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Re: [InetBib] Wissen und Klassenrassismus



Sehr geehrte Frau Da Rin,
liebe Listenmitglieder!

Ich bin sehr froh, dass Sie, Frau Da Rin, auf Bourdieu verwiesen haben und dass Sie zudem auf nicht verletzende Art (somit auch Diversity im Blick habend) Ihre Mail verfassten.

Bereits gestern habe ich überlegt, ob ich die Frage "Wer zerstört eigentlich Neugier und Interesse in Lehr- und Unterrichtsprozessen bzw. generell während des Aufwachsens und Erwachsenwerdens?" in die Diskussion einbringe. Hiermit will ich dies nun tun. Die Frage ist natürlich alt und wird sicherlich die Menschheit ewig beschäftigen. Man kann weiter fragen: Wer entfremdet eigentlich Kinder von sich selbst? Und: Warum müssen sich Erwachsene erst später wieder selbst finden, sich selbst erkennen? Und: Welche Folgen hat es, wenn Kinder von sich entfremdet wurden und später als Erwachsene abwehren, regeln, ordnen, bestimmen müssen?

Diese Fragen haben verschiedene Pädagogen, Psychologen usw. gestellt und man kann ihre Überlegungen nachlesen.

Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes
Heinrich Jacoby: Jenseits von "begabt" und "unbegabt"
Ekkehard von Braunmühl: Antipädagogik

Erwachsene, die Kinder verantwortlich betreuen wollen, sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein: Man kann durch Erziehung Menschen zerstören, sie von sich entfremden, sie abrichten usw. Man kann sie aber auch respektieren, ihre besonderen Denk- und Lösungsstrategien akzeptieren, ihr individuelles Hinter- und Nachfragen wertschätzen usw. Pädagogik - sowohl die schlechte als auch die gute - lebt von unseren Menschenbildern, d.h., als wen sehen wir den Lernenden an? Und an den Menschenbildern können wir erkennen, welche Denkungsart der jeweilige Pädagoge vertritt.

Ich halte es für bedenklich, wenn man Lernende permanent als "dumm" darstellt oder nur eine einzige Art zu lernen als die einzig richtige postuliert. In der Pädagogik (also in Lehr- und Unterrichtsprozessen) sollten eigentlich heute nicht mehr die Macht des Lehrenden und die Ohnmacht der Lernenden konstruiert werden. Sicherlich erleben noch immer - und das leider - zahlreiche Kinder eine Macht-/Ohnmacht-Pädagogik. Doch möchte ich fragen: Wie sollen junge Menschen in einer solchen Sozialisationssituation den Mut wiederfinden können, selbst und empathisch zu denken?

So nur einige bescheidene Gedanken.

Mit freundlichen Grüßen
[Auf Wunsch des Verfassers anonymisiert]



Sandra Da Rin, Inst. f. Emp. Wirtschaftsf. schrieb:
Sehr geehrter Herr Steinhauer

Ich bin mit Vielem einverstanden, was Sie schreiben, insbesondere
bzgl. der Verflachung des Wissens. Wenn Sie jedoch von "Unterschichten-TV" und "promovierten Proleten" sprechen, muss ich Ihnen mit dem Bildungssoziologen Pierre Bourdieu entgegen halten, dass Sie einen leider erschreckend weit verbreiteten "Klassenrassismus" (P. Bourdieu. Die feinen Unterschiede. F/M: Suhrkamp 1982) vertreten. Gerade Jura-Studierende stammen oftmals aus bildungsnahen Familien, wie etliche Studien aus der Hochschulforschung belegen. So zerfällt das Bild des promovierten Proleten, der lieber Porsche fährt als sich für Gerechtigkeitsfragen zu interessieren.

Zudem ist die Aussage, "Neugier ist eine unvertretbare Handlung. Sie ist entweder da oder nicht. Man kann sie stimulieren, aber nicht erzeugen" schlichtweg falsch. Neugier hat sehr viel mit den Lebensumständen zu tun, in der jemand aufwächst. Und diese Lebensumstände werden sehr stark von gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt, durch die Lebenschancen ungleich (ungerecht) verteilt werden. Die Verantwortung dafür kann nicht einfach den Eltern, womöglich noch den Proleten-Eltern zugeschoben werden. Neugier hat mit Lebenslust und Lebensgestaltungslust zu tun. Diese Lust wiederum ist nur möglich, wenn man überhaupt das Gefühl hat, man kann etwas gestalten im (eigenen) Leben, man hat Einflussmöglichkeiten. Und dieses Gefühl, Einfluss, einen Gestaltungsspielraum zu haben, hängt mit der sozialen Herkunft zusammen (vgl. z.B. René Levy et al. Alle gleich? Soziale Schichtung, Wahrnehmung und Verhalten. Zürich: Seismo Verlag 1998).

Diese Zusammenhänge sind wenig bekannt bzw. die gewohnten Denk- und Wahrnehmungmuster wehren sich dagegen, solche Zusammenhänge überhaupt erkennen zu wollen. Denn dann müssten wir unsere Vorstellungen gerade von Bildung (was ist das und wer hat sie?) ziemlich revidieren bzw. den Zugang zu und Umgang mit Wissen und Bildung mit gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen verknüpfen. Und wer hätte daran ein Interesse? Oder andersrum: wer hat ein Interesse daran, dass Bildung immer noch und immer wieder mit allein mit individueller Intelligenz und Begabung und elterlicher Förderung verbunden bleibt?

Ich empfehle Ihnen die Lektüre Bourdieus, da sie sehr erhellend ist hinsichtlich all dieser Zusammenhänge.

Mit freundlichen Grüssen
Sandra Da Rin


From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
Subject: Re: [InetBib] Wikipedia, Google und die Studierenden 2015+

... das Unterschichten-TV.

..."promovierten Proleten"

...Dieses Interesse speist sich letztlich aus ganz intrinsischen Motiven und
Leidenschaften, vor allem aus Neugier. Und diese Neugier ist eine
unvertretbare Handlung. Sie ist entweder da oder nicht. Man kann sie
stimulieren, aber nicht erzeugen.


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8006 Zuerich



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