[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]
[InetBib] CfP LIBREAS #39: Dekolonisierung: Antirassistisch und/oder dekolonial? Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe
- Date: Wed, 27 Jan 2021 15:50:22 +0100
- From: "Karsten.Schuldt--- via InetBib" <inetbib@xxxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] CfP LIBREAS #39: Dekolonisierung: Antirassistisch und/oder dekolonial? Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe
Werte Kolleg*innen,
liebe Mitglieder des LIBREAS. Vereins,
ich hoffe für die ganze Redaktion LIBREAS. Library Ideas, dass Sie / ihr gut
ins neue Jahr gekommen sind / seid. Für diejenigen unter Ihnen / euch, die das
übersehen haben, zeige ich gerne noch einmal an, dass die Ausgabe #38 unserer
Zeitschrift mit den beiden Schwerpunkten "Tiere und Gewächse" und "Ein Jahr
Libraries4Future" zwischen den Jahren erschienen ist:
https://libreas.eu/ausgabe38/.
Informieren möchte ich Sie aber gerne vor allem über unseren neuen CfP
"Dekolonisierung: Antirassistisch und/oder dekolonial? Bibliotheken im
Spannungsfeld antirassistischer und kritischer Auseinandersetzung mit dem
eigenen kolonialen Erbe" und Sie zu Beiträgen zu diesem Thema einladen. Der
Call findet sich hier:
https://libreas.wordpress.com/2021/01/27/call-for-papers-libreas-ausgabe-39-2-schwerpunkt-dekolonisierung/
und am Ende dieser Mail. (Er ergänzt den CfP zum Schwerpunkt Roboter und
Automatisierung", welcher weiterhin bis zum 30. April 2021 läuft:
https://libreas.wordpress.com/2020/10/14/cfp-39-roboter-und-automatisierung/.)
Betreut wird dieser zweite Schwerpunkt zusammen mit Gabriele Slezak und Sandra
Sparber aus Wien als Gasteditorinnen sowie die Studierenden des
LIBREAS-Projektseminars am Institut für Bibliotheks- und
Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.
Für die Redaktion LIBREAS. Library Ideas,
Karsten Schuldt
*******************************************************************
Call for Papers LIBREAS-Ausgabe 39, 2. Schwerpunkt “Dekolonisierung”
Antirassistisch und/oder dekolonial?
Bibliotheken im Spannungsfeld antirassistischer und kritischer
Auseinandersetzung mit dem eigenen kolonialen Erbe
Tritt man in eine Gedächtniseinrichtung wie eine Bibliothek, ein Archiv oder
ein Museum, betritt man einen vorgeprägten Raum. Wie und welche Inhalte dort
gezeigt werden, ist das Ergebnis umfassender Entscheidungsketten. Diese
Entscheidungen basieren auf einem Geflecht von Rahmenbedingungen und
Einstellungen der Entscheidenden. Da die Entscheidungen aneinander anschließen,
werden sie vererbt, verinnerlicht, bedingen die Regelhaftigkeit der
Institutionen. Ein bibliothekarisches Klassifikationssystem mag über die Zeit
modifiziert werden. Seine Grundanlage aber bestimmt bereits, ob und wie es
modifizierbar ist.
Die Idee des Wissens und der Ordnung, wie wir sie heute in den
Gedächtniseinrichtungen finden und praktizieren, folgt im Prinzip
Gestaltungsentscheidungen, die 150 oder 200 Jahre alt sind. Sie wurden in einer
Zeit entwickelt, in der Perspektiven auf die Welt, die Menschheit, die Kulturen
dominierten und keinesfalls Gleichwertigkeit jenseits europäischer
Leitvorstellungen zum Ziel hatte. Sie wurden zu einem Zeitpunkt eines sich
entfesselnden, kapitalistischen und kolonialen Expansionsdrangs verfeinert, in
dem als positives Ziel galt, sich möglichst viel auf Erde jeweils untertan zu
machen. Nationalismus und Imperialismus waren der narrative Rahmen, der die
Gesellschaften im Zweifel zu großen Opfern motivieren sollte. Der Lohn waren
das Versprechen des Wohlstands einer Kolonialwaren-Konsumkultur und das
heimelige Gefühl einer Überlegenheit. Der Preis ist in jedem Schwarzbuch zur
Menschheitsgeschichte dokumentiert und sprengt in seiner Dimension und
Grausamkeit jede Vorstellungskraft.
Die Welt außerhalb europäischer, christlicher Deutungsmuster bekam in diesen
Perspektiven keine eigene Handlungsmacht zuerkannt. Sie wurde objektiviert. Sie
wurde etwas, das es zu erkunden, bezwingen, zähmen, kontrollieren, ordnen galt.
Ihre Formen des Wissens wurden im besten Fall nachgenutzt, angepasst,
dokumentiert. Was nicht passte, wurde ausgeblendet, ignoriert, ausgelöscht. Der
Drang, die Welt zu objektivieren und kontrollierbar zu machen, zog sich
dominant lange durch das 20. Jahrhundert. Er franste aus, hier und da
entwickelten sich Alternativen. Seine Dekonstruktion erfolgte aber bis heute
fast nur diskursiv, intellektuell, narrativ. Vieles in den Strukturen ist nach
wie vor näher an der Zeit, in der “Völkerschauen” als völlig normal galten, als
uns lieb ist. Mehr noch: Im digitalen Raum wiederholen sich genau diese
Prozesse. Die Künstliche Intelligenz trainiert mit den tradierten Korpora und
übernimmt damit die etablierten Muster. Ein historisches Bewusstsein kennt sie
naturgemäß nicht. Und es ist, wie aktuell der Fall Timnit Gebru zeigt, auch bei
denen, die über die digitalen Strukturen entscheiden, nicht unbedingt
vorauszusetzen. Es ist keine gerade Entwicklungslinie, aber die Randständigkeit
ethischer und historischer Reflexion bei der Entwicklung des technisch
Machbaren setzt vieles von dem, was wir in öffentlichen Verlautbarungen als für
überwunden verkünden, schließlich doch mit zeitgemäßen Mitteln neu auf.
Bibliotheken müssen sich wie alle Gedächtniseinrichtungen und eigentlich alle
Institutionen der Frage stellen, wie in ihnen exkludierende, rassistische, aus
der Zeit und der Logik des Kolonialismus stammende Muster nachwirken und was
dies für ihre Gegenwart bedeutet. Das Ziel der Inklusivität, die
diskriminierungsfreie Ausrichtung findet abstrakt weithin Zustimmung. Wenn es
gut läuft, werden hier und da Sonderprogramme aufgelegt, die aber teils bereits
durch ihren “Sonder”-Status Ein- und Ausgrenzungen in Gestalt einer nun
wohlwollenden Diskriminierung reproduzieren. Solange die Entscheidungs- und
Steuerungshoheit bei tradierten Akteur:innen und ohne Hinterfragen der
scheinbar selbstverständlichen Rahmenbedingungen verbleibt, führt dies nicht zu
einer Anerkennung auf Augenhöhe. Man baut Brücken. Aber ist man dabei auch
bereit, das Gegenüber als das zu akzeptieren, als das es sich zeigt?
Wir müssen damit leben, dass wir aus einer bestimmten Entwicklungslogik nicht
retrospektiv ausbrechen können. Die Geschichte ist unhintergehbar. Daraus
ergibt sich zugleich die Verantwortung, sie differenzierend zu verstehen und
aus ihr zu lernen. Wir werden die Gedächtniseinrichtungen nicht retrospektiv
dekolonisieren können. Was wir aber als Aufgabe einer engagierten
Bibliothekswissenschaft sehen, ist, die Bibliotheken als unsere
Bezugsinstitutionen auf die Herausforderungen der Gegenwart hin zu reflektieren
und Gestaltungsmöglichkeiten für eine Zukunft zu entwickeln, die sensibel,
differenziert und entschieden eine integrative, grundierende, ausgleichende
Rolle übernimmt.
Im Grunde geht es darum, das konsequent zu leben, was man vorgibt zu tun. Dazu
zählt, in einem ersten Schritt zu verstehen wo man herkommt und warum man so
ist, wie man ist. Es gilt, dafür sensibel zu werden, wie und wo
diskriminierende Effekte nach wie vor wirken. Es gilt, verstehen zu lernen,
warum sich Teile der Community, die man eigentlich zu repräsentieren vorgibt,
nicht repräsentiert fühlen. Wenn die eigenen Denk- und Vorstellungsmuster
dekonstruiert werden, bedeutet das nicht, dass man sie komplett verwerfen muss.
Aber man wird dann Entscheidungen erklären müssen. Die Verschiebung, die wir
aktuell in zahlreichen Diskursen beobachten und die auch dem Bibliothekswesen
gut tun wird, führt dahin, dass bisher unhinterfragte Konstellationen der
Macht, der Deutung, der Entscheidung, einer ausdrücklichen Re-Legitimierung
bedürfen.
Im zweiten Schritt nach der Ent-Selbstverständlichung geht es darum,
Alternativen zu denken. Das Gute ist: Es gibt Vorarbeiten. So bietet das
postkoloniales Konzept der ‘colonial library’ des kongolesischen Philosophen
und Intellektullen V[alentin]- Y[ves] Mudimbe ein Analyseinstrument, um zu
(hinter)fragen, ob und wie Bibliotheksarbeit im heutigen Kontext genutzt werden
kann, um sich Konzepten einer kolonial-rassistischen Wissensordnung zu
widersetzen. Laut Mudimbe bezieht sich das auf alle Texte und epistemologischen
Ansätze, die afrikanische Gesellschaften als ein Symbol der Andersartigkeit
(otherness) und Unterlegenheit (inferiority) konstruierten (Mudimbe, 1988:
98–134). Wo das erkannt wird, können Schritte unternommen werden, um eine Erst-
oder auch Wiederaneignung von alternativen Wissensbeständen einzuleiten, die
einen Kontrast zur kolonialen Bibliothek bilden würden. Eine solche Debatte
eröffnet die Möglichkeit, über diese Herausforderung zu sprechen und verstehen
zu lernen, welche Perspektivwechsel in der antirassistischen Bibliotheksarbeit
möglich und notwendig sind. Die Enthomogenisierung unser Vorstellungen von
Leitkultur, die Diversifikation von Möglichkeiten, zugleich immer auch die
Schaffung und Erhaltung von Optionen für eine wechselseitige Verständigung –
das könnte im Kern der postkolonialen, antidiskriminierenden, antirassistischen
Bibliothek stehen. Rassismuskritisches Denken und Handeln befähigt uns, die
komplexen Verschränkungen von institutionellem und strukturellem Rassismus zu
decodieren. Ein uneingeschränkter Humanismus mit dem Ziel einer
diskriminierungsfreien Gesellschaft ist eine Utopie. Dieser so nah wie möglich
zu kommen liegt in unserer Verantwortung. Das Bewahren und Zeigen von Kultur in
ihrer Breite anstatt eines restriktiven Strebens nach Ordnung und Kontrolle
könnte Kern der Arbeit von Gedächtniseinrichtungen sein. Überlieferung wird
nicht getilgt, aber vernetzt, erklärt und kritisch vermittelt.
Call for Papers 2. Schwerpunkt Ausgabe 39: Fragen
Für die kommende Ausgabe von LIBREAS suchen wir Beiträge, die sich mit der
Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft von Gedächtnisorganisationen und
Prozessen der Ordnung des Wissens, Diskursen und Wissensträgern aus der
Perspektive einer Dekolonisierung auseinandersetzen.
* Wir suchen die Spuren von Kolonialismus und Rassismen, die sich bis heute in
den Strukturen und der Arbeit von Bibliotheken erhalten und die sich
möglicherweise in digitalen Wissens- und Kommunikationsstrukturen
reproduzieren.
* Wir möchten erfahren, wer sich aus welchen Blickwinkeln mit Fragen der
Dekolonisierung, der Diversifizierung, der Alterisierung in und von
Bibliotheken befasst.
* Wir suchen Best-Practice-Beispiele für Inklusions- und Öffnungsprozesse.
* Wir wollen Handlungsoptionen (und Utopien) zur Frage diskutieren, wie die
Ordnungsmechanismen von Machtdiskursen durchbrochen werden können und wie
epistemische Gewalt in öffentlichen Einrichtungen thematisiert werden kann.
* Und schließlich möchten wir gern auch die genuine Perspektive der
Bibliotheks- und Informationswissenschaft betrachten und fragen, wie
informationsethische Modelle, Methoden und Theorien am Schnittpunkt zu
postkolonialen Forschungsfragen anwendbar sind.
Einreichungen
Die Redaktion der LIBREAS. Library Ideas, die Gasteditorinnen Gabriele Slezak
und Sandra Sparber aus Wien sowie die Studierenden des LIBREAS-Projektseminars
am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der
Humboldt-Universität zu Berlin sind offen für direkte Einreichungen, aber auch
für die Diskussion von Ideen für Beiträge. Formen und Inhalt sind wenig
beschränkt, diese Einschränkungen sind in den Hinweisen für Autor*innen
(https://libreas.eu/authorguides/) zu finden. Deadline ist der 30. Juni 2021.
Kontakt: redaktion@xxxxxxxxxx / https://twitter.com/libreas
Eure LIBREAS-Redaktion
Aarhus, Berlin, Hannover, Lausanne, München, Wien
(Dieser Call for Papers entstand im Rahmen des LIBREAS-Projektseminars am
Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität
zu Berlin im Wintersemester 2020/2021 und wurde von Ester Barseghyan, Lina
Feller, Katharina Foerster-Kuntze, Fatima Jonitz, Amber Kok, Valentina de
Toledo erstellt, begleitet und koordiniert.)
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.