Am 01.06.2023 um 01:17 schrieb Klaus Graf via InetBib <inetbib@xxxxxxxxxx>:
Liebe Liste!
Das Einstellen der Mailingliste INETBIB durch ihren Administrator ist
aus meiner Sicht eine Riesen-Dummheit. Ohne Not wird eine sensationelle
nicht-kommerzielle Reichweite geopfert, denn die Liste hat knapp 10.000
Mitglieder.
Die autoritäre Entscheidung wurde Mitte Mai 2023 viel zu kurzfristig
angekündigt. "Quod omnes tangit ab omnibus approbari debet" - was alle
angeht, muss auch von allen gebilligt werden. Der Listenwächter hat
schon aus weit weniger gravierenden Gründen Umfragen gestartet. Siehe
etwa
https://archivalia.hypotheses.org/174165
Eine Weiterführung dürfte auch den Namen INETBIB nicht verwenden. Seit
1994 wurde diese Liste zunächst mit Unterstützung der
Universitätsbibliothek Dortmund betrieben. Sie gehört zur essentiellen
Infrastruktur des deutschen Bibliothekswesens und ist daher keine
Privatangelegenheit des Admin, der wie ein absoluter Herrscher das Ende
diktiert.
Es haben sich öffentlich viele in der Liste zu Wort gemeldet, die für
ihren Weiterbestand plädiert haben.
Dass heute kaum noch in INETBIB diskutiert wird, trifft zu. Vom 1. bis
15. März 2023 wurden 55 Postings veröffentlicht, davon nur eine Antwort
(RE, von mir). Zum Vergleich der gleiche Zeitraum vor 20 Jahren (2003):
https://www.inetbib.de/listenarchiv/date339.html
Da waren es 102 Postings mit 36 Antworten.
Ein Blick in den März 2013:
https://inetbib.de/listenarchiv/date143.html
Die stetige Zunahme der Teilnehmerzahl zeigt, dass die Liste als
zentrales "Schwarzes Brett" des Bibliothekswesens geschätzt wird,
vergleichbar den H-NET-Listen. Viele haben den Eindruck, sie erfahren
hier, was wichtig ist, und können sich das Beobachten von Twitter,
Mastodon, Blogs usw. sparen.
***
INETBIB war ein wichtiger Teil meines Lebens. Wenn ich eine gewisse
Prominenz als Kritiker des Bibliothekswesens besitze, so verdanke ich
das INETBIB. Siehe auch
https://archivalia.hypotheses.org/174797
Bevor die Massenmails von Karl Dietz an die Liste einsetzten, habe ich
am meisten in ihr geschrieben. Im Listenarchiv nach Autoren sind es bei
Dietz fünf ganz mit seinen Beiträgen gefüllte Seiten
https://www.inetbib.de/listenarchiv/auth63.html
Bei mir sind es nur vier:
https://inetbib.de/listenarchiv/auth73.html
Aber als Schaarwächter 2004 anlässlich des zehnjährigen Jubiläums die
TOP 10 der Mailenden zusammenstellte, führte ich mit großem Abstand mit
995 Mails:
http://dx.doi.org/10.17877/DE290R-7715
Am 10. März 1997 erschien mein erstes Posting unter dem Betreff Flames:
"Guten Tag!
Es waere schoen, wenn persoenliche Angriffe unterlassen werden
koennten.
Gerade in nichtmoderierten Listen sollte man sich klarmachen, dass ihr
Unterhaltungswert in keinem Verhaeltnis zur Belaestigung der anderen
Teilnehmer steht. Das Internet - der Pranger unserer Zeit?
Freundliche Gruesse von einem Nicht-Bibliothekar"
https://inetbib.de/listenarchiv/msg05580.html
Ohne Wenn und Aber muss ich gestehen, dass viele meiner Beiträge nicht
im geringsten dem damit gleichsam programmatisch formulierten Anspruch
gerecht werden konnten. Ich habe mich viel zu oft im Ton vergriffen. Es
tut mir leid, wenn ich Menschen persönlich verletzt habe. Das wollte
ich nie.
Wenn ich in meinen vielen Beiträgen blättere, komme ich nicht um die
Erkenntnis herum, dass ich regelmäßig mit dem Säbel dreingeschlagen
habe statt mit dem Florett zu kämpfen. Eine gewisse Verbissenheit kann
ich ebenfalls nicht leugnen. Weil ich es schätze, andere zu belehren,
habe ich den penetranten Listenoberlehrer gegeben.
Auch wenn ich viel ausgeteilt habe, musste ich einiges einstecken.
Immer wieder wurde laut mein Rauswurf gefordert, am lautesten wohl anno
2005, als ich den damaligen HAAB-Chef mit einer unglücklichen
Formulierung mit dem Weimarer Bibliotheksbrand in Verbindung brachte.
https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg26831.html
https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg26843.html
Mein aufbrausendes Temperament hat mich noch häufiger zur Zielscheibe
von lautstarker Kritik werden lassen - bis hin zu Beleidigungen
unterhalb der Gürtellinie.
Der Listenwächter hatte es nicht leicht mit mir. Nur einmal hat er
mich, soweit ich mich erinnere, gelobt (es war kurz nach 9/11):
https://inetbib.de/listenarchiv/msg19608.html
Eine exemplarische Rüge von 2016:
https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg57733.html
Mein Wirken als Listengeißel wurde sogar in den USA wahrgenommen, wie
folgendes Zitat aus einem Aufsatz von 2008 zeigt:
"There is a German librarian/scholar, Klaus Graf of the University of
Freiburg im Breisgau, otherwise known as the scourge of the German
library chat list, Inetbib, who periodically stirs up dust on that chat
list by posting furious diatribes against the children of the German
nobility today who continue to sell off books from their own princely
collections for cash."
https://net.lib.byu.edu/estu/wess/czechcastlelibrary.doc
In dem von Sabine Baumann geführten Interview mit mir (ZfBB 2004) habe
ich von der "virtuellen Kunstfigur Klaus Graf, die man in Listen
antrifft", gesprochen.
https://zs.thulb.uni-jena.de/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00239589/j04-h4-per-2.pdf
Das sollte keine Verlagerung meiner persönlichen Verantwortung in das
Medium bedeuten. Ich stehe zu meinen Fehlern. Trotzdem wird es
niemanden verwundern, wenn ich angesichts der Listendämmerung meine
konstruktiven Beiträge nicht unter den Tisch fallen lassen will.
Ich habe den Finger in viele Wunden des Bibliothekswesens gelegt. Ich
konnte mich als Außenseiter (von Beruf Archivar) mit Großkopfeten und
großen Institutionen anlegen. Hinter vorgehaltener Hand wurde mir immer
wieder mal bestätigt, dass ich bei bestimmten Kritikpunkten Recht
hätte.
Die Bayerische Staatsbibliothek hat mich wegen eines INETBIB-Beitrags
2008
https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg36669.html
sogar beim Staatsanwalt angezeigt, der das Verfahren aber
glücklicherweise eingestellt hat.
Ich habe aus INETBIB mehr gelernt als ich aus einem Dutzend
archivischer Mailinglisten hätte lernen können. Es gibt keinen anderen
Archivar, der sich in INETBIB so eingemischt hat wie ich. Es ist meine
feste Überzeugung, dass die Gedächtnisinstitutionen viel enger
zusammenarbeiten müssten, wie ich 2018 auf dem Berliner Bibliothekartag
ausgeführt habe:
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0290-opus4-35370
Ein wichtiges Sprachrohr war mir INETBIB in Sachen Kulturgutschutz. So
kämpfte ich (vergeblich) 1999 für den Erhalt der Hofbibliothek
Donaueschingen,
https://inetbib.de/listenarchiv/msg12609.html
prangerte 2006 die Auflösung der Redemptoristenbibliothek Geistingen an
https://books.google.de/books?id=s3VMZLRIm6cC&pg=PA102 (mit Hinweis auf
die Listendiskussion)
oder fachte die Empörung über den Verkauf der Gymnasialbibliothek
Stralsund an.
https://www.inetbib.de/listenarchiv/msg48891.html
Die Reichweite von INETBIB hat sicher auch für den öffentlichen Druck
gesorgt, der hier zu einem einigermaßen glimpflichen Ausgang der Affäre
führte.
Erst letztes Jahr, als ich kaum noch etwas in INETBIB schrieb, machte
ich auf den geplanten Verkauf der Handschriften der sächsischen
Klosterbibliothek Marienthal aufmerksam:
https://inetbib.de/listenarchiv/msg69949.html
Weitere Themen, die mir wichtig waren: Open Access,
Benutzerfreundlichkeit in Bibliotheken, Remote Access für Bürgerinnen
und Bürger, Rechts- und insbesondere Urheberrechtsfragen,
Prüfungsarbeiten, Kritik an Digitalisierungsprojekten.
Seit vielen Jahren habe ich hier unter dem Stichwort "Quiztime!" jedes
Semester ein kniffliges Rechercherätsel präsentiert.
INETBIB wird mir fehlen. Als ich 1997 der Liste beitrat, war es üblich,
dem Gruß einen kleinen Wetterbericht beizugeben. So grüße ich denn aus
Neuss (bedeckter Nachthimmel)
Dr. Klaus Graf