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Re: [InetBib] Wikipedia: Ein Leuchtfeuer, das laufend seine Position ändert ... NZZ 20.1.2006



Liebe Leserinnen und Leser der Liste,

normalerweise "lurke" ich hier nur mangels tieferer Kenntnisse der hier 
verhandelten Materie, zum Thema Wikipedia darf ich mich aber durchaus kundig 
schätzen, insofern ein paar Anmerkungen zur letzten Mail von Constantin 
Cazan:

Ich kenne keine Enzyklopädie, die eine endgültige Referenz bietet, weil es
wahrscheinlich nur wenige Dinge auf der Welt gibt, über die global Konsens
besteht. Es gibt immer verschiedene Wahrheiten.

Es ist auch nicht Aufgabe der (heutigen) Enzyklopädie, *letztgültige* 
Wahrheiten zu geben, sondern *brauchbare*. Doch allein für die Enzyklopädie 
als "Handwerkszeug", mit der Aufgabe, verlässliche Einstiegsquelle zu sein, 
wäre ein wechselndes inhaltliches Niveau der Wikipedia problematisch. Das 
angesprochene Problem, ein wechselndes Niveau oder eine wechselnde 
Positionierung, kann ich an der Wikipedia jedoch nicht erkennen. Beide sind 
relativ stabil, das Niveau fällt im Durchschnitt eher ab (in einigen 
Bereichen steigt es zugegebenermaßen), die Positionierung ist eher 
links-esoterisch-wissenschaftsjournalistisch als wissenschaftlich. Das 
Problem liegt darin, dass gute Inhalte bunt mit schlechten gemischt sind, und 
zwar häufig innerhalb eines Artikels in einer Form, bei der ein 
Auseinanderklauben von Spreu und Weizen nur noch für Fachleute möglich ist - 
die nutzen eine Enzyklopädie in ihrem Fachgebiet aber nicht in Form einer 
Einstiegsquelle, sondern wenn, dann in Form einer Fachenzyklopädie bezogen 
auf wirklich sehr detaillierten Informationsbedarf - dafür reicht wiederum 
das Niveau der Wikipedia bei weitem nicht aus.

Auch ein anerkanntes Universal-Lexikon gibt strenggenommen in jedem Lexem
die _Meinung_ einer Lexem-Autorin oder einer Redaktion wider.
Das ist keine absolute zu handabende Wahrheit.

Das ist eine gern geäußerte Meinung, aber sie wird deshalb nicht richtiger. 
Sieht man sich aber durchschnittliche Artikel an, dann wird man feststellen, 
dass bspw. der Brockhaus wesentlich sachlicher schreibt als die Wikipedia - 
obwohl die sich den "neutralen Standpunkt" explizit auf die Fahne schreibt.

Der in Nature publizierte Test ist imho für mich überraschend toll für
Wikipedia ausgegangen -

Das blanke Zahlenmaterial des Nature-Tests ist wenig aussagekräftig. Sieht man 
sich die Stellungnahmen der Peer-Reviewer im Detail an 
(http://fftw.org/~stevenj/Nature-reviews.doc), stellt man fest, dass sich auf 
der Britannica-Seite i.d.R. Formulierungen finden wie "I would not use the 
term", "A very minor error is", "and does not necessarily mean that in common 
parlance", "It’s stretching things a bit to say ", etc.

Auf Wikipedia-Seite dagegen überwiegen Formulierungen wie "inaccurate and 
poorly written", "I have no idea what this following statement means", "This 
is an awful set of sentences", "The entry is on the verge of bias, at least", 
"The statement [...] is rubbish", "The entry is rather imprecise", "I’ve 
never heard of this division", "shades of Jurassic Park here", "perpetuates 
several media myths". Und der schönste: "The big problem with this one is 
that it really hardly says anything about epitaxy" (zum Artikel Epitaxy).

Generell scheinen die Anmerkungen auf Britannica-Seite entweder sehr 
detailbezogen zu sein ("man könnte an dem oder jenem Punkt deutlicher 
formulieren"), oder vorwiegend Hinweise zu *Lücken* zu sein. Bei Wikipedia 
sind die Hinweise aber durch die Bank Hinweise auf richtig dicke Fehler

Die Menschen wünschen sich absolute Sicherheit und Bestimmbarkeit. Diese
gibt es nicht! Panta rhei.

Mag schon sein. Eine brauchbare Enzylopädie (verstanden als Handwerkszeug, 
nicht als theoretisches Konzept) hat jedoch die Aufgabe, möglichst 
verlässlich möglichst kompakt möglichst neutral dem Leser *die Auswahl 
abzunehmen*. Wenn man sich selbst ein verlässliches Bild machen möchte, kuckt 
man in Primär- oder Sekundärliteratur. In Tertiärliteratur wie Enzyklopädien 
sieht man in Situationen, in denen man sich darauf verlassen kann, dass 
andere die richtige Auswahl bereits getroffen haben. Medienkompetenz heißt 
eben nicht, *grundsätzlich* mehrere Quellen zu bemühen, sondern zu wissen, 
wann eine einzige ausreicht und wann nicht. Die Aussagen der Wikipedia, man 
müsse Medienkompetenz besitzen, sich nie nur auf eine Quelle verlassen etc., 
sind im Grunde nur Euphemismen dafür, dass sie ihren Zweck, in bestimmten 
Situationen verlässliche *alleinige* Quelle zu sein, verfehlt.

Ulrich Fuchs
Wikiweise



Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.