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Re: AW: Bildungsstandards - mit Bibliotheken nichts zu tun?
- Date: Sat, 12 Jul 2003 11:18:57 +0200
- From: "Prof. Dr. Walther Umstaetter" <h0228kdm _at__ rz.hu-berlin.de>
- Subject: Re: AW: Bildungsstandards - mit Bibliotheken nichts zu tun?
Ulrike Müller-Kaspar wrote:
> am 11.07.2003 14.00 Uhr schrieb Rohde Bernd unter Bernd.Rohde _at__ stub.unibe.ch:
>
> > Und genau in diese
> > Hauptsache-es-macht-Spass-Rolle werden neben den Schulen die Oeffentlichen
> > Bibliotheken gedraengt, die ja neben den Schulen, fuer uns Bibliothekare
> > zumindest, das zweite Standbein der Bildung von Kindern und Jugendlichen sind.
>
> Grundsaetzlich stimme ich Ihnen voll zu. Als Buecher verschlingende Mutter
> eines nicht lesenden Kindes gebe ich jedoch zwei weitere Standbeine der
> Bildung von Kindern und Jugendlichen zu bedenken: Fernsehen (tatsaechlich,
> erstaunlicherweise) und Computerspiele. Das Prinzip des Kolonialismus laesst
> sich auch über "1592" (ich hoffe, das Spiel heisst wirklich so) lernen.
> Medien sind heute friedlich nebeneinander alles, was Inhalte transportiert -
> Buecher, Zeitungen, Filme, Videos, Computerspiele, Chats, Radio ...
> Wir muessen uns damit abfinden, dass etwas Viereckiges heutzutage offenbar
> flimmern muss, damit es wahrgenommen wird.
> Schönes Wochenende aus Wien!
> Ulrike Müller-Kaspar
> www.textwerkstatt.at
> die _at__ textwerkstatt.at
Das nennt man Medienkompetenz im eigentlichen Sinne, wenn man in der Lage ist zu
erkennen,
wann welches Medium wofür geeignet ist, um Information optimal zu vermitteln.
Das Erstaunen darüber, das Fernsehen auch ein wichtiges Bildungsmedium ist, zeigt,
dass es hier erhebliche Fehleinschätzungen gibt. Lesen ist auch nicht per se von
Vorteil.
Da gibt es auch den altbekannten und gefährlichen Schund mit Irreführungen und
Suchterscheinungen, wie bei Videos, Computerspielen, Internet, Radio etc.
Dass neue Informationsmedien das größte Interesse finden liegt gerade an dieser
Medienkompetenz, weil man neue Medien testen muss, bevor man über sie urteilt.
Wie hart neue Medien von inkompetenten Leuten schon verurteilt wurden
ist schon seit dem Mythos von Theut bekannt. Als man bei der Ausbreitung der Schrift
befürchtete, dass die Menschen ihr Gedächtnis nicht mehr nutzen würden,
weil das dokumentierte Langzeitgedächtnis an seine Stelle tritt.
Bibliotheken haben im letzten Jahrhundert reihenweise "Neuen Medien" in sich
aufgesogen,
weil man sie im Vergleich mit den alten Medien sehen und verfügbar haben muss.
Dass dabei Rundfunk und Fernsehen zunächst keine Rolle spielten lag an der scheinbar
ephemeren Information und der damit verbundenen geringen Archivwürdigkeit.
Bei der heutigen Digitalisierung, bei der man am Computer direkt aus einer laufenden
Sendung heraus Zitate erzeugen kann, ist das anders.
Von 100 Mio. Items hat die Library of Congress nur noch 20 Mio. Buchanteil.
Medienkompetenz ist ohne die Digitale Bibliothek, in der man dazu übergeht alle
bisherigen
analogen und digitalen Medien in einer multimedialen Form (der binären Schrift)
zusammenzuführen, nicht zu gewinnen.
Dass die Rolle der Bibliotheken in Deutschland so marginal ist, liegt daran, dass
man sie hierzulande
zu stark auf das Buch reduziert. Darum sollen an den neuen Ganztagsschulen ja auch
neue
Medienzentren eingerichtet werden. So kann keine Medienkompetenz entstehen,
wenn man nicht alle Informationsmedien im freien Wettbewerb konkurrieren lässt.
Die Digitale Bibliothek ist nichts anderes als ein modernes Medienzentrum.
Sie hat die früheren meist analogen Medienzentren längst hinter sich gelassen.
Der Mangel an Medienkompetenz gibt sich durch nichts so deutlich zu erkennen,
wie durch die Unterschätzung der nationalökonomischen Bedeutung der Bibliotheken.
Dass unsere Bibliotheken dabei einer erhebliche Verbesserung und Modernisierung
bedürfen
(und ich meine hier nicht Hunderte von Neubauten mit architektonischen Glanzpunkten)
ist klar. Trotz einer solchen Investition sind Bibliotheken die beste Sparmaßnahme
in der Bildung die es gibt.
Weil man zum selbst lernen anregt,
weil man Begabungen dort fördert wo sie liegen,
weil man allen die gleichen Bildungschancen gibt (auch Arbeitslosen),
weil man "Nullbockmentalität" verringert,
weil man nicht neben jeden Schüler einen Lehrer stellen muss,
weil man damit freiwillige Foren zur Zusammenarbeit von Interessengruppen schafft,
weil man aus einer teilweise banalen Spaßkultur eine Lernkultur erzeugt,
weil die Informationsmedien optimal ausgenutzt werden,
und weil jeder das für ihn am besten geeignete Informationsmedium suchen und finden
kann.
Bildung braucht die Bibliothek als Basis.
MfG
Umstätter
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.