Sehr geehrter Herr Steinhauer
Ich bin mit Vielem einverstanden, was Sie schreiben, insbesondere
bzgl. der Verflachung des Wissens. Wenn Sie jedoch von
"Unterschichten-TV" und "promovierten Proleten" sprechen, muss ich
Ihnen mit dem Bildungssoziologen Pierre Bourdieu entgegen halten, dass
Sie einen leider erschreckend weit verbreiteten "Klassenrassismus" (P.
Bourdieu. Die feinen Unterschiede. F/M: Suhrkamp 1982) vertreten.
Gerade Jura-Studierende stammen oftmals aus bildungsnahen Familien,
wie etliche Studien aus der Hochschulforschung belegen. So zerfällt
das Bild des promovierten Proleten, der lieber Porsche fährt als sich
für Gerechtigkeitsfragen zu interessieren.
Zudem ist die Aussage, "Neugier ist eine unvertretbare Handlung. Sie
ist entweder da oder nicht. Man kann sie stimulieren, aber nicht
erzeugen" schlichtweg falsch.
Neugier hat sehr viel mit den Lebensumständen zu tun, in der jemand
aufwächst. Und diese Lebensumstände werden sehr stark von
gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt, durch die Lebenschancen
ungleich (ungerecht) verteilt werden. Die Verantwortung dafür kann
nicht einfach den Eltern, womöglich noch den Proleten-Eltern
zugeschoben werden.
Neugier hat mit Lebenslust und Lebensgestaltungslust zu tun. Diese
Lust wiederum ist nur möglich, wenn man überhaupt das Gefühl hat, man
kann etwas gestalten im (eigenen) Leben, man hat
Einflussmöglichkeiten. Und dieses Gefühl, Einfluss, einen
Gestaltungsspielraum zu haben, hängt mit der sozialen Herkunft
zusammen (vgl. z.B. René Levy et al. Alle gleich? Soziale Schichtung,
Wahrnehmung und Verhalten. Zürich: Seismo Verlag 1998).
Diese Zusammenhänge sind wenig bekannt bzw. die gewohnten Denk- und
Wahrnehmungmuster wehren sich dagegen, solche Zusammenhänge überhaupt
erkennen zu wollen. Denn dann müssten wir unsere Vorstellungen gerade
von Bildung (was ist das und wer hat sie?) ziemlich revidieren bzw.
den Zugang zu und Umgang mit Wissen und Bildung mit gesellschaftlichen
Ungleichheitsstrukturen verknüpfen. Und wer hätte daran ein Interesse?
Oder andersrum: wer hat ein Interesse daran, dass Bildung immer noch
und immer wieder mit allein mit individueller Intelligenz und Begabung
und elterlicher Förderung verbunden bleibt?
Ich empfehle Ihnen die Lektüre Bourdieus, da sie sehr erhellend ist
hinsichtlich all dieser Zusammenhänge.
Mit freundlichen Grüssen
Sandra Da Rin
From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
Subject: Re: [InetBib] Wikipedia, Google und die Studierenden 2015+
... das Unterschichten-TV.
..."promovierten Proleten"
...Dieses Interesse speist sich letztlich aus ganz intrinsischen
Motiven und
Leidenschaften, vor allem aus Neugier. Und diese Neugier ist eine
unvertretbare Handlung. Sie ist entweder da oder nicht. Man kann sie
stimulieren, aber nicht erzeugen.
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