Lieber Herr Steinhauer,
nach meiner Lesart weist die RB dem Sonntag eine besondere Stellung zu. Die
besondere Stellung des Sonntags ist ja gerade deswegen in dem Kapitel : De
opera manuum cottidiana , also über die tägliche Handarbeit, eingebunden, um
den arbeitsfreien heiligen Tag herauszustellen und neben den
Gottesdienstpflichten auch die Bedeutung der lectio divina hervorzuheben. In
der ganzen RB wie auch hier werden auch solche Fälle berücksichtigt, wenn
Mönche sich den Geboten widersetzen oder - was früher sehr oft vorkam- gar
nicht lesen können. Damals wie heute werden solche Mönche nach RB 23
zurechtgewiesen und früher sogar körperlich gezüchtigt ( "Sin autem improbus
est, vindictae corporali subdatur".) Das diese jetzt nach Kap. 48 mit anderen
Arbeiten beschäftigt werden, sehe ich nicht zwingend als einen Beleg für
Bibliotheksarbeit. Jedenfalls verstehen die Glaubensbrüder darunter das Gebot
des arbeitsfreien Sonntags.
Wenn Sie mal das Neue Testament noch in dieser Argumentation hinzunehmen,
werden Sie sehen, dass das Christentum sich um eine sinnvolle soziale Nutzung
des heiligen Tages bemüht hat, entgegen der übertriebenen Sabbatregel seitens
der Juden. Dieser Bedeutung eingedenk ist die rechtliche Stellung des
Sonntags erst durch die römische Gesetzgebung unter Konstantin zustande
gekommen und diese Prägung lebt bis heute im Kultur- und Staatsverständnis
in vielen europäischen Staaten weite und hat sich gesellschaftlich bewährt.
Es zeigt sich also, dass diese Streitfrage nicht wirklich neu ist. Und hat
nicht einst die Sowjetunion zwecks Steuerung der Wirtschaft die christlichen
Tage und besonders damit den Sonntag abschaffen wollen, was letztendlich
nicht gelang, vor allem aus aus familiären Gründen ? Deswegen bin ich
skeptisch, ob einer allgemeine Öffnung des Sonntags und somit die Aufhebung
der Sieben-Tage-Woche diesmal gelingen kann.
Ihre Argumentation (wieso eigentlich bezahltes (?) Vorlesen) überzeugt mich
nicht so ganz. Sie müssen bedenken, dass das Herstellen von Schriften und
Büchern als Teil der Lectio divina angesehen werden kann. Außerdem waren die
Zeiten anders und die Buchherstellung ein langwieriger Prozess. Und ist
Bibliotheksarbeit nicht auch körperliche Arbeit?