[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]
[InetBib] Ulmer-Brief: Verfassungsbruch?
- Date: Tue, 31 Mar 2009 11:03:10 +0200 (CEST)
- From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Ulmer-Brief: Verfassungsbruch?
Sehr geehrter Herr Ulmer,
Verfassungsbruch ist ein großes Wort, das man mit Bedacht und Verantwortung
gebrauchen sollte.
Die Forderung nach Open Access als Verfassungsbruch zu kennzeichnen, liegt nach
meinem Verständnis der einschlägigen Grundrechte neben der Sache.
Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schützt den Wissenschaftler in
Forschung und Lehre umfassend. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass auch
die Entscheidung, wo publiziert wird, Sache des Wissenschaftlers sein sollte.
Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schützt aber auch den Wissenschaftler
bei der wissenschaftlichen Literaturrecherche. Zugangsmonopole zu
wissenschaftlicher Literatur können hier die freie und ungehinderte Ausübung
des Grundrechts empfindlich stören.
Im Bereich der gedruckt vorliegenden Literatur schützt der
Erschöpfungsgrundsatz in § 17 Abs. 2 UrhG den Zugang zu Büchern und
Zeitschriften vor einem limitierenden Zugriff der Verwerter und sichert so die
Recherchefreiheit des Wissenschaftlers, eine notwendige Voraussetzung jeder
Publikationsfreiheit.
Im Bereich der vornehmlich digital vorliegenden Werke fehlt eine dem
Erschöpfungsgrundsatz entsprechende Regel. Hier setzt das
Zweitveröffentlichungsrecht an. Es gibt dem Wissenschaftler die Möglichkeit,
seine Werke nach einer gewissen Frist unabhängig von der konkret geschlossenen
vertraglichen Vereinbarung, erneut und für jedermann frei zugänglich zu
publizieren.
Es ist ein Recht, keine Pflicht. Die Gewährung eines Rechts, also eines Mehr an
Freiheit, kann für den Wissenschaftler keine Einschränkung seiner
Publikationsfreiheit bedeuten.
Für die Verleger freilich stellt es sich als Eingriff in ihr Grundrecht auf
Eigentum aus Art. 14 GG und möglicherweise auch in ihre Berufsfreiheit aus Art.
12 GG dar. Dieser Eingriff ist aber verhältnismäßig.
Die Verwertung wissenschaftlicher Literatur ist etwas anderes als die
Verwertung etwa von Star Wars oder Harry Potter. Es gibt keine Freiheit der
Unterhaltung, die notwendigerweise den Zugang zu einschlägiger Literatur
voraussetzt, wohl aber eine Freiheit der Wissenschaft, die ohne zugängliche
Quellen nicht leben und atmen kann.
Es ist Sache des Gesetzgebers, hier angemessene Bedingungen zu garantieren.
Dazu gehört ein schonender Ausgleich aller beteiligten Rechtspositionen. Durch
eine Embargofrist wird die Investition des Verlages geschützt, durch das bloße
Veröffentlichungsrecht die Freiheit des Wissenschaftlers, selbst über das
Ausmaß seiner Sichtbarkeit zu entscheiden. Eben das ist Publikationsfreiheit.
Das Zweitveröffentlichungsrecht ist von der Überzeugung getragen, dass es Sache
der Wissenschaft selbst sein muß, über die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit
ihrer Publikationen zu entscheiden. Das genau ist die im Grundrecht der
Wissenschaftsfreiheit letztlich gewährleistete Selbstorganisation der
Wissenschaft, die der Gesetzgeber ermöglichen, aber eben nicht selbst in die
Hand zu nehmen hat.
Die Verfassung gibt vor diesem Hintergrund keine Freiheit, mit
wissenschaftlicher Literatur durch künstliche Verknappung überhohe Renditen zu
erzielen. Verleger mögen diese Aussage vielleicht anstößig finden, sie folgt
aber aus der durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verstärkten
Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 Abs. 2 GG.
War es wegen des Erschöpfungsgrundsatzes zum Zeitpunkt der lediglich gedruckt
vorliegenden Literatur nicht notwendig, hier gesetzgeberisch regulierend
einzugreifen und das Urheberrecht im Sinne der Wissenschaftsfreiheit
auszugestalten, so stellt sich im digitalen Zeitalter diese Notwendigkeit mit
Dringlichkeit.
Ich sehe keinen Grund, warum wissenschaftliche Verlage sich hier verweigern
sollten.
Es kann nicht angehen, einerseits von der Wertschätzung der Wissenschaft zu
leben, Zeitschriftentitel und Schriftenreihen haben daher und zwar nur daher
ihren Wert, andererseits der Wissenschaft insbesondere im digitalen Bereich die
Zugänglichkeit ohne Not zu erschweren.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass ein Zweitveröffentlichungsrecht nicht an der
Tatsache der öffentlichen Finanzierung von Forschung hängen kann. Es sollte für
JEDEN wissenschaftlich arbeitenden Autor gelten. Privatgelehrte sind im
Vergleich zu Hochschullehrern nicht Grundrechtsträger zweiter Klasse. Es gibt
nur ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit. Und das ist ein Jedermann-Recht.
Ob der Gesetzgeber den wissenschaftlichen Autoren tatsächlich ein
Zweitveröffentlichungsrecht zubilligen wird, vermag ich nicht zu sagen. Es kann
gut sein, dass die Überzeugungsarbeit interessierter Kreise dieses zu
verhindern weiß. Damit werden gewisse Entwicklungen aber vielleicht eher
beschleunigt. Entwicklungen, die manchen wissenschaftlichen Verlagen vielleicht
nicht lieb sind.
Sichtbarkeit ist die Währung der Wissenschaft. Wer sie gewährt, gewinnt
Autoren, wer sie nimmt, wird verschwinden. Wenn nicht der Gesetzgeber es
richten wird, der Markt wird es ganz sicher tun.
Damit hier kein Mißverständnis auftritt. Die Wissenschaft braucht Unternehmen,
die den Publikationsprozess professionell besorgen. In diesem Sinne wird es
Verlage immer geben. Die Rendite dieser Verlage wird aber nicht mehr durch die
Beherrschung von content, sondern durch die Leistung von Mehrwert
erwirtschaftet. Im Zeitalter des Internet und der umfassenden Vernetzung wird
die Wissenschaft die Beherrschung des content durch kommerzielle Verwerter auf
Dauer nicht mehr akzeptieren. Der Mehrwert, den ich meine, kann auch das
gedruckte Buch sein, das an ein Wert an sich ist und durch eine pdf-Datei in
keiner Weise substitutiert wird.
Ein Letztes noch: Sie sagen, Autoren müssen einen Vertrag nicht unterschreiben.
Das stimmt. Aber wenn Verlage bestimmte Zeitschriften, deren Wert sich, wie ich
oben schon geschrieben habe, allein von der Wissenschaft herleitet, wenn also
Verlage den Zugang zu diesen wichtigen Zeitschriften von Bedingungen abhängig
machen, die Autoren nicht verhandeln können, dann ist die Vertragsfreiheit
gestört, sofern der Autor aus wissenschaftsimmanenten Gründen auf eine
Publikationen in eben dieser Zeitschrift nicht verzichten kann. Er wird zur
schwächeren Vertragspartei. Wenn hier der Gesetzgeber durch die Gewährung eines
Zweitveröffentlichungsrechts helfend zur Seite steht, ist das in Ordnung. Im
Bereich des Verbraucherschutzsrechts finden sich vergleichbare Regelungen.
Langer Reder kurzer Sinn: Die wissenschaftlichen Verlage tun gut daran, einen
ehrlichen Dialog mit den Autoren zu beginnen und ihnen eine angemessene
Sichtbarkeit ihrer Texte zu ermöglichen. Dazu gehört heute auch Open Access.
Nebelkerzen und die unangemessene Rede von Verfassungsbrüchen sind hier nicht
zielführend. Seien Sie sicher, wissenschaftliche Autoren denken bezeiten nach
und sind fähig, sich des eigenen Verstandes ohne Hilfe anderer zu bedienen. Es
wäre in der Tat ein herber Kulturverlust, in der künftigen Welt des
wissenschaftlichen Publizierens auf die Erfahrungen der Vergangenheit
verzichten zu müssen. Ich bin überzeugt, dass der Verlag mit Tradtion auch eine
Zukunft hat. Aber die hat er nur mit und nicht gegen seine Autoren.
Freundliche Grüße
Eric Steinhauer
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.