Liebe Frau Haase,
angeregt durch Ihre Mail habe ich mal in der Festschrift für den VDB von 2000
(http://swb.bsz-bw.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=160922244X&INDEXSET=21) und der
Festschrift zum 100. Bibliothekartag von 2011
(http://swb.bsz-bw.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=658489283&INDEXSET=21) geblättert -
da ist einiges Interessante zu finden.
In der ersten Satzung des VDB von 1900 wurden die Jahrestagungen als
Hauptanliegen definiert: § 1: „Der Verein hat den Zweck, den Zusammenhang
unter deutschen Bibliothekaren zu pflegen und die Interessen des
Bibliothekswesens zu fördern." § 2: „Zur Erreichung des Zweckes dienen
vornehmlich jährliche Versammlungen der Mitglieder." (Beitrag Yorck Alexander
Haase in Festschrift VDB, S. 81). Haase schreibt auf S. 82 weiter: „Offiziell
firmierten die Tagungen zunächst als „Versammlung Deutscher Bibliothekare",
ab 1929 als „Versammlungen des Vereins Deutscher Bibliothekare". Die
Bezeichnung „Bibliothekartag" setzte sich sehr zögernd durch. Sie tauchte
erstmals in der Vorankündigung zur 9. Versammlung Deutscher Bibliothekare
1908 in Eisenach auf. Die Berichterstattung über die Bibliothekartage im
Zentralblatt für Bibliothekswesen erschien jedoch weiterhin bis 1939 unter
der Überschrift „... Versammlung (des Vereins) Deutscher Bibliothekare"."
In der Stabi Berlin gibt es eine Sammlung von Akzidenzdrucksachen von 1900
bis 1939 (vgl. Beitrag Hollender in Festschrift Bibliothekartag), deren
nähere Durchsicht sicher ergiebig wäre. Der Fachreferent, der das damals
initiiert hat, spricht in seinem Aufruf (der sich übrigens an die „Herren
Kollegen" richtete) von den „Bibliothekarversammlungen" (Hollender, S. 50).
Auf das Wort waren Sie ja auch schon gestoßen und es ist für mich ein
weiteres Indiz dafür, dass „Bibliothekar" hier ein verkürzter Plural ist.
Anders kann man es m.E. nicht interpretieren, denn es hat sich ja nicht nur
*ein* Bibliothekar versammelt ;-) In der Einladung nach Erfurt 1924 werden
die Wörter „Bibliothekartag" und „Versammlung" parallel verwendet: „(...) ist
die Beteiligung an den Bibliothekartagen seit 1920 von Versammlung zu
Versammlung gestiegen".
Im Vorwort des Tagungsberichts zu Hamburg 1946 wird von der „Hamburger
Bibliothekartagung" gesprochen (Beitrag Dittrich in Festschrift
Bibliothekartag, S. 241). Auch hier kann m.E. der erste Teil nur ein
verkürzter Plural sein.
Die Teilnahme von Frauen wurde offenbar schon 1905 und 1913 thematisiert:
„Die Satzung erwies sich als ziemlich stabil; lediglich zur Frage, ob aus ihr
zu entnehmen sei, „dass gegen die Teilnahme von Damen, die im
bibliothekarischen Berufe stehen, an den Bibliothekartagen nichts einzuwenden
ist", ergab sich bei zwei Anlässen „eine längere Debatte"." (Beitrag Knudsen
in Festschrift VDB, mit Verweis auf ZfB 22, 1905, S. 491, und ZfB 30, 1913,
S. 442).
Damit ist auch klar, dass der Name "Bibliothekartag" schon vor 1908 zumindest
vereinzelt verwendet worden sein muss. Die Stelle von 1905 ist hier:
http://www.digizeitschriften.de/dms/resolveppn/?PID=PPN338182551_0022%7Clog128
Wichtig außerdem der Beitrag von Dagmar Jank, „Frauen im Höheren
Bibliotheksdienst vor dem Zweiten Weltkrieg" (in Festschrift VDB, S. 302ff.).
In Sachsen war der Zugang zum hD für Frauen seit 1919 möglich, in Preußen
seit 1921 - in der Praxis war das aber wohl nicht so einfach.
Vielen Dank für Ihre Überlegungen zu den Aspekten „Tradition" und „Marke".
Ich glaube, das ist ein sehr komplexes und vielschichtiges, sicher teilweise
auch sehr persönliches Thema - ich tue mir jedenfalls schwer damit, auf der
Liste etwas dazu zu schreiben.
Eine „Meta-Überlegung" noch: Trotz aller „Tradition" hat sich der
Bibliothekartag gegenüber seinen Ursprüngen natürlich ungemein verändert und
entwickelt sich immer noch weiter. Ich kann das in meiner eigenen
„Bibliothekartags-Historie" beobachten, die im Jahr 1999 beginnt. Damals gab
es fast nur Vortragssessions, mittlerweile haben wir eine Vielfalt von
Formaten, z.B. Poster-Sessions und Hands-on Labs. Und der hybride
Bibliothekartag 2021 war nach meiner Einschätzung der modernste und
zugänglichste Bibliothekartag aller Zeiten. Die enorme Leistung der
Organisator:innen, die das unter schwierigen und unsicheren Bedingungen auf
die Beine gestellt und umgesetzt haben, geht jetzt leider ein bisschen unter.
Wichtig erscheint es mir auch, auf die Inhalte zu schauen. Wenn also
beispielsweise Fachangestellte sich von der Tagung nicht angesprochen fühlen,
liegt das wirklich primär am Namen oder eher daran, dass sie ein für sie
maßgeschneidertes Programm vermissen? Auf dem DACH-Discordserver hat dieser
Tage jemand ein „FaMI-Spotlight" vorgeschlagen, was ich eine bedenkenswerte
Idee finde.
Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller
Am 01.07.2021 um 20:18 schrieb Frau Haase via InetBib:
Liebe Frau Wiesenmüller, vielen Dank für diese spannende Ausführung.
Vielleicht können Sie meine Fragen zur Geschichte des Namens
beantworten. Ab wann der Name "Bibliothekartag" benutzt wurde, habe ich
noch nicht genau herausgefunden. Zu "Bibliothekarstag" gab es ja schon
eine interessante Quelle (vielen Dank dafür :-) ), die vermuten lässt,
das dies eine Fremdzuschreibung ist.
Im Zentralblatt für Bibliothekswesen habe ich folgende frühere
Bezeichnungen von Zusammenkünften der Bibliotheksbeschäftigten gefunden
gefunden:
Die Idee zu einer Versammlung des bibliothekarischen Berufsstandes
brachte Förstemann hier 1884 vor - s. Zentralblatt für Bibliothekswesen
1884 Seite 7. Es wird Bezug auf andere berufsständische Versammlungen
genommen und es ist nur von Männern und von einer Versammlung die Rede.
Frauen gab es in diesem Beruf noch nicht.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN338182551_0001|log11&physid=phys21#navi
Milkau berichtet 1897 über den "Bibliothekar-Kongress" in London. Er
übersetzt "Congress of Librarians" mit "Bibliothekar-Kongress"
(Maskulinum oder Wortstamm?) - s. Zentralblatt für Bibliothekswesen 1897
Seite 454. Auf Seite 459 merkt er (kritisch oder neugierig?) an, dass
auf diesem Kongress nicht nur „zünftige Bibliothekare" anwesend waren,
sondern auch Politiker, „Gönner" und Frauen.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN00025827X
Bericht über die erste deutsche "Bibliothekarversammlung" - s.
Zentralblatt für Bibliothekswesen 1897 Seite 472. Es versammelten sich
Männer, die dem bibliothekarischen Berufsstand angehörten. Interessant
im Bericht ist, dass die Bibliothek als „Inhaberin" des Gebäudes
bezeichnet wird. Zu jener Zeit waren die Menschen offenbar sehr
genderbewusst. Aber ist „Bibliothekar" in „Bibliothekarversammlung ein
Maskulinum oder ein Wortstamm? Frauen gab es in deutschen Bibliotheken
immer noch nicht.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000258377
Bericht über die "Versammlung deutscher Bibliothekare" und Gründung des
"Vereins deutscher Bibliothekare" 1900 - s. Zentralblatt für
Bibliothekswesen 1884 Seite 337. Es gibt die Wörter
„Bibliothekarversammlung" und „Bibliothekarverein". Ob das die von Ihnen
beschriebene Kürzung auf den Wortstamm ist, kann ich nicht beurteilen.
Ansonsten ist im Bericht eindeutig nur von Männern die Rede.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000260614
Weiter bin ich mit dieser herrlichen Lektüre noch nicht gekommen. Wie es
mit den Frauen und den bibliothekraischen berufsständischen
Vereinigungen weiterging hatte Karin Aleksaner 2011 kurz zusamengefasst,
als wir uns schon einmal mit dem Namen unserer Veransatltung beschäftigt
haben. Nachzulesen hier
https://www.vdb-online.org/wordpress/wp-content/uploads/2012/01/VDB_Blog_Namens%C3%A4nderung-12.pdf
Was mir jetzt deutlich wird, ist die große Bedeutung der Berufsstände
und der Standeszugehörigkeit sowie der damit verbundenen Würden und
Privilegien zu jener Zeit.
Wenn bei der von Nik Baumann nun erneut angestoßenen Diskussion (ganz
herzlichen Dank dafür!) einige Kolleg:innen von Marke und Tradition
schreiben, möchte ich fragen, um welche Tradition es Ihnen dabei geht?
Zum Thema Marke sind hier stichhaltige Argumente aufgeführt
https://www.openpetition.de/petition/argumente/zeitgemaesser-name-fuer-den-bibliothekartag
. Tradition und Rituale sind mir auch sehr wichtig. Sie sind notwendig,
um uns Menschen Stabilität und Verläßlichkeit zu geben. Dennoch ist es
wichtig, sie immer wieder zu hinterfragen. Welche Tradition also? Die
Tradition, sich einmal im Jahr zum Fachaustausch zu treffen? (Find ich
gut) Die Tradition einmal im Jahr zu reisen und sich kollegial zu
besaufen? (Ist mir wurscht) Die Tradition, seinen Stand zu bestätigen
und sich von anderen abzugrenzen? (Find ich überholt und sogar
gefährlich). Welche noch? Und was davon benötigt welchen Namen?
Da die Veranstaltung von den berufsständischen Vereinigungen VDB und BIB
getragen wird, ist die zentrale Frage wohl: welchen Beruf oder welche
Berufe vetreten die Vereinigungen und für wen organisieren sie das
Treffen?
Viele Grüße aus Berlin
Jana Haase