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Re: [InetBib] Schlechte Bücher? Publikationsmöglichkeiten im 21. Jahrhundert als Herausforderung für Bibliotheken



Hallo Herr Umstätter,

3. Die Halbwertszeit von 5 Jahren gilt nicht nur für die Informatik,
sondern sowohl für die wissenschaftliche Literatur, als auch
beispielsweise für die Belletristik, wie ich mal feststellen musste.

Was meinen Sie damit, dass auch die Belletristik eine solche
Halbwertszeit habe? Dass es 5 Jahre nach Erscheinen nicht mehr lohnt,
die Hälfte der erschienenen literarischen Werke in die Hand zu nehmen?
Oder meinen Sie etwas, das mehr messbar ist und weniger vom Geschmack
abhängt, z.B. dass die Hälfte der literarischen Werke fünf Jahre nach
Erscheinen faktisch nicht mehr in die Hand genommen wird?

Ich meine damit, dass auch in den Öffentlichen Bibliotheken die
Belletristik,
der letzten 5 Jahre so oft ausgeliehen wird, wie alle früher erschienen
Werke,
die sich in der Bibliothek befinden.

Die Erklärung verstehe ich nicht. Aber vielleicht würden Sie sagen, dass eine 
Formulierung wie die folgende Ihren Gedanken wiedergibt?

Ein belletristisches Werk habe eine "bibliothekarische Halbwertszeit" von 5 
Jahren, wenn nach 5 Jahren die Zahl der durchschnittlichen jährlichen Ausleihen 
vom Anfangswert auf die Hälfte gesunken ist. D.h. wenn ein Medium, dass im Jahr 
seiner Anschaffung 20 mal ausgeliehen wird, im 6. Jahr 10 mal ausgeliehen wird, 
hat es eine Halbwertszeit von 5 Jahren, und wenn bei einem bestimmten Werk dies 
im Durchschnitt auf alle Exemplare in allen öffentlichen Bibliotheken zuträfe, 
könnte man diese "Halbwertszeit" auf das Werk als solches beziehen. Ungefähr so?

Ich
warne auch immer dringend davor anzunehmen, dass die Halbwertszeit in
den Geisteswissenschaften höher liegt, weil es bedeuten würde, dass
die
Erwerbungsetats dort gekürzt werden könnten.

Ich kann da keinen notwendigen Zusammenhang erkennen.

Wenn die bereits vorhandene Literatur kaum veralten würde, wie manche
Philosophen behaupten,
müsste jede Generation immer nur das Selbe lesen, und kaum etwas neues,
was ja eindeutig nicht der Fall ist.


Die Erwerbungsetats von der angenommenen "Halbwertszeit des Wissens"
abhängig zu machen würde doch nur sinnvoll sein, wenn die Wissensmenge
konstant bleibt, und daher hinzukommendes Wissen altes ersetzt. (D.h.
ich nehme an, dass "Wissen veraltet" meint: "ist kein Wissen mehr").
Dann bedeutet: längere Halbwertszeit, also weniger Wissenszuwachs,
also weniger Geld.

Ich befürchte,Sie haben mich in einem Punkt falsch verstanden.
Nach meiner Einschätzung wächst und veraltet Wissen sehr viel langsamer
(möglicherweise linear,
weil wir auch sehr oft nur vorhandenes verfeinern) als die Obsoleszenz
der Information.
Darum unterscheide ich auch (im Gegensatz zu so vielen
Informationswissenschaftlern) möglichst genau zwischen unbegründeter
Information und
begründeter Information (Wissen), die genau genommen eine apriori
Redundanz ist, weil es sich um
Nachrichten handelt, die ich als Empfänger aus meinem vorhandenen Wissen
bereits richtig
voraussagen kann.)

Ihre Unterscheidung zwischen "unbegründeter" und "begründeter Information" und 
Ihren Begriff der "apriori Redundanz" habe ich schon in meiner Rezension Ihres 
Buches "Informationsflut und Wissenswachstum" kritisiert
<http://www.llb-detmold.de/wir-ueber-uns/aus-unserer-arbeit/texte/2010-1.html>, 
weil weder Ihre Verwendung von "apriori", noch Ihre Erläuterung, wie man sich 
diese Begründungsrelation vorzustellen hat, dort überzeugen.

In der Biologie unterscheidet man schon sehr lange zwei Arten von
Wachstum.
Das Größenwachstum und das Differenzierungswachstum. Beides gibt es in
der
Wissenschaft auch. Einerseits völlig neue Erkenntnisse und andererseits
Verfeinerungen, Relativierungen oder Falsifizierungen des bereits
bekannten Wissens.
Im Prinzip ist beim heutigen Alter der Wissenschaft der Anteil an
Differenzierung
und Relativierung (Falsifizierung im Sinne Poppers) der weitaus größere
Teil.
Ich glaube weniger, dass es bei den Natur- bzw. Geisteswissenschaften
hier große
Unterschiede gibt, da sie sich beide stark beeinflussen, wenn ich
beispielsweise
an die Philosophen denke, die mit Problemen wie Freier Wille
(Neurologie),
Abtreibung (ab wann ist Leben menschliches Leben), an die Historiker
(DNS-Identifikation, Radionuklide) etc. denke. Die Interdisziplinarität,
wie sie sich in Bradford's Law of Scattering zeigt, ist im Prinzip in
allen
Fächern sehr hochund ähnlich.

Dem würde ich entgegenhalten, dass in den Geisteswissenschaften viele
neu hinzukommende Erkenntnisse eben nicht alte ersetzen, sondern neben
diese treten. Dass also der Wissensfortschritt in den
Geisteswissenschaften mit dem Ersetz-Modell nicht gut beschrieben ist.
Dass also die Halbwertszeit von geisteswissenschaftlichem Wissen
länger ist. (Wenn man sich überhaupt der Metapher Halbwertszeit
bedienen muss.) Dass also man trotzdem mit guten Gründen
gleichbleibende Etatansätze fordern kann.

Das hat ja schon etliche Menschen gestört, die Halbwertszeit "aus der
Physik" in der
Szienntometrie zu verwenden. Es ist aber beeindruckend wie gut die
Verdopplungsrate
der Literatur und die e-Funktion der Halbwertszeit das literarische
Geschehen beschreibt.
Eigentlich ist es ja auch nur eine typische Abkling- bzw.
Verdopplungskurve.
 
Auch hier verstehe ich nicht, worauf Ihre Antwort hinauslaufen soll. Warnen Sie 
jetzt eigentlich davor anzunehmen, dass in den Geisteswissenschaften die 
"Halbwertszeit" länger ist, a) weil das Ihrer Meinung nach falsch ist, oder b) 
weil das Ihrer Meinung nach zu unerwünschten Ergebnissen führen würde? (Oder 
beides?) Und betrifft die Rede von der Halbwertszeit jetzt die "Information" 
oder das "Wissen", oder sollte man nicht das auf veröffentlichte "Werke" 
beziehen, um so etwas wie Zitathäufigkeit als Maß heranziehen zu können?

Schönen Gruß,

J. Eberhardt (Detmold)


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