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[InetBib] Wikipedia IST höchst problematisch - Fallbeispiele
- Date: Sat, 8 Dec 2007 22:17:27 +0100
- From: "Stefan Weber" <cyberwriter@xxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Wikipedia IST höchst problematisch - Fallbeispiele
Sehr geehrter Herr Schindler, liebe ListendiskutantInnen,
ich habe mir gerade die Reaktionen auf die von Prof. Maurer, von mir und
einigen anderen verfasste Studie über Google durchgelesen. Herr Schindler von
Wikimedia Deutschland unterstellt etwa Herrn Maurer, es gehe ihm "weniger um
Wikipedia und Google als um Traumabewältigung".
Ich erlaube mir, zu dieser Spekulation mit einer Analogie Stellung zu nehmen:
Seit 2002 habe ich knapp 60 Plagiatsfälle in Wissenschaft und Journalismus
aufgedeckt. Das beste Ablenkungsmanöver, um die Fälle zu bagatellisieren (und
ich kann natürlich JEDEN einzelnen Fall mit zahlreichen Scans oder Kopien
beweisen!), sind persönliche Untergriffe: Angebliche Rachegelüste von mir,
"Rächer der Lehrstuhllosen", "Nestbeschmutzer" u. v. a. Jene Professoren, die
besonders deftige Plagiate "übersehen" haben, schicken mich auch mal gerne
medial in die Psychotherapie. Nun hat also Hermann Maurer ein "Trauma", weil er
eine These aufgestellt hat.
Ich würde mir wünschen, dass Sie, Herr Schindler, sachlich zu den erhobenen
Zahlen und den aufgestellten Thesen Stellung nehmen. Dabei könnten Sie auch
gleich meine Kritik der Wikipedia mit einbeziehen, die ich in meinem Buch "Das
Google-Copy-Paste-Syndrom" in einem Kapitel vorgestellt habe. Ich spreche darin
vom systematischen Quellenproblem des Lexikons. Die Wikipedia-Gemeinde hat im
Anschluss (auf verräterische Art und Weise?) komplett geschwiegen.
Wikipedia spielt für mich eine höchst problematische Rolle in der gegenwärtigen
Wissenskultur - und das zumindest auf Grund von zwei Sachverhalten:
1) Meine Fallbeispiele weisen darauf hin, dass zahlreiche Wikipedia-Artikel
selbst Print-Plagiate oder zumindest -Paraphrasen sind, dass also die Verfasser
von Wikipedia-Ursprungstexten selbst mit den wissenschaftlichen
Arbeitstechniken nicht oder nur rudimentär vertraut waren und schlichtweg die
Gutenberg-Galaxis "geplündert" haben.
2) Referenzen auf die Wikipedia in neuen Arbeiten sind IMMER problematisch: Ich
spreche hier nicht von verdeckten Referenzen, also von Plagiaten, auch nicht
von Paraphrasen, und nicht einmal von direkten Zitaten. Ich habe gelesen, dass
auch Herr Schindler dagegen ist, dass aus der Wikipedia direkt zitiert wird.
Schön. - Ich spreche vielmehr vom Entstehen eines Wissenskosmos zweiter bis
n-ter Ordnung (kategorial anders und zumindest wesentlich rascher als in der
Printkultur!), in dem sich immer mehr Unschärfen einstellen. Ein Beispiel:
Wikipedia-Autor N. N. fasst einen Test eines Computermagazins zusammen
(vielleicht hat er selbst schon nicht das Original gelesen, sondern einen
Blog-Eintrag kopiert...). Fortan wird als Quelle für die Untersuchung nur noch
die Wikipedia indirekt zitiert. In der vierten Seminararbeit zum Thema findet
sich eine abweichende Realität im Vergleich zum Computermagazin. Ein anderes
Beispiel: Wikipedia zitiert indirekt ohne Link eine UNO-Definition (woher genau
eigentlich?). Ab sofort wird diese zur Wikipedia-Definition. Bei der dritten
Paraphrase der Paraphrase haben wir eine neue Definition, und die UNO ist
längst vom Tisch. Ich könnte ihnen dutzende konkrete Beispiele dieser Art
nennen, die ich in den vergangenen Jahren mit Screenshots gesichert habe. -
Willkommen im digitalen Konstruktivismus!
Falls Sie mal sehen wollen, welche problematischen Texte im Sinne einer
Plünderung der Gutenberg-Galaxis in der Wikipedia stehen, dann lesen Sie mal
die Einträge zu "Fiktionalisierung", "Virtualisierung" oder
"Metamedialisierung". Ich kann es beurteilen, denn die Texte sind Paraphrasen
einer meiner Print-Veröffentlichungen (Sammelband zum Konstruktivismus, 1999,
diese Quelle wird bei diesen Einträgen nie erwähnt). Einige unsinnige Sätze
wurden eingefügt. So wird etwa bei "Metamedialisierung" auf Niklas Luhmanns
"Die Realität der Massenmedien" verwiesen, was in diesem Kontext beliebiger
Bullshit ist. Den Begriff Meta-Medium und Meta-Medialisierung hat u. a. Klaus
Merten geprägt (den ich korrekt zitiere). Dieser wird allerdings in der
Wikipedia nicht erwähnt. Warum? Weil eben der Ursprungstext selbst eine
problematische Wissensverschiebung darstellt und wohl das Ergebnis
studentischen Paraphrasierens ist...
Beim Eintrag "Autologisierung" wird zwar erstmals meine Print-Quelle in der
Literaturliste angegeben, allerdings kann man bei dem später erfolgten Einschub
des Norbert-Bolz-Satzes nur laut lachen. Der hat nämlich mit dem Konzept
überhaupt nichts zu tun. Beim Eintrag "Kybernetisierung" ist das Zitat falsch.
Freilich hat das nicht Herr Eisendle geschrieben, sondern ich. Und so ginge es
munter weiter. All das hat über Jahre in der Wikipedia überlebt, obwohl ich
Verwandtes schon 2005 auf Telepolis "geoutet" habe.
Noch ein umgekehrtes Beispiel gefällig (die Wikipedia als die Beklaute - nur:
was unternimmt sie dagegen)?
Bei einem Web 2.0-Projekt an Schulen wurden Texte aus der Wikipedia
wortwörtlich unzitiert übernommen, vgl.
http://www.web20klasse.at/schoolwiki/index.php/Nationalpark_Ges%C3%A4use
("Lage") mit http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalpark_Ges%C3%A4use
("Geographie"). Die Wikipedia steht bekanntlich unter der GNU. Diese erlaubt
die Übernahme von Inhalten ausdrücklich nur unter der Bedingung der
Beibehaltung dieser Lizenz. Auf der SchoolWiki-Website ist keine
Lizenzbestimmung dieser oder einer anderen Art zu finden, siehe
http://www.web20klasse.at/schoolwiki/index.php/Hauptseite. Auf der Projektseite
finden sich noch zahlreiche weitere Plagiate. Und natürlich behaupten in
Österreich alle - vom Ministerialrat bis zur Medienwissenschaftlerin -, das
Projekt sei ein voller Erfolg. Es wurde ja auch mit Mitteln des
Unterrichtsministeriums finanziert, und eine PR-Agentur sorgte für wohlwollende
Berichterstattung.
Ist das die Google-Wikipedia-Galaxis, die wir wollen?
Wahrscheinlich alles ganz harmlos im digitalen Zeitalter, Fliegenbeinzählerei
eines peniblen Print-Nostalgikers. Aber war Wissenschaft nicht früher einmal,
wenn sie einen gewissen Anspruch hatte, präzise?
LG
sw
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Priv. Doz. Dr. Stefan Weber <> Publizistik & Medienforschung
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Tel. 0049/(0)351/442 57 42 Mobil (österr.) 0043/(0)664/13 13 444
Publikationsliste: http://www.kfj.at/publikationsliste-stefanweber.htm
2008 bei VaBene: <Die Medialisierungsfalle>
http://www.amazon.de/dp/3851672097
http://www.vabene.at/collect/analyse/209-1.htm
2007 bei Heise: <Das Google-Copy-Paste-Syndrom>
http://www.amazon.de/gp/product/3936931372
http://www.dpunkt.de/buecher/3-936931-37-2.html
LV 2007/2008 Angewandte Kunst/Medientheorie:
http://sahara.uni-ak.ac.at/4DCGI/le_lv_display?S40256??&1RK56a21
http://sahara.uni-ak.ac.at/4DCGI/le_lv_display?S40257??&1E56z2Du
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Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.