Lieber Herr Herrmann,
"Wie schon gesagt, ist durch die klassischen Anstandsregeln ja sogar über
Art. 3, Abs. 2 GG hinausgehend den Damen gegenüber ein besonderer Respekt
geboten (Vortritt lassen u.s.w.)."
Nun, die "klassischen Anstandsregeln" wurzeln allerdings in einem ebenfalls
klassischen Sexismus, der die Frau zuerst, wenn nicht ausschließlich, als
hübsches wie zerbrechliches Akzidens des Mannes behandelt(e). Sich auf diese
Etikette der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh. mit ihrer "Wertschätzung"
der Frau - so im Grunde fortwirkend bis mindestens in die 1970er Jahre -
zurückzuziehen, erscheint mir in dieser Diskussion doch recht anachronistisch.
Beste Grüße,
Falk Hartwig
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Dr. Christian Herrmann via InetBib [mailto:inetbib@xxxxxxxxxx]
Gesendet: Mittwoch, 7. Juli 2021 15:42
An: inetbib@xxxxxxxxxx
Betreff: Re: [InetBib] Solidarität
Liebe Frau Sanders,
die von Ihnen genannten Aspekte sind schon alleine vom biblischen
Menschenbild (Gottesebenbildlichkeit u.s.w.) her, also bereits lange schon
Kriterien angemessener Kommunikation und sind nicht erst durch das Gender
Mainstreaming in die Welt gekommen. Wie schon gesagt, ist durch die
klassischen Anstandsregeln ja sogar über Art. 3, Abs. 2 GG hinausgehend den
Damen gegenüber ein besonderer Respekt geboten (Vortritt lassen u.s.w.). Das
Neue an Gender Mainstreaming ist ja nicht die Unterscheidung der
Geschlechter, sondern im Gegenteil die Relativierung biologisch bedingter
Prägungen zugunsten variabler sozialer bzw. rollenspezifischer Fremd- oder
Selbstzuschreibungen (Geschlecht als soziales Konstrukt). "Gendersensibel" im
Sinne von Würdigung persönlicher Leistungen und Würde (und das keineswegs in
einer Einengung auf den Bereich der Geschlechtlichkeit) sind die
traditionellen Sprach- und Anstandsregelungen auch. Das Problem der hinter
dem Gender Mainstreaming stehenden neueren (dekonstruktiven) Form des
Feminismus ist aber - gerade auch aus Sicht des traditionellen Feminismus -,
dass die Geschlechtsunterschiede und die Würdigung spezifischer Stärken und
Eigenschaften gerade aufgehoben werden sollen.
Der Gegenstand der Würdigung zerfließt sozusagen, weil die Geschlechtlichkeit
sich in einem permanenten Prozess der individuellen Neudefinition befindet.
Wer die Gender-Sprache konsequent anwenden will, kann sich nie sicher sein,
ob eine Person momentan als "Herr" oder "Frau" angesprochen werden will bzw.
noch Unterscheidungen wie "Cis-Frau", "Trans-Frau" u.s.w. sprachliche
Artikulation finden müssen.
Bibliothekarische Festlegungen in der Normierungspraxis der Personendaten
müssten im Nachhinein als unzulässige Festlegungen in Frage gestellt werden
(die fließende Biographie kann dann nicht einfach in einem summarischen
"VerfasserIn" fremdbestimmt fixiert werden). Und wie wollen Sie mit lyrischen
Texten - vor allem in der mündlichen Wiedergabe - verfahren? Ob das dann noch
ein würdevoller Umgang mit der Sprachschöpfung von Autoren ist?
Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen und auch derjenigen einiger anderer
Diskutanten ist auch die Annahme, dass die traditionelle Formulierungsweise
grundsätzlich und von vorneherein nicht respektvoll und inklusiv sei. Hier
dreht sich die Kontroverse immer wieder im Kreis.
Ich verstehe dies in gewisser Weise vor dem Hintergrund neuerer Diskussionen,
aber die tradtionelle Rhetorik kennt das Mittel der direkten Anrede etwa als
"Sehr geehrte Damen und Herren" u.ä.. Das Problem ist nur, dass das
generische Maskulinum nicht aus einer Machenschaft oder Verschwörung böser
Menschen (Männer) heraus entstanden ist mit der alleinigen Absicht, Frauen zu
unterdrücken, sondern wie schon von anderen betont historisch gewachsen und
als Konvention für alle verständlich ein zusammenfassender Begriff für alle
von einer bestimmten Eigenschaft betroffenen Personen unabhängig vom
Geschlecht anerkannt war und im Alltagssprachgebrauch abseits akademischer
Kreise auch noch ist. Die Gender-Thematik transformiert ein bisher zumindest
in gepflegten und gebildeten Kreisen übliches respektvolles Verhalten in eine
Atmosphäre von Kampf und Spannung, die so gar nicht sein müsste, wenn man
sich auf für alle Seiten akzeptable Lösungen verständigen wollte. Es ist nur
die Frage, ob das Gender mainstreaming in seiner konsequenten Form vom Ansatz
her dazu geeignet und willens sein kann.
Den Kritikern der Gender-Sprache Absurditäten vorzuwerfen oder ihnen wie von
anderen in diesem Forum die moralische oder intellektuelle Würde
abzusprechen, widerlegt jedenfalls die eigene Intention, respektvoll und
voller Würdigung der anderen Menschen miteinander umzugehen. Diversität zu
betonen, schließt eben alle Formen von Diversität ein, sowohl alle sozialen
Schichten und Berufsgruppen als auch alle denkbaren Weltanschauungen und
nicht nur die mit dem Gender mainstreaming kompatiblen.
Mit den besten Wünschen und Grüßen,
Christian Herrmann
Am 07.07.2021 um 13:34 schrieb Dr. Luise Sanders via InetBib:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Frau Wiethoff,
vielen Dank für Ihren wichtigen Hinweis auf den Solidaritätsaspekt.
Ich würde das sogar noch erweitern: es geht um
• Höflichkeit,
• Respekt,
• Wertschätzung,
• Anerkennung beruflicher Leistungen,
• nicht zuletzt um Würde.
Und das ist in Artikel 1 Grundgesetz verpflichtend festgeschrieben.
Und dann gibt es ja auch noch Artikel 3 Grundgesetz insbesondere
Absatz 2 und 3.
Ich bin auch der Meinung, dass es verantwortungsvoller und einfacher
wäre, insgesamt zu überlegen, welche Möglichkeiten die deutsche
Sprache bietet, gendersensibel zu formulieren (vielleicht auch ohne
Sonderzeichen), anstatt die Energie in Gegenwehr und absurde
Argumentationen teilweise sogar in gerichtliche Klagen zu stecken
(Beispiel VW und Audi).
Am 2021-07-06 11:28, schrieb Doerthe Wiethoff via InetBib:
Liebe Kolleg*innen,
es sollte doch Konsens sein, dass man versucht durch Sprache niemand
auszuschließen. In welcher Form man dies tut, ist sicher strittig
und diskussionswürdig, doch die Grundhaltung "wir wollen niemand
ausschließen" sollte doch uns alle einen!
Lieber "verstümmle" ich Sprache, als Menschen sprachlich
auszugrenzen, die in Ihrem Alltag bereits real Ausgrenzung erfahren.
Das hat nichts mit Verbot oder Bevormundung, sondern mit Solidarität
zu tun, die ich bei manchen in dieser Diskussion sehr vermisse.
Nach meiner naiven Meinung macht das Debatten über "Genus vs. Sexus"
"Mitgemeint" und Co. obsolet.
Viele Grüße
Dörthe Wiethoff
Dörthe Wiethoff
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Dr. theol. Christian Herrmann
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