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Re: [InetBib] Bibliothekar*tag



Liebe Frau Wiesenmüller, 

vielen Dank für die Gedanken und Quellen. Da werde ich mal den Lesesaal
der Stabi besuchen. 

Fachfrauen nahmen laut dem Zentralblatt erstmals 1911 an der Versammlung
teil. Es fand dann auch immer im Rahmen der Veranstaltung nicht nur die
Mitgliederversammlung des VDB, sondern auch die des Vereins
bibliothekarisch arbeitender Frauen statt. 

Den Begriff "Bibliothekartag" habe ich erst im Jahrgang 1908 gefunden.
Es wird zu Beginn des Jahres zur Bibliothekarversammlung um Pfingsten
und zum Einreichen von Beiträgen aufgerufen. In einem folgenden Heftgibt
es eine Art Anzeige mit der Überschrift "Deutscher Bibliothekartag" und
der Nennung der eingereichten Beiträge. In der zweiten Jahreshälfte sind
dann die Liste der Anwesenden und die Berichte abgedruckt unter der
Überschift Bibliothekarversammlung. So geht es einige Jahre weiter - wie
in der Festschrift auch beschrieben. 

Im Mittelalter gab es meist um Pfingsten bei den verschiedenen
Handwerken den Zunfttag, bestehend aus einer Art Mitgliederversammlung
und Wirtschaftsprüfung, Reden, Trinken und Singen. Im 19. Jahrhundert
verliert sich wegen der neuen liberalen Wirtschaftsordnung diese
Tradition an vielen Orten. Sie wird dann im 20. Jahrhundert aus eher
folkloristischen Motiven neu belebt. Interessant ist, dass die "Tage"
der freien und wissenschaftlichen Berufe wie Juristentag, Historikertag
usw. Mitte des 19. Jahrhunderts beginnen, als die alten Zufttage an
Bedeutung verlieren. Das ist jetzt alles ohne Belege und mehr aus meinem
Ethnologiestudium frei erinnert. Es kann sein, dass der Name
Bibliothekartag in den Jahren, in denen er sich durchsetzt auch etwas
mit einer Art nationalem Brauchtum zu tun hat. Ob solche Veranstaltungen
zu der Zeit irgendwo angemeldet und genehmigt werden mussten und falls
ja, ob dazu bestimmte Namen von Vorteil waren, weiß ich nicht. Das
wüssten vielleicht Leute, die sich mit Rechtsgeschichte beschäftigen. 

Ich persönlich hatte das "Bibliothekar" in Bibliothekartag bisher immer
als maskulin wahrgenommen und für Bibliothekstag oder
Bibliothekskongress plädiert. Das Zusammenkommen und der fachliche
Austausch sind mir dabei wichtig. Und das ist für mich besonders
interessant, wenn möglichst unterschiedliche Menschen mit vielfältigen
Erfahrungen zusammenkommen. 

Im BIB und im VDB können ja inzwischen alle Bibliotheksbeschäftigten
Mitglieder werden. Verbandsnamen, verbandsstrukturen und Satzungen
wurden in den letzten Jahrzehnten dahingehend entwickelt und angepasst.
Die Anpassung des Tagungsnamens wäre ein logischer nächster Schritt. Ich
denke ein inkludierender Name signalisiert Offenheit für die Teilnahme
aller Beschäftigten in Bibliotheken und auch für Firmen, Interessierte
und Fördernde. Er allein garantiert natürlich nicht, dass z.B. FaMIs
teilnehmen. Werbung durch die Verbände, Motivation durch Vorgesetzte,
Freistellung, machbare Kostenmodelle, Beteiligung an Projekten und
vieles mehr sind nötig. Querschnittsthemen für die verschiedenen
Professionen, First-Timer-Treffen, Fragestellungen und Formate der FaMIs
innerhalb des Tagungsprogramms sind wichtig. Ein FaMI-Spotlight wie Sie
es erwähnen wäre eine gute Idee. 

Ich denke inhaltlich ist die Veranstaltung schon auf einem guten Weg und
das hybride Format war wirklich ein Meilenstein. Dass die jungen
Kolleg:innen mit ihrer Petition die Namensdiskussion neu angestoßen
haben, zeigt nach meinem Eindruck das breite Interesse an der Tagung.
Ich bin also gespannt, wie es weitergeht. 

Viele Grüße 

Jana Haase aus Berlin 

Am 2021-07-02 10:00, schrieb Heidrun Wiesenmüller via InetBib:

Liebe Frau Haase,

angeregt durch Ihre Mail habe ich mal in der Festschrift für den VDB von 2000 
(http://swb.bsz-bw.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=160922244X&INDEXSET=21) und der 
Festschrift zum 100. Bibliothekartag von 2011 
(http://swb.bsz-bw.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=658489283&INDEXSET=21) geblättert - 
da ist einiges Interessante zu finden.

In der ersten Satzung des VDB von 1900 wurden die Jahrestagungen als 
Hauptanliegen definiert: § 1: „Der Verein hat den Zweck, den Zusammenhang 
unter deutschen Bibliothekaren zu pflegen und die Interessen des 
Bibliothekswesens zu fördern." § 2: „Zur Erreichung des Zweckes dienen 
vornehmlich jährliche Versammlungen der Mitglieder." (Beitrag Yorck Alexander 
Haase in Festschrift VDB, S. 81). Haase schreibt auf S. 82 weiter: „Offiziell 
firmierten die Tagungen zunächst als „Versammlung Deutscher Bibliothekare", 
ab 1929 als „Versammlungen des Vereins Deutscher Bibliothekare". Die 
Bezeichnung „Bibliothekartag" setzte sich sehr zögernd durch. Sie tauchte 
erstmals in der Vorankündigung zur 9. Versammlung Deutscher Bibliothekare 
1908 in Eisenach auf. Die Berichterstattung über die Bibliothekartage im 
Zentralblatt für Bibliothekswesen erschien jedoch weiterhin bis 1939 unter 
der Überschrift „... Versammlung (des Vereins) Deutscher Bibliothekare"."

In der Stabi Berlin gibt es eine Sammlung von Akzidenzdrucksachen von 1900 
bis 1939 (vgl. Beitrag Hollender in Festschrift Bibliothekartag), deren 
nähere Durchsicht sicher ergiebig wäre. Der Fachreferent, der das damals 
initiiert hat, spricht in seinem Aufruf (der sich übrigens an die „Herren 
Kollegen" richtete) von den „Bibliothekarversammlungen" (Hollender, S. 50). 
Auf das Wort waren Sie ja auch schon gestoßen und es ist für mich ein 
weiteres Indiz dafür, dass „Bibliothekar" hier ein verkürzter Plural ist. 
Anders kann man es m.E. nicht interpretieren, denn es hat sich ja nicht nur 
*ein* Bibliothekar versammelt ;-) In der Einladung nach Erfurt 1924 werden 
die Wörter „Bibliothekartag" und „Versammlung" parallel verwendet: „(...) ist 
die Beteiligung an den Bibliothekartagen seit 1920 von Versammlung zu 
Versammlung gestiegen".

Im Vorwort des Tagungsberichts zu Hamburg 1946 wird von der „Hamburger 
Bibliothekartagung" gesprochen (Beitrag Dittrich in Festschrift 
Bibliothekartag, S. 241). Auch hier kann m.E. der erste Teil nur ein 
verkürzter Plural sein.

Die Teilnahme von Frauen wurde offenbar schon 1905 und 1913 thematisiert: 
„Die Satzung erwies sich als ziemlich stabil; lediglich zur Frage, ob aus ihr 
zu entnehmen sei, „dass gegen die Teilnahme von Damen, die im 
bibliothekarischen Berufe stehen, an den Bibliothekartagen nichts einzuwenden 
ist", ergab sich bei zwei Anlässen „eine längere Debatte"." (Beitrag Knudsen 
in Festschrift VDB, mit Verweis auf ZfB 22, 1905, S. 491, und ZfB 30, 1913, 
S. 442).

Damit ist auch klar, dass der Name "Bibliothekartag" schon vor 1908 zumindest 
vereinzelt verwendet worden sein muss. Die Stelle von 1905 ist hier:
http://www.digizeitschriften.de/dms/resolveppn/?PID=PPN338182551_0022%7Clog128

Wichtig außerdem der Beitrag von Dagmar Jank, „Frauen im Höheren 
Bibliotheksdienst vor dem Zweiten Weltkrieg" (in Festschrift VDB, S. 302ff.). 
In Sachsen war der Zugang zum hD für Frauen seit 1919 möglich, in Preußen 
seit 1921 - in der Praxis war das aber wohl nicht so einfach.

Vielen Dank  für Ihre Überlegungen zu den Aspekten „Tradition" und „Marke". 
Ich glaube, das ist ein sehr komplexes und vielschichtiges, sicher teilweise 
auch sehr persönliches Thema - ich tue mir jedenfalls schwer damit, auf der 
Liste etwas dazu zu schreiben.

Eine „Meta-Überlegung" noch: Trotz aller „Tradition" hat sich der 
Bibliothekartag gegenüber seinen Ursprüngen natürlich ungemein verändert und 
entwickelt sich immer noch weiter. Ich kann das in meiner eigenen 
„Bibliothekartags-Historie" beobachten, die im Jahr 1999 beginnt. Damals gab 
es fast nur Vortragssessions, mittlerweile haben wir eine Vielfalt von 
Formaten, z.B. Poster-Sessions und Hands-on Labs. Und der hybride 
Bibliothekartag 2021 war nach meiner Einschätzung der modernste und 
zugänglichste Bibliothekartag aller Zeiten. Die enorme Leistung der 
Organisator:innen, die das unter schwierigen und unsicheren Bedingungen auf 
die Beine gestellt und umgesetzt haben, geht jetzt leider ein bisschen unter.

Wichtig erscheint es mir auch, auf die Inhalte zu schauen. Wenn also 
beispielsweise Fachangestellte sich von der Tagung nicht angesprochen fühlen, 
liegt das wirklich primär am Namen oder eher daran, dass sie ein für sie 
maßgeschneidertes Programm vermissen? Auf dem DACH-Discordserver hat dieser 
Tage jemand ein „FaMI-Spotlight" vorgeschlagen, was ich eine bedenkenswerte 
Idee finde.

Viele Grüße
Heidrun Wiesenmüller

Am 01.07.2021 um 20:18 schrieb Frau Haase via InetBib: 

Liebe Frau Wiesenmüller, vielen Dank für diese spannende Ausführung.

Vielleicht können Sie meine Fragen zur Geschichte des Namens
beantworten. Ab wann der Name "Bibliothekartag" benutzt wurde, habe ich
noch nicht genau herausgefunden. Zu "Bibliothekarstag" gab es ja schon
eine interessante Quelle (vielen Dank dafür :-) ), die vermuten lässt,
das dies eine Fremdzuschreibung ist.

Im Zentralblatt für Bibliothekswesen habe ich folgende frühere
Bezeichnungen von Zusammenkünften der Bibliotheksbeschäftigten gefunden
gefunden:

Die Idee zu einer Versammlung des bibliothekarischen Berufsstandes
brachte Förstemann hier 1884 vor - s. Zentralblatt für Bibliothekswesen
1884 Seite 7. Es wird Bezug auf andere berufsständische Versammlungen
genommen und es ist nur von Männern und von einer Versammlung die Rede.
Frauen gab es in diesem Beruf noch nicht.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=PPN338182551_0001|log11&physid=phys21#navi

Milkau berichtet 1897 über den "Bibliothekar-Kongress" in London. Er
übersetzt "Congress of Librarians" mit "Bibliothekar-Kongress"
(Maskulinum oder Wortstamm?) - s. Zentralblatt für Bibliothekswesen 1897
Seite 454. Auf Seite 459 merkt er (kritisch oder neugierig?) an, dass
auf diesem Kongress nicht nur „zünftige Bibliothekare" anwesend waren,
sondern auch Politiker, „Gönner" und Frauen.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN00025827X

Bericht über die erste deutsche "Bibliothekarversammlung" - s.
Zentralblatt für Bibliothekswesen 1897 Seite 472. Es versammelten sich
Männer, die dem bibliothekarischen Berufsstand angehörten. Interessant
im Bericht ist, dass die Bibliothek als „Inhaberin" des Gebäudes
bezeichnet wird. Zu jener Zeit waren die Menschen offenbar sehr
genderbewusst. Aber ist „Bibliothekar" in „Bibliothekarversammlung ein
Maskulinum oder ein Wortstamm? Frauen gab es in deutschen Bibliotheken
immer noch nicht.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000258377

Bericht über die "Versammlung deutscher Bibliothekare" und Gründung des
"Vereins deutscher Bibliothekare" 1900 - s. Zentralblatt für
Bibliothekswesen 1884 Seite 337. Es gibt die Wörter
„Bibliothekarversammlung" und „Bibliothekarverein". Ob das die von Ihnen
beschriebene Kürzung auf den Wortstamm ist, kann ich nicht beurteilen.
Ansonsten ist im Bericht eindeutig nur von Männern die Rede.
http://www.digizeitschriften.de/dms/img/?PID=GDZPPN000260614

Weiter bin ich mit dieser herrlichen Lektüre noch nicht gekommen. Wie es
mit den Frauen und den bibliothekraischen berufsständischen
Vereinigungen weiterging hatte Karin Aleksaner 2011 kurz zusamengefasst,
als wir uns schon einmal mit dem Namen unserer Veransatltung beschäftigt
haben. Nachzulesen hier
https://www.vdb-online.org/wordpress/wp-content/uploads/2012/01/VDB_Blog_Namens%C3%A4nderung-12.pdf

Was mir jetzt deutlich wird, ist die große Bedeutung der Berufsstände
und der Standeszugehörigkeit sowie der damit verbundenen Würden und
Privilegien zu jener Zeit.

Wenn bei der von Nik Baumann nun erneut angestoßenen Diskussion (ganz
herzlichen Dank dafür!) einige Kolleg:innen von Marke und Tradition
schreiben, möchte ich fragen, um welche Tradition es Ihnen dabei geht?

Zum Thema Marke sind hier stichhaltige Argumente aufgeführt
https://www.openpetition.de/petition/argumente/zeitgemaesser-name-fuer-den-bibliothekartag
. Tradition und Rituale sind mir auch sehr wichtig. Sie sind notwendig,
um uns Menschen Stabilität und Verläßlichkeit zu geben. Dennoch ist es
wichtig, sie immer wieder zu hinterfragen. Welche Tradition also? Die
Tradition, sich einmal im Jahr zum Fachaustausch zu treffen? (Find ich
gut) Die Tradition einmal im Jahr zu reisen und sich kollegial zu
besaufen? (Ist mir wurscht) Die Tradition, seinen Stand zu bestätigen
und sich von anderen abzugrenzen? (Find ich überholt und sogar
gefährlich). Welche noch?  Und was davon benötigt welchen Namen?

Da die Veranstaltung von den berufsständischen Vereinigungen VDB und BIB
getragen wird, ist die zentrale Frage wohl: welchen Beruf oder welche
Berufe vetreten die Vereinigungen und für wen organisieren sie das
Treffen?

Viele Grüße aus Berlin

Jana Haase

-- 
Jana Haase 

Am Friedrichshain 19 c 

10407 Berlin 

Tel. 030 441 50 84

Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.