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Re: [InetBib] Keine Sonntagsöffnung mehr für Bibliotheken? - Milchkühe und arme Hunde



Sehr geehrter Kollege Becker,

Ihr Diskussionsbeitrag erinnert mich an das dbi nach dem Mauerfall, dem man riet, die Bibliotheken in den neuen Bundesländern zu beraten, um ihm danach vorzuwerfen, dass es sich nicht genügend um seine eigentlichen bibliothekarischen Aufgaben gekümmert hätte. Damals wurde auch verstärkt über die Schließung des IBI diskutiert, mit der Frage, wozu brauch man noch Bibliotheken? Die Bibliotheksschule in Frankfurt a. M. wurde dann ja auch geschlossen. Dass das kein Schnee von gestern ist, erkennt man auch an Nachrichten wie: hwww.takepart.com/article/2014/02/28/read-public-school-libraries-suffer-staff-cuts-and-closures

Weder gegen Freizeitgestaltung und sonntägliche Erholung, noch gegen eine möglichst hohe Attraktivität von Bibliotheken ist etwas sinnvolles einzuwenden, es besteht nur die wachsende Gefahr, dass sich der Bund der Steuerzahler fragt, wozu solche Vergnügungseinrichtungen staatlich finanziert werden müssen. Dass die WTO die Bibliotheken über GATS privatisieren möchten ist ja nicht neu. Ebenso wenig neu ist, dass die Verlage bei den eBooks den Bibliotheken gar keinen Bestandsaufbau mehr zugestehen. Sie erlauben nur noch Nutzungszeit. Ansonsten haben wir doch mit Amazons Kindle unlimited schon die „Sonntagsöffnung“ für über 600.000 tolle attraktive Bücher (von der Onleihe etc. ganz zu schwiegen), die aber nicht immer „intellektuell“ anspruchsvoll sind. Dass für viele Menschen das Wort intellektuell eher ein Schimpfwort ist, ist mir bekannt, aber das liegt doch nur an seinem falschen Gebrauch, weil damit nur pseudointellektueller Müll gemeint sein kann.

Gerade die Ausbildung von heute muss sich fragen, welche Qualifikationen die Studierenden im BID-Bereich brauchen, um für morgen gerüstet zu sein. (www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/infopub/BAK14b_Vortrag.pdf) Wir haben schon seit 1982 in Köln Studierende auch für den privatwirtschaftlichen Bereich der Informationsvermittler ausgebildet, weil sich das mit der Onlinerevolution von ~1975 deutlich bemerkbar machte. Nun geht es darum diese Entwicklung weiter zu denken, wobei wir nicht immer wissen, welche Randbedingungen sich die Juristen für den Informations- und Wissensmarkt ausdenken.

Im Moment spricht vieles dafür, dass sich der Staat um eine ausreichend qualifizierte Bildung und seine Förderung sorgt, aber weniger um die staatliche Förderung von Freizeitvergnügen, da holt er sich lieber noch ein paar Euro an Vergnügungssteuern.

MfG

Walther Umstätter


Am 2014-12-01 22:27, schrieb Tom Becker:
Nachdem. liebe KollegInnen, ich mit der Portfolio-Analyse zitiert
werde, und gleichweit sehr wohl für die Sonntagsöffnung bin, möchte
ich mich doch mal zu der Diskussion losgelöst von Funktionen äussern,
bevor ich später noch offiziell in Sachen BIB und Sonntagsöffnung
poste…..

alles weitere unten eingefügt….

Ihr

Tom Becker
===
Professor für Medienmanagement und Medienvermittlung in Bibliotheken (FH)

FH Köln
Fakultät für Informations- und Kommunikationswissenschaften
Raum B5 431.A

Hausanschrift:
Claudiusstr. 1
D 50678 Köln
+49 221 8275 3495

Postanschrift:
Gustav-Heinemann-Ufer 54
D 50968 Köln

Am 30.11.2014 um 14:51 schrieb Peter Delin <peter.delin@xxxxxx>:


Liebe Liste!

Wenn man ernst nimmt, was Herr Pampuch schreibt:

"Ich würde mir einen Fokus wünschen, der auf die Frage abzielt, ob niedrigschwellige Bildungseinrichtungen wie Öffentliche Bibliotheken einen konstruktiven Beitrag zur politischen Bildung leisten können bzw. was genau die Gründe dafür sind, dass letzterer trotz sinkender Wahlbeteiligung, des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien und des dauerhaft kriselnden Neoliberalismus so ein geringer Stellenwert beigemessen wird. "

... muß man sich fragen, ob Öffentliche Bibliotheken diesen Anspruch überhaupt noch erfüllen können oder wollen. Dazu hier ein Hinweis auf die EKZ-Tagung "Chancen 2012: Information 2.0 - Wie geht es weiter mit dem Sachbuch?" :
http://www.bib-info.de/fileadmin/media/Dokumente/Lektoratskooperation/Sachbuchportfolio_im_Dialog_BIDKongress2013kurz.pdf

Nach der dort durchgeführten Portfolioanalyse gehört Literatur zu gesellschaftlichen und politischen Fragen oder zur Geschichte in den Öffentlichen Bibliotheken eher zu den "Armen Hunden" oder zu Bereichen, die zu schwach ausgebaut sind (sog. "Fragezeichen")
... dazu folgendes Zitat aus diesem Vortrag:

"Mit der festgestellten überproportionalen Berücksichtigung der ‘Armen Hunde’ beim Bestandsaufbau wird vorrangig der (selbstgestellte?) Informationsauftrag der Bibliothek, nicht aber vorrangig das Kundeninteresse, bedient. Der ID [Informationsdienst der EKZ und der Lektoratskooperation] sollte sich dem entgegenwirkend noch stärker auf ein höheres Angebot in den Sektoren Milchkühe und Stars konzentrieren."

Wer seine Leser als Kunden sieht, kann legitimerweise wohl keine Sonntagsöffnung fordern.

Nur wer seine LeserInnen als KundInnen sieht, kann es als
selbstverständlich ansehen, diesen unter bestimmten Rahmenbedingungen
die Türen auch sonntags zu öffnen. Informelle Bildung, die Verknüpfung
von Freizeit, von Treffen und von Bildung kann an wenigen Orten so
kommerzfrei geschehen wie am ‚3.Ort Öffentlicher Bibliothek‘ - wo eben
nicht nur die hehre ausgeformte Mündigkeit in intellektueller
Vervollkommnung sich an guter, wahrer und schöner (auch
gesellschaftlich und politisch relevanter Literatur) laben kann,
sondern jeder frei von Sanktionen schnuppern darf, sich durch die
Comic- und Krimi-Abteiung wühlen kann, in Zeitschriften und Zeitungen
elektronisch und physisch stöbern kann, fragen kann,  ohne
gemassregelt zu werden und Zeit hat, wo man eReader testen kann und
sich inspirieren lassen kann, wenn man will, oder wo man abhängen
kann, im Warmen, im Trockenen….

Wer je gehört (oder erlebt) hat, wie entspannt und interessiert
KundInnen in Bremen, in Rheydt oder in Siegburg den Sonntag annehmen
oder angenommen haben (und dabei das lästige Kriterium der Ausleihe en
passent noch überproportional erfüllt haben, so möglich), der kann
nicht nicht öffnen wollen, der muss - auch aus Portfolio-Gründen (die
m.E. in dem Kontext wirklich nahezu  irrelevant sind) öffen können
dürfen….

Walter Umstetter liegt mit seiner steten Warnung vor einer einseitigen Freizeitausrichtung der Öffentlichen Bibliotheken m. E. ganz richtig. Kein Wunder, dass Gerichte sie jetzt umstandslos auf eine Ebene mit kommerziellen Videotheken stellen.

Nur wer Freizeit leben kann, kann auch Kraft und Inspiration zur
persönlichen Entwicklung und Entfaltung schöpfen. Und zur Ausrichtung
von Öffentlichen Bibliotheken: wenn der Unterhaltsträger eine
Freizeiteinrichtung will, und die BürgerInnen diese nutzen und
akzeptieren - was ist da denn schlecht dran? Wollen Sie lieber eine
Bibliothek, die in diesem Ort Regale vollgemüllt hat mit
intellektuellen Schriften mit in Ihrem Sinne relevanter Literatur, die
keine Sau interessiert und die als tote Hunde im Regal liegen?

Dann können Bibliothekare bald nicht mehr nur Sonntags von daheim am
Sofa grüssen….
Schöne, alte Welt….

Und: da ich ja gerne politisch bin - und auch ich gesellschaftliche
Relevanz in den Bibliotheken gerne höre, lese und erlebe - bietet
Politik und Öffentlichkeit doch auch sonntags einen Frühschoppen an -
die Bibliothek als moderne geistlich-geistige Institution - hätte doch
was, oder?

Darauf ein Kölsch auf unseren Berufsstand! Nüchtern sind wir oft nicht
zu ertragen *g*

Grüße…

TB



Schöne Sonntagsgrüße von
Peter Delin


Peter Delin und Ursula Müller-Schüssler
Ringstraße 100
12203 Berlin

Tel.: 030/81305675
Mobil: 015787311689
Mail: peter.delin@xxxxxx



Gesendet: Samstag, 29. November 2014 um 11:43 Uhr
Von: sebastian.pampuch@xxxxxxxxxx
An: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Betreff: Re: [InetBib] Keine Sonntagsöffnung mehr für Bibliotheken? -
Liebe Liste,

die Debatte um die Sonntagsöffnung von Öffentlichen Bibliotheken scheint in inetbib primär auf der Ebene Wissenschaft vs. Kirche geführt zu werden, gewerkschaftliche Positionen sind selten. Hier ein Link auf einen Leserbrief von mir in der ver-di Zeitschrift http://publik.verdi.de/2013/ausgabe-08/gesellschaft/briefe/seite-14/A1 sowie ein Link auf die ausschließlich negativen Reaktionen: https://publik.verdi.de/2014/ausgabe-01/gesellschaft/briefe/seite-14/A0[https://publik.verdi.de/2014/ausgabe-01/gesellschaft/briefe/seite-14/A0] Die Bücherhallenbewegung und ihre historischen Hintergründe sind vielen Gewerkschaftsmitgliedern, die in Bibliotheken arbeiten, entweder unbekannt oder nicht erwähnenswert. Ich würde mir einen Fokus wünschen, der auf die Frage abzielt, ob niedrigschwellige Bildungseinrichtungen wie Öffentliche Bibliotheken einen konstruktiven Beitrag zur politischen Bildung leisten können bzw. was genau die Gründe dafür sind, dass letzterer trotz sinkender Wahlbeteiligung, des Erstarkens rechtspopulistischer Parteien und des dauerhaft kriselnden Neoliberalismus so ein geringer Stellenwert beigemessen wird.

Viele Grüße,
Sebastian Pampuch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin









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