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Re: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte Services und Vision für deutsche Bibliotheken usw.



Darf ich hier kurz zitieren?
"Hinsichtlich der Bezeichnung Benutzer, Nutzer, Leser oder Kunde ist anzumerken, dass es auch im angloamerikanischen Bibliotheksbereich über die beste Wortwahl eine Diskussion gibt, die 2008 zu einer Befragung des Library Journals führte, mit dem Ergebnis, dass sich 82% für patron (Stammkunde, Stifter), 11% für customer (Kunde, Käufer), 4% für user (Nutzer) und jeweils 1% für client (Auftraggeber), member (Mitglied) oder reader (Leser) entschieden. Da die Übersetzung der Worte patron und customer ins Deutsche nicht problemlos ist, bleiben wir hier bei der Bezeichnung Benutzer und entsprechend Benutzungsabteilung der Bibliothek. Im Amerikanischen ist es üblich bei Museen und Stiftungen von patrons zu sprechen, und verständlicherweise kritisiert Stephen Ligthouse u. a. auch: „library communities tell us that they definitely don't want to be called customers of libraries.“ Die auch in Deutschland beim Bibliothekspersonal verbreitete Bezeichnung Kunde hebt, bezüglich des Bibliotheksmanagements, die zunehmend wirtschaftliche Bedeutung hervor. Trotzdem soll hier mit dem Gesichtspunkt „publizierte Information für die Benutzer“ deutlich gemacht werden, dass die Bibliothek keine Information an ihre Benutzer verkauft, sondern mit ihnen gemeinsam Kosten einzusparen sucht. Genau genommen geht es um Zielgruppen, die mit der für sie notwendigen Information und Informationskompetenz versorgt werden müssen."
(Lehrbuch des Bibliotheksmanagements S.12-13 2010)

Eigentich wäre Kunde kein schlechter Begriff, wenn man bedenkt, das die Benutzer der Bibliotheken sachkundig sein sollten, und dass wir z.B. auch eine Katalogkunde haben, aber die Gefahr, dass man den Unterschied zwischen einem Buchladen und einer Bibliothek mit dem Wort Kunde zu stark verwischt ist meines Erachtens zu groß. Auch hinsichtlich der Entwicklungen im E-Book Bereich.

MfG
Walther Umstätter

Am 2013-07-11 10:08, schrieb Annette Kustos:
Lieber Herr Jobmann,
eine interessante Diskussion.
Ich denke auch schon etwas länger über den Kundenbegriff nach im
Verhältnis zu dem des Bürgers. Der Begriff des Bürgers ist in den
letzten Jahren sehr geschwächt worden, da öffentliche Güter und
öffentliches Recht durchdrungen wurden von Prinzipien
betriebswirtschaftlicher Konzepte und auch bestimmten Interessen im
Hintergrund, aber das lasse ich jetzt mal weg.

Es gibt - da gehe ich nicht ganz mit Ihnen konform - schon recht ernst
zu nehmende Literatur über den Qualitätsbegriff und einer Orientierung
an Nutzerwünschen. Das begann mindestens Anfang der 90 ger Jahre mit
Thematiken wie Qualitätsmanagementverfahren, Umfragen zum
Benutzerverhalten und zur Benutzerzufriedenheit und zu
Kennzahlensystemen nicht nur über die DBS und den BIX sondern auch
Balanced Scorecard Systemen, die schon ein bisschen mehr als nur
nackte  Zählungen sind sondern durch das In-Verhältnis-Setzen von
Zahlen und Kontexten eine Nuance inhaltlicher Qualität in sich tragen.
Auch prozessorientierte Qualitätsmanagementsysteme können sinnreich
sein, Ergebnisse für Benutzer positiv zu lenken. Wenn ein Prozess
nicht funktioniert, z. B. wenn Schulungen schlecht organisiert sind
etc. leidet das Ergebnis für den Nutzer. Diese System sollten durchaus
positiv denkend, dazu beitragen, dass sich Bibliotheken mit ihren
Eigenarten in der rein output-orientierten Welt behaupten können.

Aber in der Tat, andere Konzepte eines Auftrags von Bibliotheken, als
nur im Sinne der Betriebswirtschaft effizient zu sein, sind stark
weggedrängt worden. Es gibt noch andere Ethiken, die in Bibliotheken
eine Rolle spielen:
- Ethos der Bildung, Ethos der Wissenschaft - also das Sammeln,
Erschließen und Vermitteln für diese Systeme und die Freiheit dieser
Systeme
- Ethos der Beratung, Empfehlung, pädagogisches Ethos: jemandem etwas
erklären wollen, etwas erschließen wollen, etwas eröffnen wollen
- Ethos der Technik: wir wollen moderne Tools anbieten, Services, uns
weiterentwickeln,
- Ethos der Informationsfreiheit: wir wollen Benutzern die Möglichkeit
eröffnen, sich frei zu informieren, den Zugang zur Information sichern
- Ethos des Sammelns im Kontext: das Zusammenfügen verschiedener
Materialien vom alten Buch bis zur elektronischen Quellen unter einem
Prinzip
- Ethos des Erhaltens, Sicherns, Archivierens, Restaurierens: das
Erhalten und Erschließen von Kulturgut für uns, unsere Nachkommen
nicht nur für augenblickliche Interessen
-Ethos der Gesellschaft: ein Zusammenbringen von Menschen durch das
Angebot von Medien und Räumen, die diese Medien anbieten
-Ethos des Raumes: Bibliothek als Raum für Bildung, Kultur und
Kommunikation, bis hin zu einem Ethos der Architektur dafür und für
die (städtischen) Umgebungen
Da dürfte noch einiges fehlen..

.. diese Dinge sind allein mit dem Kundenbegriff nicht aufzufangen.
Der Kunde ist immer ein konkretes Gegenüber, auch als Gruppe nach
Analyse der Kundenbedürfnisse wird immer auf ein aktuales Verhältnis
abgestellt.
Kontexte wie oben spielen hier keine Rolle. Besonders weil hier selten
von diesem etwas bezahlt wird.. der Bibliotheksbenutzer zahlt ja nicht
- abgesehen von der Gemeinschaftsabgabe der Steuern - dafür. Man kann
den Gewinn in Preisen oder in Nutzerzahlen nicht genau sofort
ausmachen. QM-mäßig gesehen liegt das im Bereich des Outcomes, in der
Wirkung von Bibliotheken.

Auch diese Fragen werden in letzter Zeit in Form von
Bibliothekssoziologie, anthropologischen Konzepten und
Qualitätsmessungsverfahren neu betrachtet. Daran kann man erkennen,
dass Bibliothekaren hier durchaus etwas aufgefallen ist.... nämlich
das dieser Betrachtungswinkel fehlt und wieder neu Raum finden muss.
Allerdings werden unsere Einrichtungen auch selten nach solchen
Zusammenhängen gefragt, sondern nur nach Ausleihen etc. Es ist sehr
schwierig, Konzepte mit Zielsetzungen langfristiger Art  in Gremien
und Haushaltsdebatten einzubringen. Das suchen sich
Bibliotheksleitungen nicht aus und es geht zuweilen über die Kräfte.

Allerdings, und diesen Punkt sprechen Sie ja auch an: die
Degradierung, die hier stattgefunden hat, betrifft gar nicht mal die
Bibliotheken, sondern sie betrifft den Nutzer!
Ein Kunde ist ein Konkretum, kein Konzept in Richtung Mensch,
Benutzer, Bürger. Ein Kunde hat konkrete Wünsche, will "nur" das! Und
hat das auch zu bezahlen. Wer nicht zahlen kann, ist kein Kunde.
Wenn dieser Kunde dann nicht als Bürger trotzdem Anrecht auf etwas
hat, ist er "draußen". Der Kunde der Arbeitsagentur ist hier doppelt
mittellos, er hat keine Ansprüche und er kann auch nicht zahlen, und
die Mitarbeiter der Agentur wären vielleicht gerne wieder Verwaltung
im öffentlich rechtlichen Kontext und nicht Diener der Statistik. Ich
möchte da nicht arbeiten müssen.

Deshalb nutzt der Schuss auf die Bibliotheken, die Verbände wenig.. in
der Tat werden durch Begrifflichkeiten und Statements dieser Art die
Plakate der betriebswirtschaftlichen Denkweise, die als Instrument gut
sind, aber nicht als alleinige Grundlage, noch weiterverteilt. Aber
Ursache sind sie nicht. In der Tat kann hier nur etwas helfen, was
Grundprinzipien eines öffentlich Rechtes manifestiert: ein Gesetz. Und
als zweites sind es die Bürger/innen selber, die sagen müssen, dass
sie öffentliche Güter wollen und nicht nur Kunden sind.
(Ihre Wut kann ich übrigens verstehen.. es überkommt mich auch zuweilen.. )
Herzliche Grüße
A. Kustos


Der Punkt an dem es sich reibt ist insgesamt

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: Inetbib [mailto:inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx] Im Auftrag
von peter.jobmann@xxxxxxxxxxx
Gesendet: Mittwoch, 10. Juli 2013 18:09
An: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Betreff: [InetBib] Ausschreibung dbv-Kommission Kundenorientierte
Services und Vision für deutsche Bibliotheken usw.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

        und täglich grüßt das Kundengedöns.

        Die beiden Emails, die einer Lehrbeauftragten der HAW Hamburg und
jene von Frau Schleihagen im Namen des dbv, sind der Tropfen der das
Fass auf dem I-Tüpfelchen der Ahnungslosigkeit zum Überlaufen bringt.

        Nach Jahren des Versuchs mittels eines oktroyierten Leitbildes („Code
of ethics“) den Kundenbegriff als soziale Erwartungshaltung den
Bibliotheksbesucherinnen und –besuchern und den Kolleginnen und
Kollegen in den Bibliotheken überzustülpen, gründen Sie nun eine
dbv-Kommission für kundenorientierte Services. Eine Manifestation
fachlicher Ahnungslosigkeit und zugleich ein Offenbarungseid der
verlorengegangenen Orientierung bezüglich der eigenen Rolle in der
Gesellschaft. Auf welchen Kundenbegriff berufen Sie sich denn? In der
bibliothekswissenschaftlichen Literatur werden Sie dazu ja quasi
nichts ernstzunehmendes finden. Es sei denn, wir nehmen z.B. die knapp
30 Zeilen der Definition auf dem Bibliotheksportal ernst oder jene
zwei Seiten aus „Erfolgreiches Management von Bibl. usw“ oder andere
ähnlich oberflächliche Texte. Je länger man sich mit diesem Begriff
beschäftigt, desto mehr erscheint folgende Möglichkeit für die Nutzung
plausibel: der Begriff klingt so schön. Oder anders formuliert - für
jene die sich gerne mittels ihrer Sprache von der Welt der
Nichtwissenschaftler und –wissenschaftlerinnen abgrenzen
möchten: wegen der kommunikativen Attraktivität des Kundenbegriffs.

        Managementlehre, Konsumforschung und Marketing bilden das Rückgrat
des bibliothekswissenschaftlichen Denkens. Gleichsam steckt in diesen
drei Punkten auch das ganze traurige Bibliotheksbild: das Verständnis
der Bibliotheksbesucherinnen und –besucher als Konsumentinnen und
Konsumenten. Die armseligen Instrumente für Fantasielose (z.B.: BIX
oder Bibliothek mit Qualität und Siegel), in denen fast ausschließlich
Quantität steckt und die wir der Bibliotheksumwelt konsequent als
Qualität anbieten, sind ein gutes Indiz hierfür.

        Die Soziologie des Kundenbegriffes hingegen interessiert kaum. Wie
verändern wir die Einrichtung mit dem Verständnis der
Bibliotheksbesucherinnen und –besucher als Kundinnen und Kunden? Die
auch in der bibliothekswissenschaftlichen Literatur durchaus belegbare
Komplementärrolle Bibliothekar / Leserin (und andersherum) wurde bspw.
durch nichts ersetzt. Die Funktionszuschreibung der Bibliothek in der
Gesellschaft wurde quasi einfach in die Tonne getreten und mit einem
Begriff ersetzt, der keine Rolle in der Gesellschaft beschreibt,
sondern eine Rolle auf dem Markt – dem Kundenbegriff.

        Ein weiterer Punkt: das gesetzlich zugesicherte Anrecht auf z.B. eine
Informationsdienstleistung (Bibliotheksgesetz) wird gerade vom dbv
beständig gefordert. Damit schließen Sie jedoch gerade einen Markt aus
und definieren eine Art Vertragsbeziehung. Daraus lässt sich ein
schlichter semantischer Missbrauch ableiten, ähnlich dem in den
sogenannten Arbeitsagenturen. Auch dort möchte man nichts erwerben.
Der Tauschwert für die zu erbringende Dienstleistung z.B.
Arbeitslosengeld ist bereits erbracht. Selbiges fordern Sie für
Bibliotheken und ignorieren mittels der Nutzung des Kundenbegriffs
jegliche Konsequenz.

        Diese wenigen Sätze bitte ich als kürzeste Kurzform zu verstehen.
Zahlreiche Publikationen zum Kundenbegriff existieren außerhalb des
bibliothekarischen Mantras (Managementlehre, Konsumforschung und
Marketing). Nirgendwo ist eine ähnliche Vereinfachungswut
nachzuvollziehen wie in unserer Fachwissenschaft.

        Aber verstehen Sie mich nicht falsch, gerne bewerbe ich mich um die
Mitarbeit in der Kommission. Sehr gerne helfe ich dabei aufzuzeigen,
warum diese Kommission Zeit-, Geld- und Hirnverschwendung darstellt.

        Nun noch ein paar Worte zu den Visionen für deutsche Bibliotheken u.
Informationseinrichtungen:

        Ein Blick in das Modulhandbuch des Bibliotheksstudiengangs der HAW
zeigt eines deutlich: Studierende werden keinesfalls befähigt den
Kundenbegriff zu verstehen und zu hinterfragen. Gleichwohl taucht
dieser Begriff durchgehend in diesem Studiengang auf. Studierende
sprechen wie selbstverständlich vom Bibliothekskunden und der
Bibliothekskundin. Dieser Zustand ist aus meiner Sicht nicht nur
fachlich fragwürdig, sondern vor allem moralisch. Man kann hier nicht
von der Anleitung zur wissenschaftlichen Arbeit sprechen, man muss
definitiv vom Versuch der Erziehung zu einem bestimmten persönlichen
Rollenverständnis in der Gesellschaft sprechen.

        Insofern verstehen Sie meinen Beitrag gerne als meinen Teil eines
Dialoges, der Sie dazu auffordert grundlegende fachliche und
moralische Grenzen einzuhalten und die Zukunftsgedanken auf ein
solides Fundament zu stellen, statt sich in einem oberflächlichen und
für die Zukunft des Berufsstandes gefährlichen Geschwurbel zu
verfangen.

        Beste Grüße

        Peter Jobmann
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