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Re: [InetBib] Wikipedia als Goldesel?
- Date: Mon, 22 Feb 2010 16:25:27 +0100
- From: h0228kdm <h0228kdm@xxxxxxxxxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] Wikipedia als Goldesel?
On Mon, 22 Feb 2010 13:19:00 +0100, Philipp Gahn <gahn.pth@xxxxxxx> wrote:
Demnach würde sich für Sie, Herr Umstätter, das Zitationsproblem mit der
Wikipedia erledigen? Zur Kenntnis nehmen und nicht weiter darüber reden?
Auch gut!
Sehr geehrter Herr Gahn, eigentlich hatte ich eher das Gegenteil gemeint.
Fehler in einer Enzyklopädie sind besonders wichtig aufzudecken, weil man
sich stärker darauf verlässt, als auf die Meinung eines beliebigen Autors.
Aber ist denn WP nur ein Lexikon, dem man Begriffsbestimmungen und
knappe
Beschreibungen von Sachverhalten entnehmen kann? Das kann man m.E. so
nicht
sagen. Mit der Benutzung einer Enzyklopädie überschreitet man eindeutig
die
Grenze zu dem, was man als Allgemeinwissen annehmen kann, weil darin
auch
bestimmte Perspektiven und Positionen zum Ausdruck kommen.
Es ist ja beispielsweise nicht egal, ob man sich über Begriffe wie
"Wahrheit", "Freiheit" oder auch "Sterbehilfe" in einer Enzyklopädie
marxistischer, atheistischer, christlicher oder buddhistischer
Provenienz
informiert. Man wird dazu jeweils sehr unterscheidliche Artikel erhalten
und es ist durchaus wichtig dies in einer wissenschaftlichen Arbeit zu
vermerken. Wertneutralität gibt es - das haben wir seit der Zeit der
Enzyklopädisten gelernt - eben nicht.
Da sprechen Sie zunächst ein interessantes Thema an. Dass man im
Marx-Len.-Bereich
natürlich auch versuchte (und nicht nur dort), eine gewisse
Allgemeinbildung,
Schulung und Indoktrination unter kommunistischer Perspektive zu
etablieren,
zeigt eigentlich nur, wie wichtig Enzyklopädien waren und sind,
sonst hätte man sie dazu nicht eingesetzt. Dass es da Versuche gibt, dies
auch
mit WP zu machen liegt ja nahe.
Das es keine Wertneutralität gibt ist sicher richtig.
Hier geht es aber um Objektivität, die zwar auch viele Menschen
bezweifeln,
was aber für einen Wissenschaftler eher abwegig ist, denn dann gäbe es
keine
Wissenschaft und kein Wissen. Bezüglich Wissen, Objektivität,
Konstruktivismus etc.
kann ich hier nur auf mein Buch "Zwischen Informationsflut und
Wissenswachstum"
verweisen. Das interessante Wissensanakoluth des "Ich weiß, dass ich
nichts weiß"
mit der impliziten Tatsache, dass wir mit zunehmendem Wissen auf ein immer
größeres
Meer des nicht wissen hinausschauen, und dass wir wissen, dass unser
Wissen immer auch
falsch sein kann, bedeutet nicht, dass wir nicht bestimmte Wissensbereiche
haben, die sehr nahe an die hundertprozentige Wahrscheinlichkeit heran
reichen.
Das hat etwas mit dem anakolutischen Informationsdilemma zu tun ;-)
Ansonsten hatte ich nicht in Zweifel gezogen, dass Nachschlagewerke
(wie übrigens auch Schulbücher) Fehler enthalten, auf die man aufmerksam
machen muss.
Trotzdem sollten wir auch die Schulbücher nicht abschaffen. Bei denen
übrigens die
Autoren außer der Auswahl und Zusammenstellung vergleichsweise wenig
beitragen.
Sie übernehmen meist das Wissen von vielen Generationen, ohne diese alle
einzeln
zu zitieren.
Bisweilen sprengt die WP sogar den Rahmen einer Allgemeinenzyklopädie
und
bietet Artikel von einer Länge, die sich einer Fachenzyklopädie (kaum
freilich deren Niveau) nähern.
Auch das Gattungsproblem ist also nicht eben vernachlässigbar: Sie
würden
die WP den Lexika zurechnen, ich den Enzyklopädien. Das hat z.B. die
praktische Auswirkung auf die Frage, ob man sie als Quelle angeben muss
oder nicht. WP selbst legt sich dazu nicht fest. Ein bisschen von
allem...
Der Unterschied in der Redeweise "hier irrt Brockhaus, Duden oder WP"
liegt - abgesehen von der Veränderbarkeit - tatsächlich in der
Verantwortlichkeit. Wissenschaft wird von Personen betrieben, die ihre
persönlichen Einsichten vertreten und auch ihre Fehler verantworten
müssen.
WP verantwortet nichts dergleichen.
Grüße,
Philipp Gahn
Sie haben sicher Recht, wenn Sie schreiben Wissenschaft wird von Personen
betrieben,
die ihre persönlichen Einsichten vertreten. Es ist aber nur dann
Wissenschaft, wenn
diese Einsichten objektiv auch nachvollziehbar sind. Sonst könnten die von
Ihnen
angesprochenen Fehler ja nicht verantwortet werden, und da gibt es
etliches
was heute als gesichertes Wissen angesehen werden kann und muss - was
übrigens
nicht bedeutet, dass jede neue Generation nicht alles wieder hinterfragen
muss.
Ich denke da z.B. an das heliozentrische Weltsystem, den Big Bang, den
Darwinismus
und vieles mehr.
MfG
W. Umstätter
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
[mailto:inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx] Im Auftrag von h0228kdm
Gesendet: Montag, 22. Februar 2010 11:54
An: Internet in Bibliotheken
Betreff: Re: [InetBib] Wikipedia als Goldesel?
Sehr geehrter Herr Gahn,
im Prinzip sehe ich keinen Unterschied darin zu schreiben,
hier irrt der Brockhaus, der Duden oder Wikipedia.
Wenn etwas falsch ist, ist es falsch, und muss korrigiert werden. Das
nennt man Falsifikation ;-) Wenn im gedruckten Brockhaus etwas geändert
werden sollte,
konnte das erst in der nächsten Auflage geschehen. Die Fehler des
Brockhaus sind also in Bibliotheken noch immer nachlesbar.
Bezüglich der Zitation einer Quelle hat ja E. Garfield mal drei Gruppen
der Uncitedness aufgezählt. Lexika gehören auch dazu. Sonst käme man aus
dem zitieren ja nicht mehr heraus. Lexika zitiert man normalerweise nur
dann,
wenn sie wider erwarten einen Fehler enthalten.
Alles andere gilt mehr oder minder als Allgemeinwissen.
Das war ja auch das Ziel der Enzyklopädisten, eine solche Grundlage zu
schaffen, und hier liegt auch der Grund, dass man die Autorenschaft bei
Enzyklopädien so weit zurückgenommen hat. Sie sollten nicht die Ansicht
bestimmter Autoren enthalten, sondern, so weit möglich, das
Allgemeiwissen.
Das Problem ist leider noch ein anderes. Das Internet ist so
umfangreich,
dass es neben unzähligen wichtigen Informationen eine schier unendliche
Menge
an Unsinn (früher sagte man Schund dazu) enthält. Vieles davon zu
falsifizieren
lohnt sich meist nicht, weil eszu abwegig ist, und sich selbst ad
absurdum
führt. Unserer Zeit ist zu kostbar, um auf jeden Quatsch argumentativ
einzugehen.
Das hat auch etwas mit der Uncitedness 4 zu tun, die ich mir erlaubt
habe,
den drei von E. Garfield hinzuzufügen.
Dass man Wikipedia als Quelle heute nicht mehr einfach ignorieren kann,
steht meines Erachtens außer Frage.
MfG
W. Umstätter
On Mon, 22 Feb 2010 08:55:00 +0100, Philipp Gahn <gahn.pth@xxxxxxx>
wrote:
Lieber Herr Allers,
Sie mahnen zurecht die Auseinandersetzung in der Sache an. Aber ist
die denn schon erfolgt? M.E. wurde der wesentliche Punkt, der WP für
den wissenschaftlichen Gebrauch problematisch macht, noch kaum
berührt. D.i. nicht nur das
Prinzip
der nicht namentlichen Zeichnung, sondern idealiter der kollektiven
Verfasserschaft. Hier wird ein Grundprinzip wissenschaftlichen
Arbeitens,
das da lautet: jeder ist für den Mist, den er verzapft hat, auch
selbst verantworlich, nicht nur negiert, sondern geradezu umgekehrt.
Denn, so
ich
Fehler in einem WP-Artikel entdecke, bin ich sogleich aufgerufen,
diesen
zu
verbessern und ich vergehe mich sozusagen an der Community, wenn ich
das nicht tue.
Natürlich entfällt die Namenszeichnung auch bei anderen Enzyklopädien.
Aber Fehler, die sich in diesen finden, fallen auf den Verlag oder auf
die
Redaktion zurück. Der Satz: An dieser oder jener Stelle irre der
Brockhaus,
ist eine sinnvolle Redeweise, obwohl natürlich nicht jerder einzelne
Mitarbeiter des Verlages mit dem Fehler im Lexikoneintrag konform
gehen muss oder gar den Fehler verursacht hat. Aber Redaktion und
Verlag repräsentieren das Unternehmen insgesamt und stehen deshalb
auch für Fehler ein. Auf die WP gewendet ist eine solche Aussage nicht
sonnvoll, weil hier niemand für Fehler einsteht. Demgegenüber ist es
nachrangig, ob WP-Artikel besser oder gleichwertig sind im Vergleich
zu anderen Nachschlagewerken. Das WP-Prinzip scheint
mir
korrumpierend für die Wissenschaft.
Dass es die Möglichkeit gibt, die Autorschaft eines Artikels oder
gewisser
Texteile zurückzuverfolgen, ändert m.E. daran nichts. Denn 1. hat das,
wie
bereits bemerkt wurde, seine Grenzen und 2. ist nicht einzusehen,
warum
man
einen Grundkurs "Philologische Edition" belegt haben muss, um einen
simplen
Lexikonartikel zu zitieren. Ein Student, der seinem Dozenten eine
Hausarbeit mit den Worten übergäbe: "Die an sich ja nicht wichtigen
Zitate
und Literaturangaben finden Sie gut versteckt in der kleinen Tasche,
die ich auf die Rückseite des Einbanddeckels geklebt habe", würde
wahrscheilich
nicht nur einen fragenden Blick ernten, sondern sogleich die Arbeit
zurückerhalten.
Beste Grüße
Philipp Gahn
-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
[mailto:inetbib-bounces@xxxxxxxxxxxxxxxxxx] Im Auftrag von Heinrich
Allers
Gesendet: Samstag, 20. Februar 2010 23:42
An: Internet in Bibliotheken
Betreff: Re: [InetBib] Wikipedia als Goldesel?
Manfred Nottebrock meinte:
Es ist befremdlich, dass auf die abwegigen Einlassungen eines
fundamentalistisch angehauchten "Querdenkers" hier so ausführlich
eingegangen wird. ...
Mir scheint, daß "befremdlich" hier das falsche Wort ist. Stattdessen
wäre
vielleicht das Wort "erhellend"
passend: der Ablauf der Diskussion ließ doch die Abwegigkeit der
Positionen von Herrn Röhler
zunehmend klarer erkennen! Gut, der Google-Zugriff auf biographische
Details von Herrn Röhler macht
nun einiges verständlicher und hätte eher zu einer angemessenen
Einschätzung seiner Einlassungen
geführt, aber ich meine, daß es _für_ die Diskussionskultur in INETBIB
spricht, daß die Disqualifikation
von Andreas Röhler nicht via biographischer Recherche erfolgte, sondern
auf dem Wege der
Auseinandersetzung in der Sache.
Mit besten Grüßen von
Heinrich Allers
allers@xxxxxxxxxxx * http://www.h-allers.de
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