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Re: [InetBib] Wikipedia, Google und die Studierenden 2015+



Liebe Liste,

ich halte die Auffassung des Kollegen Steinhauer:

Auch wenn es riskant ist, mediengeschichtliche Parallelen zu ziehen, scheint
mir unsere Zeit eine Zeit des Übergangs zu sein, vergleichbar der
spätantik-frühmittelalterlichen Epoche des Umschreibens der schriftlichen
Überlieferung von Papyrus auf Pergament. Natürlich verschwanden die Papyri
nicht sogleich, auf lange Sicht aber war das, was nicht umgeschrieben wurde,
für die weitere kulturelle Überlieferung nicht mehr präsent. Ich denke, mit
den online verfügbaren Informationen wird es ähnlich gehen. Das
Nutzerverhalten der künftigen Studierenden jedenfalls nimmt diese
Entwicklung eindrucksvoll vorweg.

Letztlich werden Bücher natürlich nicht verschwinden. Sie werden sich da
behaupten, wo sie praktisch sind. So war es immer und mit allen neuen
Medien. Sie verdrängen die alten nur soweit, aber dann auch gewiss, wo sie
praktischer sind als das Vorhandene. Und hier sollte man gerade beim Thema
"Buch vs. Online" durchaus die hybride Form ins Kalkül ziehen. Bei
umfangreichen Texten sind Online und Buch allein für sich genommen nicht
sonderlich praktisch, beides zusammen aber eine große Arbeits- und
Rechercheerleichterung.

Eric Steinhauer


- mit Verlaub - für etwas naiv. Als einziger Bibliothekar einer
Kleinstadtbibliothek, die gleichzeitig als Schulbibliothek des Gymnasiums
(1000 Schüler!) fungiert, kann ich aus täglicher "Fronterfahrung" den
zugrunde liegenden Fortschrittsoptimismus nicht teilen.
Das Problem liegt m.E. in dem unreflektierten Gebrauch des Wörtchens
"Information". Ich halte es für sinnvoll zwischen
Daten (Lebensdaten Heinrichs IV, Schmelzpunkt von Eisen...)
Information = Einordnung der Daten in einen Kontext und deren emotionale
Bewertung und
Wissen = (lebens)praktischer Umgang, Umsetzung von Informationen
zu unterscheiden.
Einer Anregung des Mathematikers Ian
Stewart<http://www.librarything.de/work/489873>folgend, möchte ich
auch Fragestellungen einteilen in
simplex = es gibt eine eindeutige 2-Seiten-Antwort
komplex = benötigen so 200 Seiten (Aufstieg des Nationalsozialismus)
multiplex = benötigen ganze Bibliotheken (das Problem hat unterschiedliche
Dimensionen, es wird immer komplexer, je mehr man darüber weiss, es gibt
unterschiedliche Perspektiven, die nicht zur Deckung gebracht werden können
- Was ist Leben?)
Stewart nennt die Reduktion komplexer Probleme zu einfachen hellsichtig :
Lügen-für-Kinder.

In den Köpfen der Schüler/innen befindet sich heute unverbundener Datenmüll,
auch Oberstufenschüler sind kaum in der Lage, etwa eine Verbindung zwischen
Literatur der Zwanzigerjahre (DEUTSCH) und der Weimarer Republik
(GESCHICHTE) herzustellen. Ihr "Wissen" ist "flach".

Das Internet bietet 2-Seiten-Antworten und passt damit prächtig zum
herrschenden Bulimie-Unterrichtssytem (fressen/kotzen). Freuen wir uns auf
G8! Was auf der Strecke bleibt, ist schlicht das Reflektionsvermögen.
Damit will ich nicht in irgendein zivilisationskritisches Horn blasen, ich
bin ein Fan der Wikipedia, wie aller kollektiver Wissensplattformen. Es ist
"einfach" eine schwere konzeptionelle Schwäche unseres Schulsystems. Doch
wer will den Kurs dieses "Tankers" ändern?

«Erkläre es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde
mich erinnern. Lass es mich selber tun, und ich werde es verstehen.»
(angeblich) Konfuzius



-- 
Mit freundlichen Grüßen

Jochen Dudeck
Stadtbücherei Nordenham
An der Gate 11
26954 Nordenham
04731 923210

http://www.stadtbuecherei-nordenham.de


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.