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Re: [InetBib] Wikipedia, Google und die Studierenden 2015+



Sehr geehrter Herr Dudeck,

dass das Wort "Information" oft einem "unreflektierten Gebrauch"
unterliegt ist sicher richtig. Ihre Festlegung für

"Daten (Lebensdaten Heinrichs IV, Schmelzpunkt von Eisen...)
Information = Einordnung der Daten in einen Kontext und deren emotionale
Bewertung und
Wissen = (lebens)praktischer Umgang, Umsetzung von Informationen"

ist aber eine sehr eigene, und entspricht leider nicht der bekannten
Informationstheorie, die das letzte Jahrhundert grundlegend geprägt hat.

Danach bestehen Daten aus Information, Rauschen und Redundanz.
Dass Information immer nur in einem Kontext (der Terminus Technicus
heißt hier Syntaktik) auftritt, ist richtig. Mit Emotion hat das aber noch
sehr wenig zu tun. Die erfolgt erst auf einer weit höheren Ebene,
in der Interpretation, Semiotik und auf der noch höheren Ebene die Psychologie
eine wichtige Voraussetzung sind.

Die Informationstheorie weiter gedacht, führt zu der Erkenntnis, dass Wissen
begründete Information, und damit eine höchst interessante Art der Redundanz
ist, eine a priori Redundanz. Das heißt: Mit unserem Wissen
können wir Informationen vorwegnehmen.

Die Einteilung von Ian Stewart in
"simplex = es gibt eine eindeutige 2-Seiten-Antwort
komplex = benötigen so 200 Seiten (Aufstieg des Nationalsozialismus)
multiplex = benötigen ganze Bibliotheken (das Problem hat unterschiedliche
Dimensionen, es wird immer komplexer, je mehr man darüber weiss, es gibt
unterschiedliche Perspektiven, die nicht zur Deckung gebracht werden können
- Was ist Leben?)"

scheint mir nicht sehr hilfreich zu sein. Denn es ist eine bemerkenswerte
Eigenschaft der Syntax unserer Sprache, und des Zipfschen
"Principle of least effort", dass wir Gegenstände beliebig genau darstellen
können, um sie dann in wenigen Begriffsbezügen zusammenzufassen.

Was Leben ist, lässt sich beispielsweise leicht definieren.
Es ist durch drei untrennbare Eigenschaften gekennzeichnet,
durch seine Reproduzierbarkeit, seinen Metabolismus und durch seine sog.
Irritabilität, d.h. durch die Fähigkeit sinnvoll auf seine Umwelt zu
reagieren, und dies geschieht aufgrund seines jeweiligen Inneren Modells von
der Umwelt, an die es durch seine Phylogenese angepasst ist.

Selbstverständlich kann man das auch sehr viel multikomplexer darstellen,
es ist aber eine simple und eindeutige Antwort, die die Biologie hier
gefunden hat, vorausgesetzt man kennt die genaue Bedeutung dieser Worte.

Das Problem der "Lügen-für-Kinder" ist aus meiner Sicht wirklich ein weithin
unterschätztes. Man sollte aber nicht vergessen, wie viel Erwachsene täglich
Kindern Fehlinformationen präsentieren, weil sie es selbst nicht besser wissen.
Man denke nur an die zahllosen Widersprüche bezüglich des Wortgebrauchs von
"Information" ;-)

Eine oft unterschätzte Eigenschaft des Wissens ist, dass wir erst mit wachsendem Wissen erkennen, was wir nicht wissen. Das ist ja auch der Unterschied zwischen Faust und Wagners bekanntem Wort: "Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen."
Kann man Ahnungslosigkeit noch deutlicher ausdrücken, als es Goethe tat?

MfG

W. Umstätter

P.S.: Das schöne Wort: "Erkläre es mir, und ich werde es vergessen.
Zeige es mir, und ich werde mich erinnern.
Lass es mich selber tun, und ich werde es verstehen."
gilt nur für die Dinge des Lebens, die man tun kann.
Für alle abstrakten Gegenstände unserer Weltbetrachtung versagt es
zwanglsäufig. Auch das sollte man in der Pädagogik nicht vergessen.



----- Original Message ----- From: "Stadtbücherei Nordenham" <dudeck@xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx>
To: "Internet in Bibliotheken" <inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx>
Sent: Tuesday, October 23, 2007 11:32 AM
Subject: Re: [InetBib] Wikipedia, Google und die Studierenden 2015+


Liebe Liste,

ich halte die Auffassung des Kollegen Steinhauer:

Auch wenn es riskant ist, mediengeschichtliche Parallelen zu ziehen,
scheint
mir unsere Zeit eine Zeit des Übergangs zu sein, vergleichbar der
spätantik-frühmittelalterlichen Epoche des Umschreibens der schriftlichen
Überlieferung von Papyrus auf Pergament. Natürlich verschwanden die
Papyri
nicht sogleich, auf lange Sicht aber war das, was nicht umgeschrieben
wurde,
für die weitere kulturelle Überlieferung nicht mehr präsent. Ich denke,
mit
den online verfügbaren Informationen wird es ähnlich gehen. Das
Nutzerverhalten der künftigen Studierenden jedenfalls nimmt diese
Entwicklung eindrucksvoll vorweg.

Letztlich werden Bücher natürlich nicht verschwinden. Sie werden sich da
behaupten, wo sie praktisch sind. So war es immer und mit allen neuen
Medien. Sie verdrängen die alten nur soweit, aber dann auch gewiss, wo
sie
praktischer sind als das Vorhandene. Und hier sollte man gerade beim
Thema
"Buch vs. Online" durchaus die hybride Form ins Kalkül ziehen. Bei
umfangreichen Texten sind Online und Buch allein für sich genommen nicht
sonderlich praktisch, beides zusammen aber eine große Arbeits- und
Rechercheerleichterung.

Eric Steinhauer


- mit Verlaub - für etwas naiv. Als einziger Bibliothekar einer
Kleinstadtbibliothek, die gleichzeitig als Schulbibliothek des Gymnasiums
(1000 Schüler!) fungiert, kann ich aus täglicher "Fronterfahrung" den
zugrunde liegenden Fortschrittsoptimismus nicht teilen.
Das Problem liegt m.E. in dem unreflektierten Gebrauch des Wörtchens
"Information". Ich halte es für sinnvoll zwischen
Daten (Lebensdaten Heinrichs IV, Schmelzpunkt von Eisen...)
Information = Einordnung der Daten in einen Kontext und deren emotionale
Bewertung und
Wissen = (lebens)praktischer Umgang, Umsetzung von Informationen
zu unterscheiden.
Einer Anregung des Mathematikers Ian
Stewart<http://www.librarything.de/work/489873>folgend, möchte ich
auch Fragestellungen einteilen in
simplex = es gibt eine eindeutige 2-Seiten-Antwort
komplex = benötigen so 200 Seiten (Aufstieg des Nationalsozialismus)
multiplex = benötigen ganze Bibliotheken (das Problem hat unterschiedliche
Dimensionen, es wird immer komplexer, je mehr man darüber weiss, es gibt
unterschiedliche Perspektiven, die nicht zur Deckung gebracht werden
können
- Was ist Leben?)
Stewart nennt die Reduktion komplexer Probleme zu einfachen hellsichtig :
Lügen-für-Kinder.

In den Köpfen der Schüler/innen befindet sich heute unverbundener
Datenmüll,
auch Oberstufenschüler sind kaum in der Lage, etwa eine Verbindung
zwischen
Literatur der Zwanzigerjahre (DEUTSCH) und der Weimarer Republik
(GESCHICHTE) herzustellen. Ihr "Wissen" ist "flach".

Das Internet bietet 2-Seiten-Antworten und passt damit prächtig zum
herrschenden Bulimie-Unterrichtssytem (fressen/kotzen). Freuen wir uns auf
G8! Was auf der Strecke bleibt, ist schlicht das Reflektionsvermögen.
Damit will ich nicht in irgendein zivilisationskritisches Horn blasen, ich
bin ein Fan der Wikipedia, wie aller kollektiver Wissensplattformen. Es
ist
"einfach" eine schwere konzeptionelle Schwäche unseres Schulsystems. Doch
wer will den Kurs dieses "Tankers" ändern?

«Erkläre es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde
mich erinnern. Lass es mich selber tun, und ich werde es verstehen.»
(angeblich) Konfuzius



--
Mit freundlichen Grüßen

Jochen Dudeck
Stadtbücherei Nordenham
An der Gate 11
26954 Nordenham
04731 923210

http://www.stadtbuecherei-nordenham.de





Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.