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Re: [InetBib] PokemonGo-freie Zone in Nordenham



Liebe Bibliothekarinnen und -kare,

auch für Verleger ist das eine interessante Diskussion. Das Konzept des Dritten 
Raumes war für mich neu. Allerdings kommt mir aus unserem Betriebsalltag die 
Unterscheidung nicht zeitgemäß vor. Wir erleben ein Verschwimmen der drei 
Räume. Vor allem junge Mitarbeiter trennen nicht mehr im gleichen Maße zwischen 
privatem und betrieblichem Leben, stellen Anforderungen an das betriebliche 
Umfeld, die sie auch im privaten haben. Wäre es dann nicht stimmiger, von einem 
Konzept auszugehen, bei dem die drei Räume als unterschiedliche Sphären oder 
Systeme jeweils gleichzeitig stattfinden? Auch im Unternehmen als Ort der 
kommerziellen Sphäre ist kommerzielles Handeln des Einzelnen nur bedingt 
erwünscht bzw. auf die Pausen oder an die Ränder limitiert.

Mir scheint der Kern des Problems bei der Haltung zum Kommerz zu liegen. Immer 
wieder wurde hier in der Liste vehement zum Ausdruck gebracht, dass die 
Bibliothek kein Ort des Kommerzes sein darf. Bei der Diskussion um den 
Kaufbutton der Onleihe wurde gefordert, dass Bibliotheken nicht den Kommerz 
fördern dürfen, das heißt dann: Bücher lesen ja, aber zum Buchkauf anregen? 
Niemals!

Im Konzept der Bibliothek als Dritter Ort wird dagegen die Integration von 
Bibliothek und Buchhandlung als Vorbild beschrieben. Und als eine Leistung der 
Bibliothek wird auch immer wieder dargestellt, dass Bibliotheksnutzer auch 
stärkere Buchkäufer sind, also die Bibliotheken sehr wohl Kommerz fördern.

Mir scheint, das gespaltene Verhältnis zum Kommerz müsste mal entzopft werden. 
So wie Unternehmen klare Regeln setzen, welche Form von kommerziellem Handeln 
des Einzelnen bzw. mit dem Mitarbeiter sie für die Unternehmenskultur für 
angemessen halten, so könnte das ja auch eine Bibliothek machen. 

Die In-App Käufe einer Pokémon-App sind doch nicht so anders als die 
Möglichkeit eines Bibliotheksnutzers sich über das freie WLAN auch auf Webshops 
zu bewegen. Streng genommen ist das auch nichts anderes als das Lesen einer 
Zeitschrift, in der es kommerzielle Anzeigen gibt. Die müsste man ja auch 
überkleben, wenn man den Kommerz verbannen will. Da steckt ja auch ein Deal 
dahinter: der Bezugspreis ist für die Bibliothek niedriger, weil die 
Anzeigenerlöse das ermöglichen. Theoretisch könnte man Bibliotheksausgaben von 
Zeitschriften und Zeitungen machen, die ohne Anzeigen erscheinen. Das wäre dann 
halt teurer.

Und: was ist denn der Unterschied zwischen einer kommerziellen Leihbibliothek 
von früher und der öffentlichen Bibliothek? Es ist das Geschäftsmodell, dass 
man die Ausleihe nicht einzeln bezahlt sondern über die Steuern, eine nach 
Leistungsfähigkeit gestaffelte Flatrate. Zumindest wenn man die Differenz meint 
im kommerziellen zu finden. Die sehr viel größere Differenz scheint mir im 
Angebot, im Anspruch, in den dahinterstehenden Prinzipien von Pluralität und 
Teilhabe zu liegen.

Und: wir sollten den Menschen zutrauen, dass sie selbst sehr gut trennen 
können, wann sie arbeiten, entspannen oder einkaufen wollen. Dass das jemand 
für sie Vorentscheidung, das wird kaum ein Nutzer als positive Dienstleistung 
sehen, sondern eher als unverständliche Beschränkung.

Kurz: die Bibliothek als kommerzfreiem Raum ist vielleicht eine Illusion, die 
ausgewogene Kombination von erstem bis drittem Ort macht vielleicht die 
Spezifität der Bibliothek aus?

Ich bitte um Verzeihung, wenn ich die bibliothekarischen Diskurse zu diesen 
Punkten nicht kenne und meine Fragen etwas plump vortrage. Eine spannende 
Diskussion ist das auf jeden Fall!

Herzliche Grüße
Matthias Ulmer

Am 20.07.2016 um 00:18 schrieb Christian Spliess 
<christian.spliess@xxxxxxxxx>:

Guten Abend,

Peter Delin <peter.delin@xxxxxx> schrieb am Di., 19. Juli 2016 um 22:44 Uhr:

Lieber Herr Spliess,

nichts gegen Schnitzeljagden, aber PokemonGo ist nun einmal eine
kommerzielle Sache
http://www.stern.de/wirtschaft/news/pok%C3%A9mon-go-restaurant-profit-6950976.html


Das ist unbestritten. Hab ich auch nicht geleugnet.



Vielleicht hilft hier die heutige Kolumne von Margarete Stokowski in
Spiegel Online weiter
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/pokemon-go-da-habt-ihr-eure-revolution-kolumne-a-1103637.html
, die offenbar den Eindruck gewonnen hat, dass hier Jugendliche
verscheißert werden.


Nein, sie hilft nicht unbedingt weiter. Die Kolumne spießt ironisch die
Frage auf, ob die Revolution in Deutschland - die schon immer nur darin
bestand, dass man verbotenen Rasen betrat, war es Tucholsky, der das
anmerkte? - ob das politische Denken und das Denken an und in Visionen nur
dann möglich ist, wenn man Leute dafür belohnt. Sprich: Wenn man die ganzen
Spielmechaniken, die wir alle kennen nutzt. Eine spielerischer Revolution
hat ihren Reiz, aber die Kolumne macht ja ein weites Feld des Nachdenkens
auf und die Autorin sieht einen Kreis, der sich schließt: Wer zu Beginn der
90er Kind war, hat offenbar nicht das Verlangen nach einer Revolution.
Angesichts der Spaß-Gesellschaft - Guidomobil, Techno, etc. pp. nun kein so
abwegiges Fazit. Wenn ich das richtig verstanden habe.
Guten Abend,

Peter Delin <peter.delin@xxxxxx> schrieb am Di., 19. Juli 2016 um 22:44 Uhr:

Lieber Herr Spliess,

nichts gegen Schnitzeljagden, aber PokemonGo ist nun einmal eine
kommerzielle Sache
http://www.stern.de/wirtschaft/news/pok%C3%A9mon-go-restaurant-profit-6950976.html


Das ist unbestritten. Hab ich auch nicht geleugnet.



Vielleicht hilft hier die heutige Kolumne von Margarete Stokowski in
Spiegel Online weiter
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/pokemon-go-da-habt-ihr-eure-revolution-kolumne-a-1103637.html
, die offenbar den Eindruck gewonnen hat, dass hier Jugendliche
verscheißert werden.


Nein, sie hilft nicht unbedingt weiter. Die Kolumne spießt ironisch die
Frage auf, ob die Revolution in Deutschland - die schon immer nur darin
bestand, dass man verbotenen Rasen betrat, war es Tucholsky, der das
anmerkte? - ob das politische Denken und das Denken an und in Visionen nur
dann möglich ist, wenn man Leute dafür belohnt. Sprich: Wenn man die ganzen
Spielmechaniken, die wir alle kennen nutzt. Eine spielerischer Revolution
hat ihren Reiz, aber die Kolumne macht ja ein weites Feld des Nachdenkens
auf und die Autorin sieht einen Kreis, der sich schließt: Wer zu Beginn der
90er Kind war, hat offenbar nicht das Verlangen nach einer Revolution.
Angesichts der Spaß-Gesellschaft - Guidomobil, Techno, etc. pp. nun kein so
abwegiges Fazit. Wenn ich das richtig verstanden habe.

Das alles kann man durchaus debattieren, die Kolumne macht ein sehr weites
Feld auf und Ironie ist nicht immer leicht zu verstehen - inwieweit
Jugendliche hier "verscheißert" werden oder ob junge Erwachsene auf einmal
infantil werden aus Nostalgie - das spielt erstmal für die Debatte, die wir
hier führen keine Rolle.

Es geht konkret um ein Verhalten einer Bibliothek und eines Leiters, einer
öffentlichen Bibliothek und die Frage, ob die Bibliothek sich vielleicht
etwas zu viel herausnimmt, wenn sie von vornherein eine Gesellschaftsgruppe
abweist. Natürlich hat sie das Hausrecht und darf gewisse Dinge nicht
dulden - die Begründung aber, die bisher hier und auf Facebook gegeben
wurde ist nicht dermaßen befriedigend, dass ich wirklich der Bibliothek die
Sorge um die Gefährdung ihrer selbst als 3. Ort abnehme.



Eine solche kommerzielle Sache widerspricht eigentlich der Idee eines sog.
"Dritten Ortes", die ja durchaus gesellschaftliche Ansprüche formuliert:
" In his influential book The Great Good Place, Ray Oldenburg (1989, 1991)
argues that third places are important for civil society, democracy, civic
engagement, and establishing feelings of a sense of place" (
https://en.wikipedia.org/wiki/Third_place )


"Zudem sind die prototypischen Third Places für Oldenburg nicht
Bibliotheken, sondern französische Cafés, englische Pubs und wienerische
Kaffeehäuser; Orte, die offen und sozial sind. Das sind nicht alle Cafés,
sondern nur solche, bei denen der Zugang für alle gegeben ist, dass heisst,
die recht billig sind; die eine Community entwickeln, also “regulars”,
Stammgästinnen und -gäste haben; die langfristig und regelmässig die
ähnlichen Leute anziehen und die einen Austausch zwischen Menschen
motivieren."
Wenn ich mir gestatten darf mit einem Zitat aus
https://bildungundgutesleben.wordpress.com/tag/dritter-ort/ da zu
antworten. Ich wüßte nicht, dass Cafés und Pubs umkommerzielle Orte sind -
in beiden geht es darum Geld gegen Getränke und Essen zu tauschen. ;-)


Wenn man diese Thesen Ernst nimmt, reicht Begegnung allein wohl nicht.
Und Bibliothek sollte ja auch mehr sein als nur ein beliebiger
Aufenthaltsort zum Kaffeetrinken oder Pokemons gucken.


Doch. Das reicht schon aus: 3. Orte sind genau das - Orte der Begegnung.
Sie leben davon, dass ein bestimmter Anteil immer da ist - die erwähnten
Stammgäste - sie leben aber auch davon, dass immer wieder Leute neu
dazustoßen. Und wenn die Bibliothek sich explizit als 3. Ort begreift - und
ich muss immer betonten, das ist die Verteidigungslinie von Nordenham, ich
hab mir das nicht ausgesucht :-) - dann gehört auch das dazu: Dass Leute
kommen, sich treffen und Dinge tun, die nicht im Rahmen dessen sind, was
die Bibliothek eigentlich tun: Bücher verleihen oder Wissen bereitstellen.
Denn dann wären Brettspielabende ebenfalls Tinnef.



Sie schreiben:
" Der 3. Ort ermöglicht auch ein informelles Zusammenkommen - und
informelles Lernen findet übrigens auch in Spielen statt."
Mit PokemonGo? - Ich finde, dass ist zu wenig für den Anspruch, den
Bibliotheken erfüllen sollten.


Informelles Lernen ist zu wenig? Alleine schon. Aber das hab ich nie
behauptet - es gibt das Lernen für das Referat, es gibt das Lernen im
Spiel. Eine Bibliothek ist ein Ort für Beides.



Die Idee des Dritten Ortes bedeutet für mich, dass unsere Gesellschaft
rückhaltlos offene Institutionen braucht, die frei und allen zugänglich
sind, dabei aber einen hohen Anspruch erfüllen, z. B. für die  allgemeine
Bildung.


Und da hätten wir wieder die Frage: Was IST Allgemeine Bildung? Der Kanon
von Literaturpäpsten? Das Auswendig-Lernen des Brockhauses? Die Kenntnis
mittelalterlicher Neumen wäre für mich ein Bestandteil der Allgemeinen
Bildung, für andere ist Allgemein Bildung das Wissen darüber, welche
Evolutionsstufe welches Pokemon hat. Wie stellen Sie fest, was für Sie
annehmbare Bildung ist? Und wer legt das fest?
Vielleicht die Gesellschaft. Vielleicht die Schule. Vielleicht das
Elternhaus. Wenn Bibliotheken aber wieder damit anfangen sich einbilden zu
wollen, was Bildung ist und was nicht, dann fallen wir in die Zeit der
Thekenbibliothekare zurück. Das wäre - nicht so toll.


Noch etwa zum Schluss: Nichts für ungut, aber das Wichtigste an einer
Bibliothek sind selbstverständlich die Medien, sonst ist es keine
Bibliothek. Das Publikum will das so, wie repräsentative Umfragen z. B. in
Hamburg und Berlin nachgewiesen haben.


Könnten Sie mir bitte dann Links zu den Umfragen schicken? Wer hat diese
durchgeführt und was wurde gefragt? Das wäre schon interessant zu wissen.
Und zum Thema Dritter Ort gabs in BUB einen Fachartikel, der glaube ich
einiges zur Diskussion beisteuern kann -
http://b-u-b.de/die-bibliothek-als-dritter-ort/ - und sicherlich finden
sich in dem Blog-Artikel hier -
http://www.coolcatscologne.de/2016/07/stadtbibliothek-koeln/ - auch die
Medien wieder, aber nicht nur und ausschließlich...

Schade, das der Kollegen aus Nordenham sich offenbar aus der Diskussion
verabschiedet hat. Denn die Thesen und die Fragen werden erstmal bleiben -
mag der Hype um PokemonGo auch vergehen, die Technik und die Anwendungen
bleiben ja bestehen. Und in dieser Hinsicht müssen wir als Gesellschaft
noch etliches ausdiskutieren.

Und aushalten. Und miteinander reden vor allem.

Freundliche Grüße aus dem nächtlichen Duisburg,

Christian Spließ




Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.