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[InetBib] LIBREAS CfP #35: Neutralität. Bibliotheken zwischen Pluralität und Propaganda
- Date: Mon, 26 Nov 2018 14:14:39 +0100
- From: via InetBib <inetbib@xxxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] LIBREAS CfP #35: Neutralität. Bibliotheken zwischen Pluralität und Propaganda
Werte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitglieder des LIBREAS-Vereins,
gerne würde ich Ihre / Eure Aufmerksamkeit auf den gerade erschienen Call for
Papers für die Ausgabe #35 der LIBREAS. Library Ideas lenken. Schwerpunkt
dieser Ausgabe soll das allenthalben in der Luft liegende Thema der
"Neutralität" von Bibliotheken in Zeiten rechtspopulistischer Wahlerfolge und
Diskursverschiebungen sein. Während Bibliotheken schnell dabei sind,
Neutralität als bibliothekarischen Grundsatz zu postulieren, mehren sich - im
deutschsprachigen aber auch anderen Bibliothekswesen - Stimmen, die sowohl in
Zweifel ziehen, ob dies überhaupt anzustreben ist als auch ob Neutralität
überhaupt möglich ist. Wir wollen - um den Rahmen der Ausgabe vorab abzustecken
- diesen Zweifeln und Kritiken genauso Raum geben wie Verteidigungen dieser
Haltung.
Der CfP ist zu finden unter:
https://libreas.wordpress.com/2018/11/23/cfp-libreas-library-ideas-35-neutralitat-bibliotheken-zwischen-pluralitat-und-propaganda/
und noch einmal hier in der Mail. Gerne diskutieren wir über Vorschläge für
Beiträge. Deadline ist der 31.03.2019.
für die Redaktion LIBREAS. Library Ideas,
Karsten Schuldt
*** CfP LIBREAS. Library Ideas #35: Neutralität. Bibliotheken zwischen
Pluralität und Propaganda
Bibliotheken als öffentliche Einrichtungen sehen sich aktuell verstärkt in
einer besonders widersprüchlichen Lage: Es scheinen sich einerseits ein
“Neutralitätsgebot” und eine Verpflichtung zur “Informationsfreiheit”
gegenüberzustehen mit einem bewusst eingeforderten Bekenntnis zu einer aktiv
pluralistisch-demokratischen Rolle, die sich auch offen gegen alle Tendenzen
aufstellt, die diese Grundausrichtung des politischen Systems der
Bundesrepublik gefährden. In diesem Spannungsfeld bewegen sich die Akteure,
wenn es gilt Handlungsmaximen für die Praxis, also eine Art Ethik der
Bibliothek, abzuleiten.
Dass diese Polarisierung jetzt so akut spürbar wirkt, liegt einerseits in der
Luft. Es gibt zugleich aber auch konkrete Ereignisse, die uns als Redaktion
motivieren, hier eine intensivere Auseinandersetzung zu suchen.
Auf dem 107. Bibliothekstag im Juni diesen Jahres in Berlin kam die Frage nach
dem Umgang mit ‘neuer’ rechter[1] Literatur mit doch größerer Wucht in der
deutschsprachigen Bibliotheksgemeinschaft an. Bei einer Podiumsdiskussion
diskutierte man sehr kontrovers über den Umgang mit rechter Literatur in
Bibliotheken. Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag bezog klar Stellung gegen
eine Aufnahme von rechter Literatur in das Sortiment des Buchhandels oder in
den Bestand von Bibliotheken und begründete dies einmal formal mit der
Unprofessionalität der rechten Verlage, sowie aber vor allem mit deren
zweifelhaften, oft ins verschwörungstheoretische oder esoterische abdriftenden
Inhalten, die nicht selten diskriminierend, rassistisch, homophob und die
Menschenwürde verletzend sind.
In den letzten Jahren kann man jedoch teilweise einen Professionalisierungsgrad
in diesem Literatursegment beobachten, der etablierte Buchhändler wie Michael
Lemling zumindest Respekt abzunötigen scheint. Auch die Existenz der Bibliothek
des Konservatismus in der Berliner Fasanenstraße sowie der politische Erfolg
rechtskonservativer Positionen zwischen CSU und AfD, FPÖ und SVP sind Anzeichen
für eine weitere Etablierung und Dauerpräsenz entsprechender Denkrichtungen im
öffentlichen Diskurs und damit auch im Publikationswesen. Zudem gab es ‒-
Stichwort Thilo Sarrazin ‒ schon immer Texte, die sich auf dieser Seite der
Debatte positionieren und auch in größeren Publikumsverlagen ihre Heimat fanden.
Abgesehen von der Erwerbungspolitik der Bibliotheken, erhalten diese Stimmen
freilich auch die Möglichkeit, sich anderweitig über Bibliotheken am
politischen Diskurs zu beteiligen oder dazu zu informieren, zum Beispiel mit
Veranstaltungsformaten. Einen Ansatz hierzu präsentiert der DBV-Verband
Niedersachsen, der die AfD aufs Podium des Niedersächsischen Bibliothekstags,
neben Vertreter*innen anderer Parteien aus dem Landtag, einlädt. (siehe auch)
Diese Aktion ist gleichzusetzen mit der Abbildung des gesamten politischen
Spektrums im Bestand, die unter anderem die SLB Potsdam bei der oben genannten
Podiumsdiskussion vertreten hat. Jedoch tritt hier auch der Nebeneffekt ein,
dass hier Rechtskonservativen nicht nur sprichwörtlich ein Podium geboten wird.
Es finden sich zugleich andere Positionierungen von Bibliotheken im
Spannungsfeld zwischen Pluralität und Propaganda. Die Staatsbibliothek zu
Berlin organisiert im November ein Werkstattgespräch zum Thema “Rechte lesen.
Theorien und Ästhetiken der ‘Neuen’ Rechten”, welche im Weiteren eine fundierte
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema erhoffen lässt. Die
Wissenschaft schweigt natürlich nicht zu diesem Thema, beispielsweise
organisierte die Humboldt-Universität zu Berlin im September eine Feministische
Sommeruniversität und subsumiert: “Der Feminismus muss gegen Rechts
zusammenhalten„.
Erwartungsgemäß haben wir zu diesem Komplex einige Fragen. In der
LIBREAS-Ausgabe #35 möchten wir diese sortieren, durchdringen und diskutieren.
Der Ausgangspunkt liegt im aktuell verstärkten Sichtbarwerden sogenannter
neurechter Literatur. Öffentliche Debatten kreisen häufiger um die Frage,
welche Rolle diese Bücher auf Buchmessen und in den Buchhandlungen spielen
sollen. Aber selbstverständlich sind auch, und aus ethischer Sicht fast noch
herausgeforderter, die Bibliotheken betroffen. Neurechte Titel im Bestand?
Neurechte Autor*innen auf die Diskussions- und Lesebühnen? Wenn ja, in welcher
Aufstellung, Präsentation, in welchem Umfang, in welchem Kontext? Das treibt
mindestens diejenigen Bibliothekar*innen um, die Veranstaltungen organisieren,
konkret Erwerbungsentscheidungen treffen oder die per Standing Order
eingegangenen Exemplare in die Aufstellung integrieren sollen.
Da aber eine Bestandsaufnahme zur Situation fehlt, wollen wir zunächst
allgemein fragen, wie sich diese Konfliktlinie überhaupt im aktuellen
Tagesgeschehen und der Erwerbungspolitik der Bibliotheken manifestiert? Eine
Rolle kommt dabei auch den externen Erwartungshaltungen an die Bibliotheken
durch Träger und mehr noch durch die Nutzer*innen zu.
Die Achse dieser Debatten läuft erstaunlich häufig über die Vorstellung,
Bibliotheken seien ein durch und durch neutraler Vermittlungsort für
Information und gegebenenfalls Diskurse und Debatten. Die inhaltliche
Ausgestaltung hätte sich vor allem an den Bedarfen und Ansprüchen einer
Kundschaft auszurichten. Sie wären also radikal als Dienstleister*innen auf
einem Markt sich verändernder Nachfragen zu verstehen, die vor dem Hintergrund
des jeweiligen Publikationsaufkommens zu bedienen seien. Konsequent gedacht
müssten sie daher alles anbieten und abbilden, was legal ist, solange es nur
nachgefragt wird. Eine inhaltliche Bewertung und Sichtung findet nur sehr
eingeschränkt statt. Wie Hermann Rösch zuletzt im Bibliotheksdienst (52 (2018)
10-11) postulierte, wäre es nur das Gesetz, das durch Verbote einen Rahmen
setzt.
Man kann also fragen: Inwiefern und auf welcher Grundlage sind öffentliche
(kommunale und wissenschaftliche) Bibliotheken tatsächlich zur sogenannten
weltanschaulichen Neutralität verpflichtet? Und wie weit müssen sie gehen, um
diese “Neutralität” umzusetzen? Prinzipiell unterliegen Bibliotheken, bei
entsprechender Trägerschaft, als öffentliche beziehungsweise staatlich
geförderte Einrichtungen, selbstverständlich dem Neutralitätsgebot, welches
sich unter anderem von dem im Grundgesetz (Art. 3 I GG) formulierten
allgemeinen Gleichheitsgrundrecht ableitet. Aber wie lässt sich dies auf den
geschilderten Sachverhalt hin konkretisieren? Ebenso im Grundrecht verankert
ist auch die Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 2. Var. GG), wonach „jeder“ das
Recht hat, „sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu
unterrichten“. Und auch hier stellt sich die Herausforderung der Umsetzung in
der Bibliothekspraxis.
Denkt man Bibliotheken aus der benannten Richtung eines betont neutralen und
streng an der Nachfrage ausgerichteten Informationsdienstleisters, stellt sich
notwendigerweise die Frage, wie dieser Bedarf, wie diese Nachfrage ermittelt
wird, wie repräsentativ dies tatsächlich ist und wie widerstreitende Bedarfe zu
gewichten sind? Die oft geäußerte allgemeine Ausrichtung am Grundgesetz, die
darauf abzielt, dass Bibliotheken eine umfassende Meinungsbildung im Sinne der
Informationsfreiheit unterstützen sollen, impliziert zugleich, dass gerade auch
die Positionen von Minderheiten erfasst werden müssten, da die umfassende
Meinungsbildung eben nur über die Zurkenntnisnahme solcher Positionen möglich
ist. Genau dies ist ja die Besonderheit einer pluralistischen Demokratie:
Gerade nicht die Herrschaft der Mehrheit sondern eine Repräsentanz und
gegebenenfalls auch ein aktiver Schutz von Minderheiten. Nur: Wer bestimmt, wer
Mehrheit und wer Minderheit ist, wer besonderen Schutz und wer eine spezielle
Repräsentanz benötigt? Ein rhetorischer Schachzug vieler neurechter
Vertreter*innen ist es, diesen Ausgleich auszuhebeln, indem sie sich als
diskriminierte Minderheitenposition einer vermeintlichen (schweigenden)
Mehrheit ausgeben. Dies ermöglicht ihnen, Grundlagen und Institutionen eines
demokratischen Systems zu instrumentalisieren, um genau diese Grundlagen und
Institutionen nach ihren Interessen umzugestalten. Das alles ist bekannt und
leicht durchschaubar und trotzdem teils sehr wirkungsvoll. Ihre –
vorübergehende – Stärke liegt darin, dass das System der demokratischen
Öffentlichkeit, wozu auch die Bibliotheken zählen, bisher kaum Strategien
besitzt, die dadurch hervorgerufenen Verunsicherungseffekte ab- und aufzufangen.
Und entsprechend müssen sich auch Bibliotheken fragen, wie sie mit Positionen
umgehen, die implizit oder explizit die Zulässigkeit anderer Positionen aktiv
in Frage stellen, die jedoch zugleich in der Logik einer pluralistischen und
Meinungsvielfalt fördernden Basis von Öffentlichkeit entstanden sind und die
institutionalisierten Kanäle nutzen, um genau diese Basis aufzubrechen? Karl
Poppers berühmtes Toleranz-Paradoxon wird plötzlich Zentralkonzept öffentlicher
Debatten und eine Herausforderung für bibliothekarische Fachdiskussionen.
Daher lässt sich zwangsläufig im Kontrast zum (vermeintlichen)
Neutralitätsanspruch auch zumindest fragen, ob Bibliotheken nicht parallel die
Grundlagen von Öffentlichkeit mitvermitteln müssten, also ein übergreifendes
Verständnis für die Struktur von Debatten und Diskursen, die Rolle und die
Entstehungsbedingungen von Publikationen und die damit verbundenen Ideen und
möglichen Folgen? Stehen Bibliotheken in der Verantwortung, Metakompetenzen zur
Teilhabe an der Öffentlichkeit in ihrem Vermittlungsauftrag zu berücksichtigen?
Zu diesen würde notwendig auch die Kommunikation ihres Selbstverständnisses
zählen, die transparent werden lässt, weshalb bestimmte Titel und Positionen in
den Angeboten auftauchen und weshalb andere möglicherweise fehlen. Also
genereller: Sollen, wollen oder können Bibliotheken Institutionen der
politischen Bildung sein?
So wird ein Gegenmodell zur reinen Dienstleistungsposition denkbar, nach dem
sich Bibliotheken dezidiert als normative Institution mehr mit einem
politischen bzw. Bildungs- denn einem Informations- und Dienstleistungsauftrag
verstehen. Aber wie würde, könnte, sollte dies konkret aussehen? Ist solch eine
Rolle in den Rahmenbedingungen und besonders auch in der Berufsausbildung
überhaupt angelegt oder anlegbar? Und darüber hinaus ist zu fragen, ob
Bibliotheken selbst als Akteure in den Debatten auftreten und Position beziehen
sollten? (Viele tun dies nachweislich bereits.)
Wir möchten die Grenzen normativer Praxis im Bibliotheks- und
Informationsbereich thematisieren. Dass ein Bibliotheksgesetz fehlt, welches
einheitlich verbindliche Regelungen für Entwicklungen im Bibliothekswesen
formulieren könnte, lässt Spielräume und überträgt die Aufgabe, sich hier
aufzustellen, den einzelnen Einrichtungen. Ob dies eine Schwäche (mangelnde
Verbindlichkeit) oder eine Stärke (im Sinne des Pluralismus) darstellt, wäre
ebenfalls ein interessanter Diskussionspunkt. In jedem Fall wäre gerade der
Bibliothekspraxis geholfen, überhaupt eine systematische Grundlage für mögliche
normative Leitlinien zu haben – ein Auftrag auch an die
Bibliothekswissenschaft. LIBREAS ruft entsprechend auch dazu auf, dafür
relevante Quellen zu identifizieren, zu erläutern und nachzuweisen.
Im Prinzip erstaunt es, dass das Thema nach der normativen Ausrichtung von
Bibliotheken nicht öfter Gegenstand von Bibliothekstagen, Themenheften der
Fachzeitschriften oder auch bei LIBREAS ist. In den Ausgaben #19 Zensur und
Ethik und in der #22 Recht und Gesetz beschäftigten wir uns immerhin bereits
mit verwandten Themenkomplexen. In der kommenden Ausgabe wollen wir konkret den
aktuellen Diskurs zum Umgang mit neuer rechter Literatur und der Positionierung
von Bibliotheken in der aktuellen politischen Lage adressieren.
Wir wollen also erfahren: Wie positionieren Sie sich, wie positioniert ihr euch
in dieser Debatte und welchen Umgang mit diesem Thema haben Sie/habt ihr mit
Ihrer/eurer Einrichtung gefunden? Auf welche (historischen) Narrative und
Paradigmen kann in diesem Kontext Bezug genommen werden? Gibt es internationale
Parallelen?
Wir rufen dazu auf, Beiträge zu diesem Themenkomplex einzureichen, wobei wie
immer sowohl Berichte aus der Praxis als auch theoretische Auseinandersetzungen
in jedem Format (Essays, künstlerische Auseinandersetzungen, Abschlussarbeiten
et cetera) willkommen sind. Wir freuen uns auch über Einreichungen aus
Institutionen, die sich per Funktion mit diesem Themenkomplex befassen wie
Gedenkstätten- oder politisch/historisch ausgerichtete
(Forschungs-)Bibliotheken. Gerne unterstützen wir Sie/euch beim Verfassen der
Texte oder diskutieren Ideen für Beiträge. Einreichungsschluss ist der
31.03.2019. Beitragsvorschläge und Beiträge bitte an redaktion@xxxxxxxxxx. Wir
freuen uns und sind sehr gespannt.
Eure / Ihre Redaktion LIBREAS. Library Ideas
(Berlin, Chur, Dresden, Hannover, München im November 2018)
Fussnote [1] Der Zusatz ‘neu’ wird in der wissenschaftlichen Diskussion
teilweise abgelehnt, da aktuelle rechte Literatur oftmals auf ältere Texte
verweist und sich somit an alte Diskurse anschließt. Im Folgenden verstehen wir
unter ‘rechts’ zusammenfassend rechts-konservatives, rechts-extremes und
rechts-revolutionäres Denken.
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.