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Re: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und Vision für deutsche Bibliotheken usw.
- Date: Thu, 11 Jul 2013 08:08:01 +0000
- From: Annette Kustos <Annette.Kustos@xxxxxxxxxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und Vision für deutsche Bibliotheken usw.
Lieber Herr Jobmann,
eine interessante Diskussion.
Ich denke auch schon etwas länger über den Kundenbegriff nach im Verhältnis zu
dem des Bürgers. Der Begriff des Bürgers ist in den letzten Jahren sehr
geschwächt worden, da öffentliche Güter und öffentliches Recht durchdrungen
wurden von Prinzipien betriebswirtschaftlicher Konzepte und auch bestimmten
Interessen im Hintergrund, aber das lasse ich jetzt mal weg.
Es gibt - da gehe ich nicht ganz mit Ihnen konform - schon recht ernst zu
nehmende Literatur über den Qualitätsbegriff und einer Orientierung an
Nutzerwünschen. Das begann mindestens Anfang der 90 ger Jahre mit Thematiken
wie Qualitätsmanagementverfahren, Umfragen zum Benutzerverhalten und zur
Benutzerzufriedenheit und zu Kennzahlensystemen nicht nur über die DBS und den
BIX sondern auch Balanced Scorecard Systemen, die schon ein bisschen mehr als
nur nackte Zählungen sind sondern durch das In-Verhältnis-Setzen von Zahlen
und Kontexten eine Nuance inhaltlicher Qualität in sich tragen. Auch
prozessorientierte Qualitätsmanagementsysteme können sinnreich sein, Ergebnisse
für Benutzer positiv zu lenken. Wenn ein Prozess nicht funktioniert, z. B. wenn
Schulungen schlecht organisiert sind etc. leidet das Ergebnis für den Nutzer.
Diese System sollten durchaus positiv denkend, dazu beitragen, dass sich
Bibliotheken mit ihren Eigenarten in der rein output-orientierten Welt
behaupten können.
Aber in der Tat, andere Konzepte eines Auftrags von Bibliotheken, als nur im
Sinne der Betriebswirtschaft effizient zu sein, sind stark weggedrängt worden.
Es gibt noch andere Ethiken, die in Bibliotheken eine Rolle spielen:
- Ethos der Bildung, Ethos der Wissenschaft - also das Sammeln, Erschließen und
Vermitteln für diese Systeme und die Freiheit dieser Systeme
- Ethos der Beratung, Empfehlung, pädagogisches Ethos: jemandem etwas erklären
wollen, etwas erschließen wollen, etwas eröffnen wollen
- Ethos der Technik: wir wollen moderne Tools anbieten, Services, uns
weiterentwickeln,
- Ethos der Informationsfreiheit: wir wollen Benutzern die Möglichkeit
eröffnen, sich frei zu informieren, den Zugang zur Information sichern
- Ethos des Sammelns im Kontext: das Zusammenfügen verschiedener Materialien
vom alten Buch bis zur elektronischen Quellen unter einem Prinzip
- Ethos des Erhaltens, Sicherns, Archivierens, Restaurierens: das Erhalten und
Erschließen von Kulturgut für uns, unsere Nachkommen nicht nur für
augenblickliche Interessen
-Ethos der Gesellschaft: ein Zusammenbringen von Menschen durch das Angebot von
Medien und Räumen, die diese Medien anbieten
-Ethos des Raumes: Bibliothek als Raum für Bildung, Kultur und Kommunikation,
bis hin zu einem Ethos der Architektur dafür und für die (städtischen)
Umgebungen
Da dürfte noch einiges fehlen..
.. diese Dinge sind allein mit dem Kundenbegriff nicht aufzufangen. Der Kunde
ist immer ein konkretes Gegenüber, auch als Gruppe nach Analyse der
Kundenbedürfnisse wird immer auf ein aktuales Verhältnis abgestellt.
Kontexte wie oben spielen hier keine Rolle. Besonders weil hier selten von
diesem etwas bezahlt wird.. der Bibliotheksbenutzer zahlt ja nicht - abgesehen
von der Gemeinschaftsabgabe der Steuern - dafür. Man kann den Gewinn in Preisen
oder in Nutzerzahlen nicht genau sofort ausmachen. QM-mäßig gesehen liegt das
im Bereich des Outcomes, in der Wirkung von Bibliotheken.
Auch diese Fragen werden in letzter Zeit in Form von Bibliothekssoziologie,
anthropologischen Konzepten und Qualitätsmessungsverfahren neu betrachtet.
Daran kann man erkennen, dass Bibliothekaren hier durchaus etwas aufgefallen
ist.... nämlich das dieser Betrachtungswinkel fehlt und wieder neu Raum finden
muss. Allerdings werden unsere Einrichtungen auch selten nach solchen
Zusammenhängen gefragt, sondern nur nach Ausleihen etc. Es ist sehr schwierig,
Konzepte mit Zielsetzungen langfristiger Art in Gremien und Haushaltsdebatten
einzubringen. Das suchen sich Bibliotheksleitungen nicht aus und es geht
zuweilen über die Kräfte.
Allerdings, und diesen Punkt sprechen Sie ja auch an: die Degradierung, die
hier stattgefunden hat, betrifft gar nicht mal die Bibliotheken, sondern sie
betrifft den Nutzer!
Ein Kunde ist ein Konkretum, kein Konzept in Richtung Mensch, Benutzer, Bürger.
Ein Kunde hat konkrete Wünsche, will "nur" das! Und hat das auch zu bezahlen.
Wer nicht zahlen kann, ist kein Kunde.
Wenn dieser Kunde dann nicht als Bürger trotzdem Anrecht auf etwas hat, ist er
"draußen". Der Kunde der Arbeitsagentur ist hier doppelt mittellos, er hat
keine Ansprüche und er kann auch nicht zahlen, und die Mitarbeiter der Agentur
wären vielleicht gerne wieder Verwaltung im öffentlich rechtlichen Kontext und
nicht Diener der Statistik. Ich möchte da nicht arbeiten müssen.
Deshalb nutzt der Schuss auf die Bibliotheken, die Verbände wenig.. in der Tat
werden durch Begrifflichkeiten und Statements dieser Art die Plakate der
betriebswirtschaftlichen Denkweise, die als Instrument gut sind, aber nicht als
alleinige Grundlage, noch weiterverteilt. Aber Ursache sind sie nicht. In der
Tat kann hier nur etwas helfen, was Grundprinzipien eines öffentlich Rechtes
manifestiert: ein Gesetz. Und als zweites sind es die Bürger/innen selber, die
sagen müssen, dass sie öffentliche Güter wollen und nicht nur Kunden sind.
(Ihre Wut kann ich übrigens verstehen.. es überkommt mich auch zuweilen.. )
Herzliche Grüße
A. Kustos
Der Punkt an dem es sich reibt ist insgesamt
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Inetbib [mailto:inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx] Im Auftrag von
peter.jobmann@xxxxxxxxxxx
Gesendet: Mittwoch, 10. Juli 2013 18:09
An: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Betreff: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und
Vision für deutsche Bibliotheken usw.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
und täglich grüßt das Kundengedöns.
Die beiden Emails, die einer Lehrbeauftragten der HAW Hamburg und jene
von Frau Schleihagen im Namen des dbv, sind der Tropfen der das Fass auf dem
I-Tüpfelchen der Ahnungslosigkeit zum Überlaufen bringt.
Nach Jahren des Versuchs mittels eines oktroyierten Leitbildes („Code
of ethics“) den Kundenbegriff als soziale Erwartungshaltung den
Bibliotheksbesucherinnen und –besuchern und den Kolleginnen und Kollegen in den
Bibliotheken überzustülpen, gründen Sie nun eine dbv-Kommission für
kundenorientierte Services. Eine Manifestation fachlicher Ahnungslosigkeit und
zugleich ein Offenbarungseid der verlorengegangenen Orientierung bezüglich der
eigenen Rolle in der Gesellschaft. Auf welchen Kundenbegriff berufen Sie sich
denn? In der bibliothekswissenschaftlichen Literatur werden Sie dazu ja quasi
nichts ernstzunehmendes finden. Es sei denn, wir nehmen z.B. die knapp
30 Zeilen der Definition auf dem Bibliotheksportal ernst oder jene zwei Seiten
aus „Erfolgreiches Management von Bibl. usw“ oder andere ähnlich oberflächliche
Texte. Je länger man sich mit diesem Begriff beschäftigt, desto mehr erscheint
folgende Möglichkeit für die Nutzung plausibel: der Begriff klingt so schön.
Oder anders formuliert - für jene die sich gerne mittels ihrer Sprache von der
Welt der Nichtwissenschaftler und –wissenschaftlerinnen abgrenzen
möchten: wegen der kommunikativen Attraktivität des Kundenbegriffs.
Managementlehre, Konsumforschung und Marketing bilden das Rückgrat des
bibliothekswissenschaftlichen Denkens. Gleichsam steckt in diesen drei Punkten
auch das ganze traurige Bibliotheksbild: das Verständnis der
Bibliotheksbesucherinnen und –besucher als Konsumentinnen und Konsumenten. Die
armseligen Instrumente für Fantasielose (z.B.: BIX oder Bibliothek mit Qualität
und Siegel), in denen fast ausschließlich Quantität steckt und die wir der
Bibliotheksumwelt konsequent als Qualität anbieten, sind ein gutes Indiz
hierfür.
Die Soziologie des Kundenbegriffes hingegen interessiert kaum. Wie
verändern wir die Einrichtung mit dem Verständnis der Bibliotheksbesucherinnen
und –besucher als Kundinnen und Kunden? Die auch in der
bibliothekswissenschaftlichen Literatur durchaus belegbare Komplementärrolle
Bibliothekar / Leserin (und andersherum) wurde bspw. durch nichts ersetzt. Die
Funktionszuschreibung der Bibliothek in der Gesellschaft wurde quasi einfach in
die Tonne getreten und mit einem Begriff ersetzt, der keine Rolle in der
Gesellschaft beschreibt, sondern eine Rolle auf dem Markt – dem Kundenbegriff.
Ein weiterer Punkt: das gesetzlich zugesicherte Anrecht auf z.B. eine
Informationsdienstleistung (Bibliotheksgesetz) wird gerade vom dbv beständig
gefordert. Damit schließen Sie jedoch gerade einen Markt aus und definieren
eine Art Vertragsbeziehung. Daraus lässt sich ein schlichter semantischer
Missbrauch ableiten, ähnlich dem in den sogenannten Arbeitsagenturen. Auch dort
möchte man nichts erwerben.
Der Tauschwert für die zu erbringende Dienstleistung z.B.
Arbeitslosengeld ist bereits erbracht. Selbiges fordern Sie für Bibliotheken
und ignorieren mittels der Nutzung des Kundenbegriffs jegliche Konsequenz.
Diese wenigen Sätze bitte ich als kürzeste Kurzform zu verstehen.
Zahlreiche Publikationen zum Kundenbegriff existieren außerhalb des
bibliothekarischen Mantras (Managementlehre, Konsumforschung und Marketing).
Nirgendwo ist eine ähnliche Vereinfachungswut nachzuvollziehen wie in unserer
Fachwissenschaft.
Aber verstehen Sie mich nicht falsch, gerne bewerbe ich mich um die
Mitarbeit in der Kommission. Sehr gerne helfe ich dabei aufzuzeigen, warum
diese Kommission Zeit-, Geld- und Hirnverschwendung darstellt.
Nun noch ein paar Worte zu den Visionen für deutsche Bibliotheken u.
Informationseinrichtungen:
Ein Blick in das Modulhandbuch des Bibliotheksstudiengangs der HAW
zeigt eines deutlich: Studierende werden keinesfalls befähigt den Kundenbegriff
zu verstehen und zu hinterfragen. Gleichwohl taucht dieser Begriff durchgehend
in diesem Studiengang auf. Studierende sprechen wie selbstverständlich vom
Bibliothekskunden und der Bibliothekskundin. Dieser Zustand ist aus meiner
Sicht nicht nur fachlich fragwürdig, sondern vor allem moralisch. Man kann hier
nicht von der Anleitung zur wissenschaftlichen Arbeit sprechen, man muss
definitiv vom Versuch der Erziehung zu einem bestimmten persönlichen
Rollenverständnis in der Gesellschaft sprechen.
Insofern verstehen Sie meinen Beitrag gerne als meinen Teil eines
Dialoges, der Sie dazu auffordert grundlegende fachliche und moralische Grenzen
einzuhalten und die Zukunftsgedanken auf ein solides Fundament zu stellen,
statt sich in einem oberflächlichen und für die Zukunft des Berufsstandes
gefährlichen Geschwurbel zu verfangen.
Beste Grüße
Peter Jobmann
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