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Re: [InetBib] "Klassenrassismus"



Lieber Herr Steinhauer,

in ihrer Argumentation sehe ich einen Widerspruch zwischen 1. und 2.:

1. "Nennenswerte Bücherschätze und Bildungsanregungen gab es, abgesehen von einer positiven Grundeinstellung zu Lernen und Bildung, in meinem Elternhaus nicht. Den Zugang zu dazu haben mir die Schule und vor allem die Bibliotheken vermittelt. Hierfür bin ich zutiefst dankbar."

2. "Der Aussage, die gesellschaftlichen Umstände bestimmten die Neugier des einzelnen, kann ich nur mit großen Vorbehalten zustimmen. Abgesehen von wirklich pathologischen Umständen wie Sucht der Eltern oder häuslicher Gewalt ist es letztlich eine Entscheidung des einzelnen, ob er Bildung oder Ballermann will."

Heute ist die ersten Kinderstudie des christlichen Kinderhilfswerks World Vision für Deutschland von den Jugendforschern Sabine Andresen und Klaus Hurrelmann in aller Munde.
http://news.google.de/news?hl=de&ned=de&ie=UTF-8&q=world+vision&btnG=Suche

Und darin wird sehr deutlich, wie wichtig ein vielseitiges und anregendes institutionelles Umfeld gerade für Kinder aus der Unterschicht ist. Ihre eigene biographische Bemerkung zur Rolle von Schule und Bibliothek wird durch dieses Studie exakt bestätigt.

Diese Studie ist implizit auch eine perfekte Begründung für den Ausbau von Kinder- und Jugendbibliotheken besonders in sozialen Brennpunkten. Deutschland hat hier einen großen Nachholbedarf.

Viele Grüße
Peter Delin


Eric Steinhauer schrieb:
Liebe Frau Da Rin,

wer Bourdieu liest, kann auch simplere Text wie mein posting in
dieser Liste sicher richtig verstehen. Vielleicht haben Sie die
Anführungsstriche bei den Proleten übersehen? Unter diesen Begriff
Personen zu subsumieren, die aus bildungsfernen Schichten stammen,
gibt mein Text nicht her.

Mit Proleten sind - aus dem Kontext der Aussage - nicht Angehörige
irgendeiner Unterschicht gemeint, sondern ein Habitus. Wer sein
Studium allein aus Statusgründen betreibt ohne inneres Interesse an
der Sache, mag soziologisch Akademiker sein, nicht aber von seiner
Einstellung her. Der "Akademiker" vierter Generation
(Rechtsanwaltstocher oder Arztsohn) kann durchaus ein promovierter
"Prolet" sein. Man kann diese Spezies, die gerade den begüterteren
Elternhäusern entstammt (hier wären auch die Aussagen der von Ihnen
erwähnten Hochschulforschung anzusiedeln) und sich in Kleidung und
Verhalten sehr statusbetont gibt, an unseren Universitäten,
insbesondere an der juristischen Fakultät gut beobachten.

Wenn Sie also Begriffe als vemeintlich politisch inkorrekt
kritisieren, so jedenfalls fasse ich Ihre Schelte des
"Klassenrassismus" auf, sollten Sie zunächst Ihr eigenes
Vorverständnis hinterfragen. Man erliegt leicht der Versuchung,
dieses an die Stelle des im Text Gemeinten zu setzen.

Um Ihr Bild des "Klassenrassisten" ein wenig ins Wanken zu bringen,
erlaube ich mir eine kleine biographische Anmerkung in eigener Sache:
In meiner Familie gibt es weder väterlicher- noch mütterlicherseits
irgendwelche studierten Personen oder gar Abiturienten. Mein Vater
war weitergebildeter Hilfsarbeiter ohne Berufsausbildung, mein
bereits verstorbener Halbbruder KFZ-Schlosser ohne Schulabschluss.
Nennenswerte Bücherschätze und Bildungsanregungen gab es,
abgesehenvon einer positiven Grundeinstellung zu Lernen und Bildung,
in meinem Elternhaus nicht. Den Zugang zu dazu haben mir die Schule
und vor allem die Bibliotheken vermittelt. Hierfür bin ich zutiefst
dankbar.

Der Aussage, die gesellschaftlichen Umstände bestimmten die Neugier
des einzelnen, kann ich nur mit großen Vorbehalten zustimmen.
Abgesehen von wirklich pathologischen Umständen wie Sucht der Eltern
oder häuslicher Gewalt ist es letztlich eine Entscheidung des
einzelnen, ob er Bildung oder Ballermann will. Der Prolet im Geiste
wird Ballermann wählen, mag er finanziell auch begütert sein und
seine intellektuelle Dürftigkeit mit akademischen Feigenblättern
schmücken.

Die von mir hier gebrauchte Differenzierung zwischen Akademiker im
soziologischen und im eigentlichen Sinn ist übrigens nicht neu. Da es
in dieser Diskussion guter Brauch geworden ist, dem geneigtem
Publikum Bücher und Texte zur weiteren Lektüre zu empfehlen, will ich
nicht nachstehen: Josef Pieper, Was heißt akamisch?, in: ders., Werke
in acht Bänden, Bd. 6, Hamburg 1999, S. 72 ff.

Eric Steinhauer





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