ich würde
mich ansonsten für Bibliothekskongress aussprechen.
Aber so hat es doch noch nie geheißen, Herr Holzbach!
Und bitte lesen Sie mal meine Listen-Mail vom 2. Juli.
Da sich Herr Holzbach eine inhaltliche Auseinandersetzung mit seinen
Punkten wünscht, möchte ich auf zwei Aspekte eingehen. Er hat geschrieben:
Jeder der Latein gelernt hat, hat zugleich ein vertieftes sprachliches Verständnis der
deutschen Sprache. Deswegen halte ich weiterhin daran fest, dass das Latinum meiner Meinung nach
eine unverzichtbare Voraussetzung bleiben muss, um überhaupt an der Universität studieren
zu können.
Darin spiegelt sich eine Annahme, die in der Sprachwissenschaft seit
vielen Jahrzehnten überwunden ist - nämlich dass man die modernen
Sprachen nach dem Vorbild des Lateinischen verstehen und beschreiben
sollte. Für diese traditionelle Grammatik bzw. Sprachwissenschaft
zitiere ich der Einfachheit halber eine Definition aus einem Handbuch,
das ich während meines Anglistikstudiums in den 1990er Jahren verwendet
habe (Herbst/Stoll/Westermayr: Terminologie der Sprachbeschreibung,
Ismaning 1991, S. 266): "Sprachbeschreibung, wie sie seit der Antike
zunächst für das Griechische und Lateinische entwickelt, später auch auf
die europäischen Sprachen angewandt wurde." Als "typische Kennzeichen"
werden u.a. genannt "eine oft präskriptive und puristische Haltung" und
"eine Orientierung am Vorbild des Lateinischen".
Das war in den Schulgrammatiken des 18. und 19. Jahrhunderts gängig und
hat noch ins 20. Jahrhundert hineingewirkt. Aber es ist seit langem
wissenschaftlicher Konsens, dass jede Sprache aus sich selbst heraus zu
verstehen ist und nicht Strukturen einer anderen Sprache sozusagen
"übergestülpt" bekommen kann und dass wissenschaftliche
Sprachbeschreibung nicht präskriptiv, sondern deskriptiv erfolgt. Wenn
sprachliche Veränderungen stattfinden (und das passiert immer und
überall) und eine genügend große Zahl von Sprecher:innen diese anwendet,
dann sind das auch keine "Fehler" mehr. Auch die Dudenredaktion arbeitet
natürlich mit einem großen Korpus, beobachtet also die real
stattfindende Sprache. Geschlechtersensibler Sprachgebrauch ist an
vielen Stellen schon lange üblich. Aus linguistischer Sicht ist es
einzig bemerkenswert, wie groß die Dynamik ist und wieviele
unterschiedliche Methoden dafür schon gefunden wurden. Welche sich
längerfristig durchsetzen werden, entscheiden am Ende die
Sprecher:innen, und deren Motive (vgl. M. Holzbach: "Veränderungen in
der Grammatik [sollen] gesellschaftliche Veränderungen bewirken") sind
dabei herzlich egal.
Ich selbst bin ein großer Fan des Lateinischen und habe Mittellatein als
Drittfach studiert. Ich freue mich über alle, die noch Latein in der
Schule lernen, und sehe dabei manche Vorteile, inbesondere bei der
Ableitung von Fremdwörtern und dem Verständnis für romanische Sprachen.
Dass sich daraus per se ein "vertieftes sprachliches Verständnis der
deutschen Sprache" ergeben würde, kann ich jedoch nicht erkennen. Und
man kann auch sehr gute Gründe dafür nennen, als zweite Fremdsprache
z.B. Französisch oder Spanisch zu lernen. An der Uni braucht man Latein
definitiv nur in bestimmten Fächern (ja, für die Mittelalterliche
Geschichte habe ich es benötigt). Herr Holzbach erweist dem Lateinlernen
m.E. einen Bärendienst, wenn er dies zum Kennzeichen einer
studierfähigen Elite machen will (und anders kann man seine Ausführungen
eigentlich nicht verstehen, trotz des teilweisen "Zurückruderns" als
Antwort auf die Mail von Frau Escher-Schenkschuck).
Herr Holzbach hat außerdem geschrieben:
Es bleibt für mich vor allem die Frage offen, was das grammatische mit
dem biologischen Geschlecht zu tun hat.
Das ist eine bemerkenswert naive Sichtweise. Natürlich ist das
grammatische Genus unproblematisch bei Gegenständen, aber bei Personen
verwendet die deutsche Sprache eben sehr wohl eine morphologische
Kennzeichnung des natürlichen Geschlechts und entsprechende Pronomina.
Generisches Maskulinum im Plural ist mindestens missverständlich, weil
man nicht weiß, ob es sich nur auf Männer bezieht oder auch auf andere
Menschen. Das ist ein "logisches" Argument. Aber es geht hier auch
darum, wie Menschen Sprache interpretieren und wahrnehmen. Und immer
mehr Nicht-Männer (ich sage bewusst nicht "Frauen") empfinden solche
Formen eben als verletzend. Aus eigener Erfahrung als Frau kann ich
Ihnen sagen, dass ich es schlichtweg satt hatte, wenn in offiziellen
Äußerungen meiner Hochschule von den "Professoren" die Rede war und ich
mich dabei halt "mitgemeint" fühlen sollte. Zum Glück hat sich die
offizielle Sprachpraxis bei uns mittlerweile verändert.
Generisches Maskulinum im Singular ist vielfach völlig irritierend, wie
die bekannte Geschichte zeigt (ich zitiere nach
https://gedim.uni-koeln.de/sites/genderqm/user_upload/Leitfaden_geschlechtersensible_Sprache_5.Auflage_2017.pdf,
S. 3):
Ein Vater fährt mit seinem Sohn im Auto. Sie verunglücken. Der Vater
stirbt an der Unfallstelle. Der Sohn wird schwer verletzt ins
Krankenhaus eingeliefert und muss operiert werden. Ein Chirurg eilt in
den OP, tritt an den Operationstisch heran, auf dem der Junge liegt,
wird kreidebleich und sagt: "Ich bin nicht im Stande zu operieren.
Dies ist mein Sohn."
Im Original ist die Story übrigens englisch (vgl.
https://www.bu.edu/articles/2014/bu-research-riddle-reveals-the-depth-of-gender-bias/)
und da funktioniert es auch - obwohl es doch immer heißt, dass englische
Wörter wie "teacher" oder "surgeon" geschlechtsneutral seien. Dennoch
kam nur ein kleiner Teil der Getesteten darauf, dass der Sohn im
Krankenhaus auf seine *Mutter* trifft.
Den besten Text zum Thema Gendern, den ich in letzter Zeit gelesen habe,
möchte ich Herrn Holzbach, aber auch allen anderen hier Mitlesenden sehr
ans Herz legen, wenn noch nicht bekannt:
https://herzbruch.blogger.de/stories/2811061/
Ein letztes noch: Es wird manchmal gesagt, dass mit dem Gendern der
Aspekt des Geschlechts unverhältnismäßig betont wird; auch Herr Holzbach
hat etwas in dieser Richtung geschrieben. Das ist richtig, aber es liegt
in der Natur des Deutschen, das eben diese Dimension morphologisch
kennzeichnet und andere Dinge wie z.B. die Größe oder Haarfarbe von
Menschen nicht.
In eigener Sache: Ich habe jetzt alles gesagt, was ich zum Thema Gendern
sagen wollte, und werde mich an einer weiteren Diskussion dazu hier auf
der Liste nicht mehr beteiligen. (Wer mag, kann sich noch ein
Drosten-Zitat dazu denken.)
Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller
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Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
Hochschule der Medien
Studiengang Informationswissenschaften
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Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.