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Re: [InetBib] Urheberrechtsreform - Planungen



Lieber Herr Ulmer,

das eigentliche Problem scheint mir die Definition der diligent search bei
den verwaisten Werken, die sich mit den Möglichkeiten des Internets
ständig ändert. Je mehr wir digitalisieren um so leichter wird es
voraussichtlich in einer diligent search die verwaisten Werke und ihr
Umfeld ausfindig zu machen. So wie es immer leichter wird, herauszufinden
wer von wem Texte übernommen hat. Schon der Science Citations Index war ja
der Beginn einer Genealogie geistigen Fortschritts. Insofern war es kein
unsinniger Ansatz, zunächst möglichst rasch möglichst viel zu
digitalisieren und dann die Rechte über die Book Rights Registry zu
klären, sobald das Fair Use überschritten wird. Die Digitalisierung auch
und gerade bei den Dissertationen wäre sinnvoll, die im Laufe der Zeit
unlesbar werden und für die auch eine Interessenvertretung notwendig wäre.
Das man in Deutschland aus diesen einen sehr interessanten Zitationsindex
gewinnen könnte, sei nur wieder mal am Rande erwähnt. Wenn ich es richtig
sehe, haben bei den Dissertationen die Universitätsbibliotheken über das
Tauschsystem die Funktion der Verlage übernommen, weil es sich bei dieser
Spezialliteratur damals meist nicht lohnte, dass Verlagsrelevante Auflagen
entstanden. Statt dessen scheint man in Deutschland den Versuch zu machen,
Rechte an Gegebenheiten zu klären, die man noch in keiner Weise
durchschaut. Es wäre interessant zu sehen, wie viel „Plagiate“ es schon
damals, nicht nur in Dissertationen gab. Der Wahrheitsfindung kann es nur
nützlich sein ;-).

Ob Lobbyarbeit schlecht ist, ist eine Frage der Definition. Wenn
Lobbyisten berechtigte Interessen vertreten und verdeutlichen, ist das
höchst positiv. Aber wenn sie, wie immer wieder beobachtbar, rücksichtslos
egoistische Interessen durchsetzen, auch wider besseren Wissens, man sehe
nur wie viel Experten sich Dümmer stellen als sie sind (z.B.
Finanzberater, Politiker etc.), nur um eigene Vorteile zu erzielen, dann
ist das durchaus anzuprangern, insbesondere dann, wenn schon so manche
Partei damit ihre Wahl gewonnen hat. Und es ist auch Thema unserer
Politiker: `„Im vertraulichen Bericht des Bundesrechnungshofes heißt es
dazu: "Das Risiko von Interessenkonflikten" bestehe insbesondere beim
Einsatz von Mitarbeitern "von Privatunternehmen und Verbänden, die
naturgemäß eigene, häufig gewinnorientierte Interessen verfolgen".’
http://www.allmystery.de/themen/pr43599 . Diese rücksichtslose Form des
Lobbyismus wird zunehmend als professionell bezeichnet, und sogar die Big
Science steht im Verdacht davon auch unterwandert zu sein, wie man beim
„Global Warming“ befürchtet.

Insofern bin ich auch der Meinung, dass auch Bibliotheken weniger
Lobbyismus als wissenschaftliche Belege für ihre Notwendigkeit,
Leistungsfähigkeit und ihre Bedeutung als Bildungs- und Machtfaktor in der
Gesellschaft brauchen. Im Gegensatz zum Lobbyismus den oft Einzelpersonen
bestreiten können, braucht man dazu aber eine kritische Masse an
fachlichen Mitstreitern, die in Deutschland nicht so leicht erreichbar ist
– wie auch die Diskussionen hier wiederholt zeigen ;-). Besonders
raffiniert ist der Lobbyismus dort, wo scheinbare Massen mobilisiert
werden, die gar nicht merken, wer sie manipuliert.

Mit freundlichen Grüßen

W. Umstätter


Lieber Herr Graf,

Sie sollten davon ausgehen, dass ich hier schreibe, um etwas zu lernen.
Deshalb freue ich mich auch über Ihre Antworten, weil Sie Dinge klären.

Vielen Dank also für die Präzisierung des Begriffes verwaist. Es geht um
die Frage, wie Diligent Search definiert wird. Und Ziel ist es, Diligent
Search so zu definieren, dass die Suche vereinfacht wird. Damit machen wir
aber doch Werke zu Waisen, die es bislang nicht waren und deren
Rechteinhaber nach bisherigen Maßstäben auffindbar gewesen wären, diese
Maßstäbe aber heute als unzumutbar eingeschätzt werden. Insoweit liegen
wir dann doch nicht auseinander.

Ihr Beispiel verdeutlicht das Problem sehr gut. Und nach meiner
Einschätzung wäre das nach den geplanten Änderungen auch gelöst, genau so
wie die von Ihnen genannten Abschlussarbeiten in den Archiven der
Hochschulen. Denn diese wären in den Verzeichnissen, deren Konsultation
zur Erfüllung einer neuen Diligent Search geplant sind, nicht verzeichnet.
Eine weitere Nachforschung wäre dann nicht mehr möglich. Und diese
Recherche soll automatisiert erfolgen können, was Zeit- und Kostenaufwand
minimieren würde.

Die Zahlung einer Lizenzgebühr für eventuell auftauchende Erben und die
Frage, was mit den Beträgen erfolgt, ändert sich damit nach meiner
Einschätzung nicht.

Zum Thema Lobbyismus: natürlich bin ich in meiner Funktion Lobbyist. Ich
wundere mich über die Abfälligkeit, mit der Lobbyarbeit hier gerne
angeprangert wird. Dabei kam doch vor zwei Tagen erst der Link zu einer
sehr guten Auflistung der Lobbyisten der Bibliotheksseite, ein
verdienstvolles Engagement zahlreicher Bibliothekare in nationalen und
Internationalen Gremien und Organisationen. Und auch das Aktionsbündnis
ist wirkungsvolle Lobbyarbeit. Soll denn das alles auch schlecht sein?
Oder beziehen Sie sich nur auf Lobbyisten, die anderer Meinung sind?

Als Verleger ist es meine Aufgabe, mich auch um den Profit zu kümmern.
Aber das ist eine Aufgabe neben vielen anderen. Gerade beim Thema Orphans
habe ich kein Eisen im Feuer, aus verwaisten Werken kann ich nun wirklich
keinen Profit ziehen.

Herzliche Grüße
Matthias Ulmer



Am 12.08.2011 um 18:14 schrieb "Klaus Graf"
<klaus.graf@xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx>:

On Fri, 12 Aug 2011 17:23:59 +0200
Matthias Ulmer <mulmer@xxxxxxxx> wrote:
Lieber Herr Lackhoff,

wenn ein Werk verwaist ist, dann gibt es keinen Verlag
als Rechteinhaber mehr. Das ist richtig. Das Problem
entsteht aber nicht bei den tatsächlich verwaisten
Werken, sondern dabei, dass es von Seiten der
Bibliotheken oder Nutzer großes Interesse gibt, den
Begriff verwaist maximal auszulegen. Und dabei  werden
dann Titel als verwaist erklärt, die nicht verwaist sind.
Es geht also um die Schein-Waisen. Und es ist relativ
sicher, dass die Zahl der Schein-Waisen erheblich größer
sein wird, als die Zahl der echten Waisen. Bei den
Schein-Waisen gibt es Rechteinhaber, sowohl einen Autor
als  auch meist einen Verlag.

Es ist natuerlich schwierig, zu einem Konsens zu kommen,
wenn Sie mit falschen Karten spielen, was Sie nicht zum
ersten Mal tun. Ihr ganzes verbindliches Getue kann nicht
darueber hinwegtaeuschen, dass Sie ein knallharter Lobbyist
sind, der vor allem an den Profit der Verlage denkt.

Bei allen verwaisten Werken gibt es per definitionem einen
Rechteinhaber sonst waeren sie gemeinfrei. Verwaiste Werke
(Orphans) sind Werke, bei denen mit zumutbarem Aufwand kein
Rechteinhaber ermittelt werden kann. Der zumutbare Aufwand
entspricht der "diligent search".

Jeder Erbenermittler kennt das Problem, Rechtsnachfolger zu
finden. Der Unterschied: Bei Kleckerbetraegen rechnet sich
der Aufwand nicht. Datenschutzrechtliche Vorschriften und
archivische Kassationen koennen dazu fuehren, dass
bestimmte genealogische Filiationen auch bei
sorgfaeltigster Suche nicht nachvollzoegen werden koennen.
Wenn eine maschinenschriftliche Dissertation, wie sie
zehntausendfach in Universitaetsbibliotheken auf schlechtem
Durchschlagpapier herumsteht, digitalisiert werden soll,
gibt es keine kommerzielle Ausbeute - wenn eine "diligent
search" bedeutet, dass man hunderte oder tausende Euro fuer
ein solches Einzelwerk aufwenden muss, dann liegt hier
genau das gleiche Problem vor wie bei den
Schutzfristverlaengerungen im Urheberrecht. Zugute kommt
eine harte Haltung bei verwaisten Werken nur den grossen
Verwertern als Rechteinhabern (daher auch "The Mickey Mouse
Protection Act" in den USA).

Die Absurditaet des geltenden Urheberrechts moechte ich an
meinem Beispiel verdeutlichen. Es geht um
unveroeffentlichte Werke (Fotos, Ausarbeitungen usw.), wie
sie in Archiven, aber auch Bibliotheken massenhaft
vorhanden sind. Fuer diese Werke gibt es keinen Verwerter
wie einen Verlag, den man fragen koennte. Also muss man den
Urheber oder seine Erben aufspueren. Ich selbst habe ein
Testament gemacht, aber wenn ich das nicht haette und mir
heute Abend ein Ziegelstein auf den Kopf fiele, saehe es
hinsichtlich aller Medien, die ich nicht ueber eine freie
Lizenz freigegeben habe, extrem schlecht aus, also fuer
unveroeffentlichte Fotos, Vortraege usw. Niemand koennte
sie nach derzeit geltender Rechtslage nutzen.

Ich bin nicht das einzige Einzelkind, das keine Kinder hat.
Gesetzliche Erben waeren die Nachkommen meiner Grosseltern.
Waehrend diese Nachkommen muetterlicherseits ueberschaubar
sind (5), sieht es bei den Nachkommen meines Grosseltern
vaeterlicherseits anders aus. Mein Vater (Jg. 1916) war das
juengste (10.) Kind einer kinderreichen Muellersfamilie bei
Wemding, also mit 10-20 Erben muss man da mindestens
rechnen. Sagen wir mal, es sind insgesamt "nur" 15 Erben,
dann muessen fuer eine legale Nutzung ALLE zustimmen
(waehrend jeder einzelne mit Unterlassungsklage/Abmahnung
gegen eine unerlaubte Nutzung vorgehen koennte), und wenn
irgendjemand von diesen 15 nicht greifbar waere - eine in
Suedamerika verschollenene, aber nicht fuer tot erklaere
Ordensschwester etwa - duerfte nicht genutzt werden. Kein
Verlag, der einen unveroeffentlichten Vortrag von mir
abdrucken moechte, kaeme auf die Idee, allen 15 Leuten fuer
hunderte Euros nachspueren zu lassen. Er wuerde einfach
nutzen und sich mit dem - selbstverstaendlich illegalen -
beliebten Verlagsspruechlein "Wir haben uns sorgfältig
bemüht, alle Rechteinhaber zu ermitteln. Nachverguetung
wird zugesichert." aus der Affaere zu ziehen. Wobei ich das
nur von literarischen Anthologien kenne, bei
Wissenschaftlern gibts ja gar keine Verguetung, da kassiert
nur der Verlag, waehrend der Autor in die Roehre schaut.

Im Fall der Massendigitalisierung hilft wirklich nur
Opt-out ggf. verbunden mit einer
Internet-Publikationspflicht der Liste der fuer die Nutzung
vorgesehenen Werke. De facto arbeiten ja die Verlage,
abgesichert durch die VG Wort, z.B. bei DigiZeitschriften
oder anderen Zeitschriftendigitalisierungsunternehmen ja
bereits mit Opt-out, da sie aufgrund von § 38 UrhG klar und
eindeutig das Recht brechen. Sie haben fuer die
Digitalisierung z.B. geisteswissenschaftlicher
Zeitschriftenartikel nicht die erforderlichen Rechte.

Klaus Graf


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