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[InetBib] Wahrheit, Sichtbarkeit und Kontrolle
- Date: Wed, 2 Sep 2009 13:16:23 +0200 (CEST)
- From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Wahrheit, Sichtbarkeit und Kontrolle
Lieber Herr Ulmer, liebe Liste,
die Diskussion wird ja wieder vielschichtig. Ich möchte zwei Fäden aufgreifen.
1. Wahrheit
Dass wissenschaftliche Arbeiten auf Wahrheitssuche gerichtet sind, kann
vorausgesetzt werden. Sie wären sonst nicht wissenschaftlich. Wahrheitssuche
geschieht in der Wissenschaft kooperativ. Daher rührt das Interesse der
Wissenschaftler, mit ihren Arbeiten gesehen und wahrgenommen zu werden. Findet
eine wissenschaftliche Arbeit keine Aufmerksamkeit, dann kann sie zum
kooperativen Geschäft der Wahrheitssuche in der Wissenschaft keinen Beitrag
leisten. Wahrheitssuche und Sichtbarkeit hängen daher eng miteinander zusammen.
Sichtbarkeit hat auch andere Partner. Geldverdienen oder Eitelkeit. Für sich
genommen, ist sie neutral. Aber wenn ich nach Wahrheit suche und dies in
wissenschaftlichen Publikationen betreibe, dann komme ich um Sichtbarkeit nicht
umhin.
So gesehen würde ich dabei bleiben: Wissenschaftler wollen Sichtbarkeit und
Aufmerksamkeit. Zur Klarheit ergänze ich hier gerne: In ihrer
wissenschaftlichen Community.
Dieser Punkt scheint mir für die Frage der Rolle der Verlage der kritische
Punkt überhaupt zu sein. Im Vor-Internet-Zeitalter waren Verlage die einzigen,
die mir als Wissenschaftler Sichtbarkeit durch Publikation vermitteln konnten.
Heute kann ich das selbst organisieren. Wenn und soweit Verlage Sichtbarkeit
besser als ich selbst herstellen können, bleiben sie als Partner der
Wissenschaft interessant. Man darf aber bezweifeln, ob dazu die Kontrolle über
Inhalte für die gesamte Dauer des Urheberrechts wirklich nötig ist.
Daran entzündet sich jedenfalls in der Wissenschaft die Diskussion. Und sie
entzündet sich hier besonders, weil Wissenschaft für ihr Geschäft auf
Wahrheitssuche zwingend auf Schtbarkeit und damit auch auf möglichst
uneingeschränkte Zugänglichkeit zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion,
also zu Publikationen, angewiesen ist.
2. Kontrolle
Sie schreiben: "Zur Frage was Google und der Publikationszwang miteinander zu
tun
haben mache ich gerne noch einmal einen Versuch: es geht in beiden
Fällen um die Frage, ob der Autor die Entscheidungsfreiheit darüber
hat, wo und wie seine Arbeiten publiziert werden. Ich finde es
faszinierend, dass ein so simpler und offensichtlicher Zusammenhang
so konstant geleugnet wird."
Der von Ihnen aufgezeigte Zusammenhang besteht nur scheinbar. Angenommen, es
gäbe einen Zwang zu Open Access (den ich übrigens NICHT vertrete), dann hätten
wir einen bestimmten Text im Internet verfügbar. So wie auch bei goolge. Auf
den ersten Blick gibt es keinen Unterschied, auf den zweiten schon.
Wenn ich meinen Text auf dem Hochschulschriftenserver oder - mal angenomen, es
passt fachlich - in Ihrem Verlag publiziere, ist das doch nicht das gleiche!
Durch die Entscheidung für Ihren Verlag reihe ich mich ein in ein bestimmtes
Programm und einen bestimmten fachlichen Anspruch. Beides darf ich bei Ihnen
voraussetzen. Bei meinem Hochschulschriftenserver oder sonstwo im Internet ist
das nicht ohne weiteres der Fall.
Wenn nun mein bei Ihnen publizierter Text auch bei google erscheint, verliere
ich von der "Aura", bei Ihnen publiziert zu haben, rein gar nichts. Das einzige
was mich stören könnte, ist, dass Hinz und Kunz mich nun im Internet lesen
können. Ob mich das stört, wenn ich - sagen wir mal - über sehr komplexe
mathematische Probleme in Formeln geschrieben habe?
Jedenfalls ist das hier kein Problem der Wahl der Publikationsortes. Da war ich
ja frei: Ich habe Ihren Verlag gewählt. Es ist ein Problem der Kontrolle über
meinen Text.
Im analogen Zeitalter ist die Rechtsordnung da gnadenlos unbarmherzig. Dank des
Erschöpfungsgrundsatzes in § 17 UrhG kann mit meinem als Buch verkörperten Werk
jedermann machen, was er will. Ich muss es dulden, dass der Verlag einem
übellaunigen Rezensenten mein Buch schenkt, damit er mich in meiner
wissenschaftlichen Existenz durch eine böswilige Besprechung vernichtet. Es
muss es dulden, dass inkompetente Studierende mein Buch mit ihren dummen
Bemerkungen bekritzeln. Es muss es dulden, dass mein Buch bei irgendeiner
Resterampe zu einem Dumpingpreis angeboten oder bei eBay für kompromittierende
1,50 ? verschleudert wird. Alles das wird meinem Autoren-Ego, meinen
Persönlichkeitsrecht als Urheber zugemutet. Warum sollte mich als Autor dann
noch google stören?
Das ist höchstens eine Belästigung, eine Befindlichkeit - im Grunde ein Nichts.
Vielleicht geht es hier doch um etwas anderes? Im Online-Bereich kennen wir
keinen Erschöpfungsgrundsatz. Und technisch ist eine Kontrolle des Werkgenusses
denkbar. Ist es da nicht verlockend, all die Unannehmlichkeiten, die ich oben
beschrieben habe, durch technische Schutzmaßnahmen und rigide
Sichtbarkeitshemmnisse wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern? Und steckt
dahinter vielleicht gar nicht der Autor, sondern vielmehr der Verwerter, der am
Werkgenuss selbst kommerziell teilhaben will?
Aber diese Rechnung geht nicht auf. Wie im analogen Bereich, so gilt auch im
Online-Bereich: Ein bisschen öffentlich geht sowenig wie ein bisschen
schwanger. Entweder ich publiziere meinen Text, dann ist er im Prinzip für
jedermann sichtbar und jede Kontrolle ist illusorisch, oder ich lasse ihn in
der Schublade.
Viele Grüße
Eric Steinhauer
--
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