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Re: [InetBib] Please relax



Liebe Runde, 

ich habe hier gefühlt weder überwiegend Beiträge von Herren, noch
überwiegend Beiträge von Alten gelesen. Wer viel Zeit hat, kann das ja
mal auszählen. Bei mir ist gewöhnlich die Zeit sehr knapp, aber mit
diesem Thema habe ich mich seit vielen Jahren beschäftigt, es
interessiert mich längerfristig und daher meine Einlassungen. Und ich
habe in dieser Diskussion viel gelernt, wofür ich allen dankbar bin. Die
unten zitierten Empfehlungen des Rechtschreibrats finde ich sinnvoll und
angemessen. Ich stehe auch für ihre Anwendung. Es sind aber meines
Wissens Empfehlungen und keine Vorschriften mit Rechtswirkung. 

Verwerfungen bei der Anwendung, wie Herr Holzbach sie schilderte, lösen
bei mir auch Irritation aus. Stellenausschreibungen in
geschlechtergerechter Sprache abzufassen ist richtig und wichtig.
Geschlechtergerechte Sprache als Benotungskriterium bei Hausarbeiten zu
setzen, erscheint mir zweifelhaft. Als in Berlin der Koalitionsvertrag
der aktuellen Regierung mit Gendersternchen geschrieben erschienen war,
begannen in der Verwaltung viele Leute ebenfalls mit Gendersternchen zu
schreiben. Auch solche, die das vorher kritisiert hatten. Da sind mir
solche Diskussionen, wie wir sie hier führen lieber. 

Das sogenannte generische Maskulinum hat sich, fürchte ich, durch
gehäufte Verwendung der Regierenden und der Medien durchgesetzt. Nach
meiner Beobachtung der Berufsbezeichnungen in Materialien zur
Berufsgeschichte (ich verwalte ein kleines Archiv zur Geschichte
mehrerer Frauenberufe) vermute ich, dass diese Entwicklung in den 1930er
Jahren einen starken Schub bekam. Berufsfrauen in den 1930-40er Jahren
haben sich dagegen durchaus gewehrt. Dafür habe ich etliche Belege
gefunden - Publikationen wie "Frauenberufe im Mittelalter" von 1940,
Veranstaltungsankündigung einer Landesgruppe eines Berufsverbands wie
"Der Beruf der Fotografin" während im gesamten Jahrgang der
Verbandszeitschrift nur noch "Fotograf" vorkommt u.ä. 

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, das Doppelverdienerverbot, die
Herausdrängung von Frauen aus den Berufen und das dann zunehmend das
nationalsozialistische Frauenbild waren Hintergründe dieser sprachlichen
Entwicklung. Ich kenne kein Gesetz, dass die Verwendung des generischen
Maskulinums vorschreibt. Es ist nach meiner Beobachtung durch
historischen Kontext, Sprachökonomie und bevorzugten Gebrauch in die
Übung gekommen. Wie hier in der Diskussion schon bemerkt wurde, war es
vorher nicht relevant, weil Männer und Frauen sich vornehmlich in
getrennten Sozialräumen bewegten. Hier gibt es noch viele
Forschungsdesiderate. 

Grabrucker 1993 wertet Gerichtsverfahren aus und erwähnt einen
Arbeitsrechtsfall Ende der 1920er Jahre, in dem ein Anwalt den bis dahin
nicht weiter bekannten linguistischen Begriff "generisches Maskulinum"
benutzt, um für eine Frau durchzusetzen, dass sie eine Stelle besetzen
kann, die im Maskulinum ausgeschrieben war. Peter Eisenberg erwähnt die
Ausarbeitung dieser Erscheinung durch Roman Jacobsohn um 1930
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/geschlechtergerechte-sprache-peter-eisenberg-die-genderfraktion-verachtet-die-deutsche-sprache-li.158487
. Nach Nübling 2018 erfolgt die sprachwissenschaftliche Ausarbeitung
erst in den 1960er Jahren und wird seit den 1970er Jahren kritisch
diskutiert. 

Meine Beschäftigung mit dem Namen "Bibliothekartag" bestätigt meine
Beobachtungen aus anderen Berufsfeldern. Hier wurde festgehalten, dass
die ausschließliche Verwendung des Namens "Bibliothekartag" ab 1940 aus
den überlieferten Texten hervorgeht. Bis dahin wurde in der Fachpresse
zuerst von "Versammlung deutscher Bibliothekare", dann gleichzeitig von
"Bibliothekarversammlung" und "Bibliothekartag" geschrieben. In einem
Jahr, vielleicht versehentlich, auch von "Bibliotheksversammlung" und in
der Tagespresse auch von "Bibliothekarstag". Die jüngeren Quellen sind
nicht digital einsehbar. Da ich jetzt Urlaub habe, werde ich vielleicht
in den Lesesaal gehen und weiter lesen. "Bibliothekartag" ab 1940 stellt
für mich nochmal die Frage nach der Tradition. Welcher Tradition folgen
wir da? Ich finde es wichtig, uns das bewußt zu machen. 

Interessant fand ich den hier auch verlinkten Artikel von Weidhas. Sie
verweist auf die vornehmliche und angeblich einmütige Verwendung des
"generischen Maskulinums" in der DDR. Daran kann ich mich auch erinnern,
allerdings war das nicht einmütig. Wir haben darüber diskutiert. Ich
habe das große I geschrieben, woraufhin es hieß: "Kannste ja machen,
aber wir drucken es nicht so. Westmoden machen wir nicht mit." Weidhas
verstrickt sich in ihrem Artikel in einen Widerspruch. Einseits
verteidigt sie die DDR-Übung des generischen Maskulinums und
gleichzeitig wendet sie sich gegen ein Diktum bestimmter
Sprachverwendungen. 

Wenn die Veranstalterinnen des Fachkongresses also tatsächlich den Wind,
der hier bläst, aufnehmen und ihre Segel neu setzen, kommen sie nicht um
eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Verbände herum. Um sich
lösen zu können, ist es wohl wichtig zu wissen, wovon genau. 

Viele Grüße nochmal aus Berlin 

Jana Haase 

Am 2021-07-06 11:28, schrieb Mathis Holzbach via InetBib:

Sehr geehrte Herr Schmid-Ruhe!

Das  frage ich mich auch, wie viel Zeit einige Diskutanten zur Verfügung 
haben. Ich schaffe so etwas nur in den Pausen. Für mich gehen die 
fundamentalen Genderbefürworter in ihrem Anliegen  zu weit, weil sie 
eigenmächtig bestehende Regelungen ignorieren und übervorteilen, sonst gäbe 
es diese Diskussion auch nicht.  Und ich empfinde, dass gerade aufseiten der 
uneingeschränkten Genderbefürworter Scheinargumente an der Tagesordnung sind. 
Gegen weibliche Berufsbezeichnungen ist ja nichts einzuwenden. Aber, wenn das 
Textverständnis dadurch erschwert wird, wird es schwierig: "Kolleg*in = 
unvollständige (und damit falsche) maskuline Form von Kolleg" oder "Wir 
suchen eine*n begeisterte*n Teilnehmer*in für ein Interview.". Die Praxis an 
manchen Hochschulen, nicht gegenderte Prüfungsarbeiten schlechter zu benoten, 
hat sich als rechtlich unklar herausgestellt, wie zB in der Universität 
Kassel. Und das waren jüngere Leute, die sich über eine solche Praxis 
beschwert haben.
Glauben zu machen, hier nur ältere Männer vorzufinden, ist dann zu einfach und 
ist vielleicht der Versuch eines Klischees. Auch das Argument, dass die meisten 
in 5-10 Jahren sowieso im Ruhestand sind, suggeriert womöglich, hier einen 
Generationskonflikt vorzufinden. Aber, ich bin mir da nicht so sicher. Tatsache 
ist, dass es keine amtlichen Regelungen gibt, die vor allem den Gebrauch des 
Gendersternchens empfiehlt bzw.  vorschreibt oder erlaubt. Und da sollte man 
überlegen, warum hiermit das formulierte Ziel des Rates für deutsche 
Rechtschreibung für eine geschlechtergerechte Sprache auf eigene Faust 
übervorteilt werden: 

„Geschlechtergerechte Texte sollen
  sachlich korrekt sein,

  verständlich und lesbar sein,

  vorlesbar sein (mit Blick auf die Altersentwicklung der Bevölkerung und 
die Tendenz in den

Medien, Texte in vorlesbarer Form zur Verfügung zu stellen),

  Rechtssicherheit und Eindeutigkeit gewährleisten,

  übertragbar sein im Hinblick auf deutschsprachige Länder mit mehreren 
Amts- und

Minderheitensprachen,

  für die Lesenden bzw. Hörenden die Möglichkeit zur Konzentration auf 
die wesentlichen

Sachverhalte und Kerninformationen sicherstellen." 

(https://www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_PM_2021-03-26_Anlage1_Geschlechtergerechte_Schreibung_seit_2018.pdf
 
<https://www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_PM_2021-03-26_Anlage1_Geschlechtergerechte_Schreibung_seit_2018.pdf>)

Μὴ κρίνετε, ἵνα μὴ κριθῆτε. (Mt,7,1) Dies gilt doch für uns alle. Aber,  ich 
und mit mir viele Mitleser richten nicht. Man darf aber schon sich dazu 
äußern, wenn man empfundene Eigenmächtigkeiten aufzeigen möchte. 

Schönen Gruß

Dr. Mathis Holzbach, M.L.I.S.

Am 06.07.2021 um 08:19 schrieb Bernd Schmid-Ruhe via InetBib 
<inetbib@xxxxxxxxxx <mailto:inetbib@xxxxxxxxxx>>:

darf

-- 
Jana Haase 

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