[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]
Re: [InetBib] DNB, die "schlechteste Nationalbibliothek der Galaxis" (Graf), laesst einmal mehr URN-Links ins Leere laufen
- Date: Wed, 31 May 2023 10:50:38 +0200
- From: Heidrun Wiesenmüller via InetBib <inetbib@xxxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] DNB, die "schlechteste Nationalbibliothek der Galaxis" (Graf), laesst einmal mehr URN-Links ins Leere laufen
Lieber Kollege Gödert,
ehrlich gesagt fällt es mir schwer, einen Zusammenhang zwischen
technischen Ausfällen aufgrund einer DoS-Attacke und der Qualität der
Erschließung in der DNB zu erkennen.
Und: Ich bin zwar gewiss nicht glücklich über alle strategischen
Entscheidungen, die in den letzten Jahren an der DNB getroffen worden
sind, empfinde jedoch ein pauschales DNB-Bashing als sachlich
unangemessen und persönlich unfair. Ich arbeite in den Expertengremien
und zuletzt im großen Projekt zum Aufbau der neuen
Dokumentationsplattform RDA DACH eng mit vielen DNB-Kolleg:innen
zusammen und erlebe diese als hochengagiert, sehr kompetent und sich
leidenschaftlich für die Erschließung einsetzend.
Einige Gedanken zu Ihren in der Tat etwas kryptischen Ausführungen
(wobei ich mutmaße, dass es Ihnen primär um Sacherschließung geht und
Sie mit der eigenartigen Fokussierung auf "Daten" eigentlich maschinelle
Erschließungsformen meinen).
1. Ich stimme zu, dass Erschließung zu wenig Lobby hat und ihr nicht die
nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird, obwohl sie weiterhin eine zentrale
Grundlage sehr vieler Bibliotheksdienstleistungen ist. Bei der DNB
beobachte ich dies aber weniger als bei vielen "normalen" WBs, an denen
Erschließungsarbeit nicht mehr sonderlich wertgeschätzt, teilweise auch
heruntergefahren wird.
2. Um eine gute Erschließung unserer Ressourcen zu erreichen, ist die
DNB zwar sicher ein wichtiger Player, aber eben keineswegs der einzige.
Es ist leider trotz vereinzelter Ansätze in den vergangenen Jahren nicht
gelungen, ein System mit verteilten Verantwortlichkeiten zu entwickeln,
um sicherzustellen, dass die in der Breite vorhandenen Ressourcen
möglichst effizient und effektiv eingesetzt werden (noch immer werden
manche Ressourcen mehrfach an unterschiedlichen Stellen erschlossen und
andere gar nicht).
3. Bei der DNB besteht - wie bei anderen Nationalbibliotheken auch - ein
erhebliches Missverhältnis zwischen den vorhandenen Ressourcen und den
immer größer werdenden Aufgaben. Auch andere Nationalbibliotheken
reagieren auf dieses Spannungsverhältnis. So habe ich schon vor Jahren
gehört, dass die British Library erhebliche Teile der Katalogisierung
nach Indien outgesourct hat. Und die Schweizerische Nationalbibliothek
beschränkt sich (wenn ich es richtig im Kopf habe, ansonsten möge man
mich bitte korrigieren) bei der Sacherschließung mittlerweile im
Wesentlichen auf die Helvetica.
4. Eine hochwertige intellektuelle Erschließung des kompletten Bestands
ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen illusorisch. Es ist klar, dass
zum einen ein Methodenmix zum Einsatz kommen muss, der auch maschinelle
Anteile enthält, und zum anderen abgewogen und entschieden werden muss,
welche Teile des Bestands wie erschlossen werden sollen. Beides sind
schwierige Fragen, bei denen man sicher auch zu unterschiedlichen
Antworten kommen kann. Ich persönlich würde mir hier eine breite
Diskussion in der ganzen Community wünschen (vereinzelt ist dies auch
schon passiert, müsste aber m.E. verstärkt werden).
5. Ich bin bekannt als jemand, die maschinelle Indexierungsverfahren
kritisch betrachtet und begleitet. Nichtsdestoweniger ist auch für mich
klar, dass wir ohne sie nicht auskommen werden. Und erfreulicherweise
geht die Entwicklung durchaus voran. Gerade erst hat Frau Mödden auf der
BiblioCon vom aktuellen KI-Projekt der DNB berichtet (Abstract siehe
https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/index/index/searchtype/collection/id/17536/start/211/rows/20/sortfield/author/sortorder/asc/docId/18444).
Zu den rein maschinellen Methoden kommen zahlreiche Entwicklungen, die
intellektuelle Erschließung und maschinelle Verfahren kombinieren - z.B.
die diversen Tools, die in der VZG entwickelt werden (Abstract und
Folien siehe https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0290-opus4-184278).
Die große Aufgabe ist es m.E., ein Gesamtkonzept für die in meinen
Punkten 2., 4. und 5. angerissenen Aspekte zu entwickeln. Und dies ist
nicht nur eine Aufgabe der DNB, sondern eine der ganzen Community.
Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller
Am 30.05.2023 um 19:17 schrieb Winfried Gödert via InetBib:
Der Beitrag von Klaus Graf vom 26.05.2023 hat im Rahmen der Liste
bislang keine offene Reaktion hervorgerufen. Daher will ich die Lücke
füllen, auch wenn dies von manchem als Stimme aus der Gruft empfunden
werden könnte. Die von Klaus Graf angesprochenen Sachverhalte
verdienen über ihre spezifischen Aussagen hinaus mehr als nur eine
oberflächliche Wahrnehmung. Nun bin nicht ich die Instanz, dies in
Einzelheiten auszubreiten, ich kann nur auf einen Zusammenhang mit
einem anderen Thema verweisen, das sich als vormals zentrales
bibliothekarisches Handlungsfeld seit Jahren auf einer schiefen Ebene
abwärts befindet und dessen Standards allenfalls noch im Sinne eines
historischen Vermächtnisses betrachtet, nicht aber mit Potenzial für
eine Zukunftsgestaltung eingeschätzt werden. Das Thema heißt
Erschließung. Der Zusammenhang ergibt sich über die Frage, ob es
empfehlenswert ist, die Gestaltung bibliothekarischen Handelns so
ausschließlich wie derzeit an das neue Datenparadigma zu binden und
dabei die Abbildung von Zusammenhängen zu vernachlässigen.
Erschließung als bibliothekarische Kerndisziplin
(Alleinstellungs-Kompetenz ?) sollte in einem umfassenden Verständnis
den Zugang zu Informationsträgern und ihren Inhalten schaffen, dabei
Strukturen sichtbar machen und insbesondere stabile (!) Zusammenhänge
zwischen Daten und den durch sie repräsentierten Inhalten herstellen
und zur Verfügung stellen. Mit einer Vorstellung, Inhalte durch Daten
zu ersetzen und alles für das bibliothekarische Handeln Notwendige aus
reinen Daten zu generieren, kann die Bearbeitung einer solchen Aufgabe
nicht gelingen. Eine neue Interpretation des alten
Erschließungsverständnisses zu entwickeln und auf andere
Handlungsfelder zu übertragen, wäre vielleicht ein nützlicherer
Beitrag zur Stabilisierung bibliothekarischen Handelns, als
wechselnden Zeitströmungen nachzulaufen. Fazit: Das Ausmaß, in dem
diese Bemerkungen als kryptisch oder gar unverständlich empfunden
werden, kann als Messwert für die Distanz gelten, die sich inzwischen
zu ehemals leitenden Prinzipien eingestellt hat.
Winfried Gödert
--
---------------------
Prof. Heidrun Wiesenmüller M.A.
Hochschule der Medien
Studiengang Informationswissenschaften
Nobelstr. 10, 70569 Stuttgart
Tel. dienstl.: 0711/8923-3188
Tel. Home Office: 0711/36565868
www.hdm-stuttgart.de/iw
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.