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Re: [InetBib] Wikipedia-Bashing der angeblichen Info-Experten



Lieber Herr Hessling,

Auskunftsarbeit ist immer konkret und an den Bedarf des Fragenden angepasst:

In diesem Fall ging es um einen kleinen Vortrag in der Schulklasse, also um eine knappe, leicht verständlich Vorlage für ein Kind. Der von den zitierten Dozenten empfohlene Brockhaus war objektiv unbrauchbar (zu wenig Information). Außerdem war der Band zu schwer, das Regal zu hoch, das Kind hätte den dicken Band in die Kopierstelle schleppen und einige Cent von seinem Taschengeld opfern müssen.

Sicherlich gibt es in unserer Bibliothek auch Literatur zum Chihuahua (und sogar eine eigenen Systematikgruppe für diese Rasse: La 574 Chi):

- Chihuahuas : praktische Ratschläge für Haltung, Pflege und Erziehung / Karin Biala-Gauss. - 1. Aufl. Ja 1996 - ¬Der¬ Chihuahua : praktische Ratschläge für Haltung, Pflege und Erziehung / Hugo Gehring. - 2., überarb. Aufl., 6. - 9. Tsd.

Aber die 2 Titel stehen in einem anderen Gebäude. Hinzu kommt: Die Such- und Bestelloberfläche unseres Katalogs https://www.voebb.de ist so kompliziert, dass schon versierte Nutzer überfordert sind. Das Ganze hätte also Stunden und vielleicht sogar Tage gedauert.

So haben wir zusammen erst einmal die richtige Schreibweise ermittelt, was im Bibliothekskatalog nicht möglich gewesen wäre, und damit auch schon die entscheidenen Informationen gefunden. Das Ganze hat 5 Minuten gedauert. Zuhause hätte das Kind dann weitersurfen können (70% aller Haushalte haben m.W. Internetzugang). Der Wikipediaartikel bietet Links zu den Azteken etc. Das alles gibt es beim Buch nicht.

Bleibt Ihre Frage: Wozu braucht man dann die Bibliothek? Beginnen wir mit dem Schluss: Wichtig sind die intrinsischen Werte. Das Kind hat sich getraut, selbstständig eine fremde Person um Hilfe zu bitten (der Vater war inzwischen anderweitig beschäftigt) und es hat erlebt, wie ihm jemand geholfen hat. Der Junge hat in der Jugendbibliothek auch noch die Hundeliteratur geprüft. Es hat sich in einer großen Einrichtung mit vielen fremden Leuten selbstständig behauptet. Er hat die Bibliothek als etwas Positives erlebt und das Ganze hat ihm vermutlich so sehr gefallen, dass er immer gern wiederkommen wird. Bibliothek ist also etwas sehr Vielseitiges, Mehrdimensionales. Erwachsenen Lesern dürfte es nicht anders gehen, wenn es Bibliotheken gelingt, ihre Produktivkraft zu entfalten.

Fragt sich trotzdem, wozu man Bibliotheken eigentlich braucht. Ich meine, das ist doch klar: wegen der Bücher (wie ja schon der Name sagt)! Die Basis der Bibliothek ist das, was sie exklusiv bietet. Das Buch ist das einzige Medium, das komplexe Zusammenhänge umfassend darstellen kann und es ist das einzige, um diese angemessen zu rezipieren. Auf diesem Medium eine umfassende, reichhaltige, kompetent ausgewählte Sammlung aufzubauen, was sich dann Bibliothek nennt, ist nach wie vor unschlagbar. Und der Bedarf danach wächst sogar (90.000 Neuerscheinungen im letzten Jahr allein im deutschsprachigen Raum - das ist ein Rekord).

Was wir dafür zuküftig brauchen, sind hohe Erwerbungsetats, Zugänglichmachen von Volltextdatenbanken, neue Kataloge, wie sie die Netbib-Leute, die Web 2.0-Leute fordern und möglichst eine umfassende Digitalisierung. Rolf Griebel und Klaus Ceynowa sind m.E. auf dem richtigen Weg. Wir werden in der Bayerischen Staatsbibliothek eine völlig neue Form von Bibliothek erleben, wenn die Volltexte erst einmal zugänglich sind. Das zeigen heute schon Dienste wie Amazon Look Inside. Wenn man die Welt der traditionellen Erschließung verläßt und bei der Recherche in diese Regionen vorstößt, fängt die Musik an zu spielen. Allerdings müsste man von für Deutschland einen Weg finden, auch die nicht freie Literatur zu digitalisieren und sie für die Recherche à la "Look Inside" zugänglich zu machen. Das würde die Bedeutung von Bibliotheken enorm steigern.


Viele Grüße
Peter Delin

Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Videolektorat
http://www.zlb.de/wissensgebiete/kunst_buehne_medien/videos
http://buecherei.netbib.de/coma/Filmrecherche
http://buecherei.netbib.de/coma/Filmliteratur
http://dvdbiblog.wordpress.com/



Kai Hessling schrieb:
Lieber Herr Delin,

der Schueler koennte sich fragen, warum soll ich ueberhaupt in die
Bibliothek, wenn ich sowieso die noetigen Informationen irgendwo im Netz
finde und wenn der nette Bibliothekar das auch so macht, scheint dies doch
der richtige Weg zu sein, obwohl es auch in der Bibliothek Buecher ueber
Hunderassen und spezielle Lexika dazu gibt. Ich muss zugeben, dass die
Verfasserliste des Wikipedia-Artikels auf mich wenig vertrauenswuerdig
wirkt. Ein Buch aus einem soliden Verlag wirkt doch gleich etwas serioeser.
Ich haette bei dieser Nutzer-Anfrage zunaechst den Bibliotheksbestand
abgesucht und erst wenn dies nichts erbracht haette, waere ich auf Wikipedia
ausgewichen. Bemerkenswert ist, dass uns Dozenten bei Fachfuehrungen oft
bitten, die Studenten darauf hinzuweisen, dass es neben Wikipedia und Google
auch noch andere, gedruckte Informationsquellen gibt - aber wir gehoeren
auch nicht zu den Eliteuniversitaeten.

Mit besten Gruessen
Kai Hessling
Universitaet Koblenz

Am 22.10.07 schrieb Delin, Peter <delin@xxxxxx>:
Zur Frage Wikipedia oder Brockhaus hier ein Praxisbeispiel:

Letzten Freitag Nachmittag in der Fachauskunft der ZLB: ein ca. 8-9
jähriger Junge (in der ZLB benutzen auch Kinder die
Fachauskunftsbereiche der Wisssenschaftsfächer) braucht Informationen
zum Chihuahua, einer Hunderasse, für einen kleinen Vortrag in der Schule.

Zunächst ermitteln wir zusammen die richtige Schreibweise über die
Google-Korrekturfunktion. Auf den deutschen Seiten finden wir dann an
2.Stelle den Eintrag in der Wikipedia, der sich als sehr brauchbar
erweist.
http://de.wikipedia.org/wiki/Chihuahua_(Hunderasse)

Nützlich ist auch die Referenz im Wikipedia-Eintrag auf die exakte
Beschreibung der Rasse FCI - Standard Nr.  218/  20. 10. 2004  /  D
http://www.fci.be/uploaded_files/218D2004_de.doc

Zusammen mit dem Stichwort "Geschichte" wird dann noch der folgende
Eintrag gefunden: http://www.sir-glenns-company.ch/abteilung2/index.htm

Mit den drei Ausdrucken zog das Kind dann zusammen mit seinem Vater
zufrieden von dannen. Es wird mit elterlicher Unterstützung sicherlich
einen guten Vortrag in seiner Klasse halten.

Das wäre mit dem Brockhaus nicht möglich gewesen. Die 30bändige Ausgabe
der 21.  völlig neu bearbeiteten Auflage von 2006 bietet unter dem
Eintrag "Chihuahua" 6 Zeilen (35 Worte) und keine Verweisung. Der
Brockhaus wurde deshalb gar nicht erst zu Rate gezogen.

Viele Grüße
Peter Delin

Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Videolektorat
http://www.zlb.de/wissensgebiete/kunst_buehne_medien/videos
http://buecherei.netbib.de/coma/Filmrecherche
http://dvdbiblog.wordpress.com/


Klaus Graf schrieb:
On Mon, 22 Oct 2007 08:32:55 +0200
 Joachim Eberhardt <Joachim.Eberhardt@xxxxxxxxxxxxxxxxxxx>
wrote:
Jaja. Bibliothekarsbashing der ...

Ist niemand bereit festzustellen, dass der Impuls der
Kollegin Michel, des Kollegen Schanbacher in der von
Herrn Graf zitierten Pressemitteilung richtig ist?
Wenn man diese falsche Aeusserung so manipuliert, dass sie
einen vagen Impuls wiedergibt, dann brauchen wir uns um
intellektuelle Redlichkeit oder pathetisch gesprochen
Wahrheit keine Sorgen mehr zu machen. Herr Eberhardt ist
als Philosoph ja dafuer praedestiniert, das Wahre im
Falschen aufzuspueren.

Natuerlich bringe ich meinen Studenten bei, dass die
meisten Quellen fuer ihre Hausarbeiten nach wie vor
gedruckte Buecher sind und dass Wikipedia nur in eng
begrenzten Ausnahmefaellen "zitierfaehig" ist. Darum ging
es aber nicht, wie Herr Eberhardt eigentlich selbst am
besten weiss.

Der wahre Impuls der von ihm in Schutz genommenen
"Kollegen" (nach dem Motto: ein Rabe ...) war, wie
schluessig aufgezeigt wurde, der:
* ein gedrucktes Lexikon (Brockhaus) ist immer der
Wikipedia vorzuziehen
* kostenpflichtige Internetquellen sind besser als frei
zugaengliche.

Dass beide Praemissen falsch sind, ist hinreichend deutlich
geworden.

Klaus Graf








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