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Re: [InetBib] Klöster müssen spraren



Sehr geehrter Herr Gahn,

Sie schreiben:

Dass wir es in der causa Eichstätt mit einem Medienhype zu tun
haben, zeigt ein Vergleich mit den Verkaufsideen des Herrn
Oettinger in der LB Karlsruhe. Dieser tatsächliche Skandal wird -
gemessen am Grad der Aufmerksamkeit - mit den Eichstätter
Vorkommnissen praktisch auf eine Stufe gestellt. Es mögen in
Eichstätt Dinge vorgekommen sein, die nicht hinnehmbar sind. Wie
gesagt: ich weiß das nicht und mag darüber nicht urteilen. Aber für
die Wertung, die die Sache in der Öffentlichkeit bekommen hat,
fehlt mir jedes Verständnis (mal ganz abgesehen von den vielen
ekelhaften Vorverurteilung all derjenigen, die ganz genau Bescheid
zu wissen meinen). Ich bekomme heute von Leuten Zeitungsausschnitte
aus ihren Tageszeitungen über die schlimmen, schlimmen
Wegwerfaktionen in Eichstätt zugesandt mit der entsetzten Anfrage
an mich, wie so etwas möglich sei. Mit denselben Leuten saß ich
noch vor ein paar Monaten an einem Tisch und mußte ihnen darlegen,
warum der geplante Verkauf wertvoller Handschriften der LB
Karlsruhe wirklich keine gute Idee war (so vorsichtig musste man
über diesen Wahnsinn reden).

Mich wundert das gar nicht. Schön für Sie, daß Sie Ihre Empörung so
fein dosieren können, und die hausgemachten Skandale gar nicht erst
als solche wahrnehmen. Aber die Leute, mit denen Sie da noch vor ein
paar Monaten an einem Tisch saßen und die Ihnen jetzt entsetzte
Anfragen schicken, wie so etwas möglich sind, diese Leute haben
vielleicht damals durchaus - möglicherweise zum erstenmal - etwas
begriffen von dem, was in der ganzen Diskussion um die Causa Karlsruhe
ja auch vermittelt werden sollte, nämlich Respekt vor gewachsenen
Sammlungen, Wahrnehmen von Büchern und Handschriften als
Kulturgut, das im Ensemble nicht nur Texte, sondern auch Lebens-
geschichte der jeweiligen Besitzer und Leser transportiert.

Diese Leute verstehen - völlig zu Recht - nicht, wieso die Bibliothekare
laut aufheulen, wenn man staatlicherseits ihre kostbaren Handschriften
(das "alte Papier im Keller", wie es der FDP-Justizminister Prof. Dr.
Ulrich Goll verächtlich genannt hatte) verscherbeln will, während
dieselben Leute allenfalls peinlich berührt schweigen oder nun gar von
"Medienhype" sprechen, wenn - frei nach dem Motto "Neue Besen
kehren gut" - eine neue Bibliotheksdirektorin die fachlich verantworteten
Erwerbungsentscheidungen ihres mit Festschrift und allem PiPaPo
in Ehren verabschiedeten Vorgängers im Amt kurzerhand über den
Haufen wirft, groß "ausmistet" und 100.000 Bücher aus den
Kapuzinerklöstern Bayerns auf den Müll wandern lässt und von dort
in die Müllverbrennungsanlage. 

Wenn dabei - nach dem Motto "Wo gehobelt wird, da fallen Späne" 
auch Drucke des 17. Jahrhunderts in den Containern landen, dann 
sorgt das mit Recht in der Presse für Aufsehen. 

Und wenn das Auflösen und Verscherbeln von als Schenkung
übereigneten und angenommenen Sammlungen, die dazu bestimmt
waren, das Profil einer schon bestehenden Sammlung von Renommee
zu erweitern [1] mit dem allen Bemühungen um die Gewinnung von
Mäzenen ins Gesicht schlagenden Satz gerechtfertigt wird,
"Geschenkt ist geschenkt, und mit Geschenken kann eine Bibliothek
machen, was sie will", dann ist der angerichtete Flurschaden immens.
Wer um die enge Verbindung der Universitätsbibliothek Eichstätt-
Ingolstadt mit dem Musikantiquariat und Verlag Hans Schneider,
Tutzing, weiß, die vor 30 Jahren begann und deren Frucht zahlreiche
schön ausgestattete Veröffentlichungen in der Reihe "Eichstätter
Abhandlungen zur Musikwissenschaft" waren, wer die historische
Bedeutung des in Eichstätt verwahrten BUCHARCHIV HANS
SCHNEIDER. Musikantiquariat und Verlag. 1949-2002." kennt [2], das
in der Ägide Holzbauer bibliographisch erfasst und dokumentiert wurde,
der kann sich nur an den Kopf fassen, wie dieses Erbe und diese Tradition
in Eichstätt in jüngster Zeit mit Füßen getreten und mit welcher Unsensibilität
der verdiente Musikverleger, Mäzen und Ehrendoktor der Universität
Eichstätt, Prof. Schneider, unter der neuen Bibliotheksleitung behandelt
wurde, der kann auch verstehen, daß jemand wie Holzbauer sich um sein
Lebenswerk betrogen sieht. 

Daß viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der UB Eichstätt darüber wohl 
ebenso unglücklich sind, wird man sich denken können. So gibt es 
vertrauliche Hinweise, dass Mitarbeiter hinter dem Rücken der Chefin von 
dieser zur Vernichtung bestimmte Bücher in den Bestand eingegliedert 
haben, weil sie die rigorosen Vorgaben für überzogen hielten.

Wer die mediale Aufmerksamkeit im einen Fall (Causa Karlsruhe) einfordert
und erhält, der darf sich nicht wundern, bei nächster Gelegenheit selbst im
Zentrum des Medieninteresses und öffentlicher Kritik zu stehen, wenn die
eigenen Berufskollegen schlampig mit dem ihnen anvertrauten Kulturgut
umgehen. "Rigorismus, hervorgerufen durch Haushaltspanik, läßt heut-
zutage leider häufiger bibliothekarische Vorsätze über den Haufen werfen",
sagte Jochen Bepler. Und weiter: Er könne sich vorstellen, dass Reich
Sachzwänge zu dieser Art Notwehrhandlung gezwungen haben könnten
und dass sie nicht unbedingt alleine gehandelt habe. "Bücher kosten eben
Geld und das nicht nur beim Erwerb." Die verbreitete "Wagenburgmentalität"
hilft da nicht weiter und vergrößert den Vertrauensverlust nur noch. Herrn
Bepler ist zu danken, dass er dieses Thema aufgegriffen hat, ohne den
Fall Eichstätt herunterzuspielen.

Und wenn man schon aussortieren musste, dann hätte man auch an die
Bücherburg von Pfarrer Weskott denken können, die ja bereit gewesen
wäre, Geschichte, Theologica und anderes aus Eichstätt abzuholen, vgl.
http://archiv.twoday.net/stories/3381914/

Klaus Graf wird hier immer als eine Art Extremist oder gar Biblioterrorist
angesehen, dabei sind es die Bibliotheken, die anscheinend nicht auf der
Höhe der Quellendiskussion der historischen Hilfswissenschaften sind.
So schreibt Armin Schlechter, Leiter der Abteilung Handschriften und
Alte Drucke der Universitätsbibliothek Heidelberg in seinen "Anmerkungen
zum kulturellen Wert des Alten Buches" [3]

"Der Ensemblebegriff hat sich im wissenschaftlichen Bibliothekswesen
allerdings noch nicht durchgesetzt. Schlagendes Beispiel dafür sind die
Auseinandersetzungen von Klaus Graf zu diesem Themenkomplex,
zuletzt mit der UB Eichstätt, die offensichtlich provenienztragende
sogenannte Dubletten aus dem Besitz von Kapuzinerbibliotheken
verkauft hat. Während man die Auflösung von gewachsenen Privat-
bibliotheken wie in Donaueschingen letztlich nicht verhindern kann,
ist es aus meiner Sicht tatsächlich verwunderlich, welche Rolle der
längst überholte Dublettenbegriff im wissenschaftlichen Bibliotheks-
wesen immer noch spielen kann. Inwieweit sich angesichts leerer
öffentlicher Kassen solches vielleicht auch noch an anderer Stelle
wiederholen mag, läßt sich nicht sagen."

Welche Dimensionen dies in Eichstätt wenig später tatsächlich
noch annehmen würde und dass dabei große Bestände komplett
vernichtet werden würden, hätte sich freilich auch Schlechter wohl
nicht träumen lassen.

[1] vgl. Ausstellung von 1999/2000, http://idw-online.de/pages/de/news16204
Dokumentation im DFG-Projekt "Universitätssammlungen und -museen
in Deutschland" des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik,
http://publicus.culture.hu-berlin.de/sammlungen/detail.php?dsn=111&view=2
vgl. auch Eintrag in der Datenbank des Deutschen Musikinformationszentrums
Bonn, http://www.miz.org/index.php?seite=details&id=8091 
und Besprechung von Klaus Schreiber in IFB 99-1/4-331,
http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/99_0331.html 

[2] Vorwort, Inhaltsverzeichnisse, Register via abc Advanced Book Catalogue,
http://www.deutschesfachbuch.de/info/detail.php?isbn=3795211220
http://www.deutschesfachbuch.de/info/detail.php?&isbn=3795211441
http://www.deutschesfachbuch.de/info/detail.php?&isbn=3795211468
vgl. auch Rezension von Klaus Schreiber in IFB 04-1-059,
http://www.bsz-bw.de/rekla/show.php?mode=source&eid=IFB_04-1_059

[3] in: Theke: Informationsblatt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Bibliothekssystem der Universität Heidelberg (2002), S. 35-38
http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/3131

---
   
Sparzwang bringt Ordensbibliotheken in Gefahr
Gespräch mit Jochen Bepler zu bedrohten Büchersammlungen in
Kirchenbesitz, DLF, 6.3.2007, im Volltext dokumentiert von Archivalia
http://archiv.twoday.net/stories/3405053/

Nicht nur in Eichstätt: Sparzwang und Klosterschließungen bringen
wertvolle Ordensbibliotheken in Gefahr (dpa Berichte zu den Äußerungen
von Jochen Bepler)
http://archiv.twoday.net/stories/3411123/

Kommentare und Links zu früheren Beiträgen in
http://archiv.twoday.net/stories/3391254/

Literatur zu Kapuziner-Bibliotheken und -archiven - eine Auswahl
http://archiv.twoday.net/stories/3337985/

Kopien aus den Eichstätter Müllbüchern
http://archiv.twoday.net/stories/3388680



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