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Re: [InetBib] Schlechte Bücher? Publikationsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert als Herausforderung für Bibliotheken



Am 2013-09-11 08:44, schrieb Eberhardt, Joachim:
Hallo Herr Umstätter,

>> 3.     Die Halbwertszeit von 5 Jahren gilt nicht nur für die Informatik,
>> sondern sowohl für die wissenschaftliche Literatur, als auch
>> beispielsweise für die Belletristik, wie ich mal feststellen musste.
>
> Was meinen Sie damit, dass auch die Belletristik eine solche
> Halbwertszeit habe? Dass es 5 Jahre nach Erscheinen nicht mehr lohnt,
> die Hälfte der erschienenen literarischen Werke in die Hand zu nehmen?
> Oder meinen Sie etwas, das mehr messbar ist und weniger vom Geschmack
> abhängt, z.B. dass die Hälfte der literarischen Werke fünf Jahre nach
> Erscheinen faktisch nicht mehr in die Hand genommen wird?

Ich meine damit, dass auch in den Öffentlichen Bibliotheken die
Belletristik,
der letzten 5 Jahre so oft ausgeliehen wird, wie alle früher erschienen
Werke,
die sich in der Bibliothek befinden.
Die Erklärung verstehe ich nicht. Aber vielleicht würden Sie sagen,
dass eine Formulierung wie die folgende Ihren Gedanken wiedergibt?

Ein belletristisches Werk habe eine "bibliothekarische Halbwertszeit"
von 5 Jahren, wenn nach 5 Jahren die Zahl der durchschnittlichen
jährlichen Ausleihen vom Anfangswert auf die Hälfte gesunken ist. D.h.
wenn ein Medium, dass im Jahr seiner Anschaffung 20 mal ausgeliehen
wird, im 6. Jahr 10 mal ausgeliehen wird, hat es eine Halbwertszeit
von 5 Jahren, und wenn bei einem bestimmten Werk dies im Durchschnitt
auf alle Exemplare in allen öffentlichen Bibliotheken zuträfe, könnte
man diese "Halbwertszeit" auf das Werk als solches beziehen. Ungefähr
so?
Ja, und das gilt sowohl für die Zitationen als auch für die Benutzungen.

>> Ich
>> warne auch immer dringend davor anzunehmen, dass die Halbwertszeit in
>> den Geisteswissenschaften höher liegt, weil es bedeuten würde, dass
>> die
>> Erwerbungsetats dort gekürzt werden könnten.
>
> Ich kann da keinen notwendigen Zusammenhang erkennen.

Wenn die bereits vorhandene Literatur kaum veralten würde, wie manche
Philosophen behaupten,
müsste jede Generation immer nur das Selbe lesen, und kaum etwas neues,
was ja eindeutig nicht der Fall ist.


> Die Erwerbungsetats von der angenommenen "Halbwertszeit des Wissens"
> abhängig zu machen würde doch nur sinnvoll sein, wenn die Wissensmenge
> konstant bleibt, und daher hinzukommendes Wissen altes ersetzt. (D.h.
> ich nehme an, dass "Wissen veraltet" meint: "ist kein Wissen mehr").
> Dann bedeutet: längere Halbwertszeit, also weniger Wissenszuwachs,
> also weniger Geld.

Ich befürchte,Sie haben mich in einem Punkt falsch verstanden.
Nach meiner Einschätzung wächst und veraltet Wissen sehr viel langsamer
(möglicherweise linear,
weil wir auch sehr oft nur vorhandenes verfeinern) als die Obsoleszenz
der Information.
Darum unterscheide ich auch (im Gegensatz zu so vielen
Informationswissenschaftlern) möglichst genau zwischen unbegründeter
Information und
begründeter Information (Wissen), die genau genommen eine apriori
Redundanz ist, weil es sich um
Nachrichten handelt, die ich als Empfänger aus meinem vorhandenen Wissen
bereits richtig
voraussagen kann.)
Ihre Unterscheidung zwischen "unbegründeter" und "begründeter
Information" und Ihren Begriff der "apriori Redundanz" habe ich schon
in meiner Rezension Ihres Buches "Informationsflut und
Wissenswachstum" kritisiert
<http://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/2010-1.html>, 
weil weder Ihre
Verwendung von "apriori", noch Ihre Erläuterung, wie man sich diese Begründungsrelation vorzustellen hat, dort überzeugen.
Sie schreiben in Ihrer Rezension: „Wissen lässt sich eben nicht 
trainieren. Wie kommt Umstätter darauf?“ Das ist natürlich Unsinn, und 
darum habe ich das auch nie behauptet. Nur das ererbte Wissen lässt sich 
natürlich nicht trainieren. Es ist aber plastisch und darum kann es an 
unsere Umwelt angepasst und weiterentwickelt werden. Dass die Definition 
von Intelligenz, als ererbtes Wissen, so wie es sich aus Galtons 
Überlegungen ergab, in den Zeiten des Behaviorismus (USA) und des 
Kommunismus (UdSSR) verlorengegangen ist, weil man damals behauptete, es 
sei alles nur eine Frage der Erziehung, bis hin zu dem Unfug mit der 
„Gehirnwäsche“, wissen die heutigen Psychologen meist nicht mehr, und 
haben dann vor rund vierzig Jahre wiederentdeckt, dass die Intelligenz 
in den Intelligenztests zu 70-80% ererbt ist 
(www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/infopub/lectures/Intelligenz09.pdf)
Übrigens finden Sie es wirklich so verwunderlich, dass ein Professor 
sich manches an Wissen erarbeitet, was vor ihm noch keiner wusste, wenn 
Sie schreiben: „Die meisten Menschen“ liegen also falsch, aber Umstätter 
nicht!“ Es wäre doch schlimm, wenn das nicht so wäre. Darum schrieb doch 
Popper, dass Wissenschaft auf Falsifikation beruht. Dafür wurde (werde) 
ich doch auch bezahlt.
Sie haben also mit Ihrer Konsequenz völlig Recht, dass auch 
Pantoffeltierchen Intelligenz (also ererbtes Wissen) haben, sonst hätten 
sie nicht Jahrmillionen überlebt. Wie im Buch erwähnt hat auch schon K. 
Popper darauf hingewiesen, dass Pflanzen (und Tiere sowieso) ererbtes 
Wissen haben.
Im Prinzip ist doch die Feststellung, das Wissen begründet sein muss, 
seit den Griechen, über Descartes etc. längst bekannt. So stand es auch 
im Brockhaus. Neu ist doch nur das Fundament der Informationstheorie von 
Shannon, Weaver, Wiener ..., wodurch wir heute genauer Definieren 
können: Wissen ist begründete INFORMATION. Also eine Negentropie, die 
nur auf Wahrscheinlichkeit beruht. Darum gibt es auch kein absolut 
sicheres Wissen, aber durchaus sehr hoch gesichertes Wissen.
Es ist wirklich traurig, dass die meisten Menschen, wenn sie etwas nicht 
verstehen, gleich meinen es sei Unfug, und nur selten auf die  Idee 
kommen daraus etwas neu dazu zu lernen. Das war schon die Crux bei 
Sokrates, seiner Maieutik und der Folge mit dem Schierlingsbecher. Da 
bin ich doch froh, wenn ich heutzutage nur einen Buchverriss ernte ;-) 
Ansonsten danke ich Ihnen dafür, weil das noch immer besser ist, als das 
Totschweigen bzw. die Uncitedness 4.
In der Biologie unterscheidet man schon sehr lange zwei Arten von
Wachstum.
Das Größenwachstum und das Differenzierungswachstum. Beides gibt es in
der
Wissenschaft auch. Einerseits völlig neue Erkenntnisse und andererseits
Verfeinerungen, Relativierungen oder Falsifizierungen des bereits
bekannten Wissens.
Im Prinzip ist beim heutigen Alter der Wissenschaft der Anteil an
Differenzierung
und Relativierung (Falsifizierung im Sinne Poppers) der weitaus größere
Teil.
Ich glaube weniger, dass es bei den Natur- bzw. Geisteswissenschaften
hier große
Unterschiede gibt, da sie sich beide stark beeinflussen, wenn ich
beispielsweise
an die Philosophen denke, die mit Problemen wie Freier Wille
(Neurologie),
Abtreibung (ab wann ist Leben menschliches Leben), an die Historiker
(DNS-Identifikation, Radionuklide) etc. denke. Die Interdisziplinarität,
wie sie sich in Bradford's Law of Scattering zeigt, ist im Prinzip in
allen
Fächern sehr hochund ähnlich.

> Dem würde ich entgegenhalten, dass in den Geisteswissenschaften viele
> neu hinzukommende Erkenntnisse eben nicht alte ersetzen, sondern neben
> diese treten. Dass also der Wissensfortschritt in den
> Geisteswissenschaften mit dem Ersetz-Modell nicht gut beschrieben ist.
> Dass also die Halbwertszeit von geisteswissenschaftlichem Wissen
> länger ist. (Wenn man sich überhaupt der Metapher Halbwertszeit
> bedienen muss.) Dass also man trotzdem mit guten Gründen
> gleichbleibende Etatansätze fordern kann.

Das hat ja schon etliche Menschen gestört, die Halbwertszeit "aus der
Physik" in der
Szienntometrie zu verwenden. Es ist aber beeindruckend wie gut die
Verdopplungsrate
der Literatur und die e-Funktion der Halbwertszeit das literarische
Geschehen beschreibt.
Eigentlich ist es ja auch nur eine typische Abkling- bzw.
Verdopplungskurve.
Auch hier verstehe ich nicht, worauf Ihre Antwort hinauslaufen soll.
Warnen Sie jetzt eigentlich davor anzunehmen, dass in den
Geisteswissenschaften die "Halbwertszeit" länger ist, a) weil das
Ihrer Meinung nach falsch ist, oder b) weil das Ihrer Meinung nach zu
unerwünschten Ergebnissen führen würde? (Oder beides?)
a. Ist es falsch, weil die Wissenschaft insgesamt viel zu stark 
interdisziplinär
vernetzt ist, und b. führt es darum zu falschen Ergebnissen.

Und betrifft die Rede von der Halbwertszeit jetzt die "Information" oder das
"Wissen", oder sollte man nicht das auf veröffentlichte "Werke"
beziehen, um so etwas wie Zitathäufigkeit als Maß heranziehen zu
können?
Die Halbwertszeit betrifft die Information in den veröffentlichten 
Werken,
von der nur ein kleiner Teil Wissen ist, der nur sehr viel langsamer 
wächst
und veraltet - wahrscheinlich sogar nur linear, weil man Wissen auch in 
bit messen müsste,
und das ist bemerkenswerterweise kein lineares Maß wie Länge, Masse oder 
Zeit,
sondern ein logarithmisches Maß (www.ib.hu-berlin.de/~wumsta/dhb3.html).


MfG
Walther Umstätter

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