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[InetBib] CfP LIBREAS #30: Post-Digital Humanities aus bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Sicht
- Date: Wed, 4 May 2016 15:15:20 +0200
- From: Karsten.Schuldt@xxxxxxx
- Subject: [InetBib] CfP LIBREAS #30: Post-Digital Humanities aus bibliotheks- und informationswissenschaftlicher Sicht
Werte Kolleginnen und Kollegen,
gerne leite ich Ihnen den neuen Call for Papers für die Ausgabe #30 der
LIBREAS. Library Ideas weiter. Thema des Calls ist das Durch- und Weiterdenken
der Debatten, Projekte, Hoffnungen und Ängste, die sich mit den "Digital
Humanities" verbinden, aus Sicht der Bibliotheken sowie der Bibliotheks- und
Informationswissenschaft. Im Namen der Redaktion möchte ich Sie herzlich dazu
einladen, mit Beiträgen auf diesen Call zu reagieren.
m.f.G.
Karsten Schuldt
https://libreas.wordpress.com/2016/05/04/libreas-cfp-digital-humanities/
**LIBREAS – Call for Papers: Post-Digital Humanities aus bibliotheks- und
informationswissenschaftlicher Sicht**
“[C]omputational technology has become the very condition of possibility
required in order to think about many of the questions raised in the humanities
today.”
David M. Berry (2011): The Computational Turn: Thinking about the Digital
Humanities, S.2
a) Wer braucht die Digital Humanities?
Ein Ballon schwebt über der Landschaft der Geisteswissenschaften. Er trägt die
Aufschrift “Digital Humanities” und führt bei denen, die ihn sehen, zu
unterschiedlichen Reaktionen. Einige sind begeistert und laufen ihm nach.
Andere sind verschreckt. Wieder anderen erscheint er unerreichbar. Und
schließlich gibt es noch die, die ihn gleichgültig seiner Wege ziehen lassen.
Vielleicht handelt es sich aber auch nur um ein Trugbild. Unverkennbar arbeitet
heute nahezu jede Geisteswissenschaftlerin und jeder Geisteswissenschaftler mit
digitalen Werkzeugen. Das Verfassen, Publizieren, Kommunizieren und
Visualisieren von Wissenschaft ohne digitale Werkzeuge ist im 21. Jahrhundert
schlicht unmöglich. Handelt es sich dabei bereits um Digital Humanities? Das
ist fraglich.
Werden andererseits aber digitale Werkzeuge, die forschungsunterstützend wirken
und eine Art “Laborifizierung der Geisteswissenschaften” nach sich ziehen
könnten (vgl. zu dieser These auch diesen Beitrag), zum allumfassenden
akademischen Alltag wie Textverarbeitungs- und E-Mail-Software? Auch das
scheint unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher ist, dass sich etwas zwischen diesen Polen als zielführend
herausstellt: digitale Anwendungen setzen sich dort durch, wo sie einen
konkreten Bedarf bedienen und eine nennenswerte Verbesserung der
wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen beziehungsweise Erkenntnisbedingungen
versprechen. Die Erfindung des digitalen und damit schnell und ortsunabhängig
im Volltext durchsuchbaren Bibliothekskatalog beispielsweise stellte einen
grundsätzlichen Schritt für eine effiziente Informationssuche dar und ist heute
Standard aller Bibliotheken. Er ist natürlich zugleich ein Arbeitswerkzeug der
Geisteswissenschaften. Als Baustein der Digital Humanities wird er dagegen
selten benannt und wahrgenommen.
Für die kommende Ausgabe von LIBREAS stellen wir u.a. gerade deshalb die Frage:
Welche Rolle können Informationseinrichtungen wie Bibliotheken und
Informationsspezialisten innerhalb des Digital Humanities-Spektrums übernehmen?
Bleiben sie bei ihren Aufgaben des Sammelns, Erschliessens und Anbietens? Oder
gehen sie darüber hinaus? Es gab in den letzten Jahren mehrere Projekte in die
Richtung des „Heraustretens“ – aber was ist aus ihnen geworden? Viele
Projekthomepages sind heute verwaist, was üblich ist – aber gibt es
feststellbare langfristige Nachwirkungen der Projekte selbst? Oder ist eine
solche aktivere Rolle nur ein Wunschdenken der Bibliothekarinnen und
Bibliothekare und die Forschenden begnügen sich eigentlich mit besseren
Zugriffen auf (digitalisierte) Bestände?
Wer die Digitalisierung der Geisteswissenschaften mitgestalten will, sollte
Bedarfe identifizieren und Angebote entwickeln und vermitteln, die auf diese
Bedarfe passen. Um den Ansprüchen der Wissenschaft zu genügen, sollte dies
systematisch und erkenntnisorientiert geschehen. Es gibt bereits eine Disziplin
dafür, die sich freilich dieser Aufgabe auch bewusst widmen (wollen) muss: die
Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Und diese muss vermutlich als Erstes
die Frage nach dem Bedarf konkretisieren: Um wessen Bedarfe geht es? Die der
Einrichtungen, die der Forschungsfördereinrichtungen oder die von Forschenden?
Oder gar die der Gesellschaft?
b) Digital Humanitäres – Label oder wissenschaftliche Revolution?
Das Konstrukt Digital Humanities mit dem Bemühen um den Status als eigene
Disziplin, was sich unter anderem in der Benennung von einigen
interdisziplinären Lehrstühlen manifestiert, soll bekanntlich inter- oder
transdisziplinäre Kooperationen ermöglichen. Die unvermeidliche Kooperation mit
der Informatik ist dabei eher formaler oder methodischer Natur und inkludiert
kein gemeinsames Forschen. Aber erforschen die verschiedenen
Geisteswissenschaften unter dem Titel DH überhaupt gemeinsame Phänomene oder
Objekte? Die Einführungsliteratur zur DH betont gerne, dass sich der Begriff
auf (a) den Einsatz von Methoden, (b) auf Digitales als Untersuchungsobjekte
und (c) auf das Leben mit dem Digitalen als Untersuchungsgegenstand bezieht.
Aber wird damit nicht ein gemeinsames Label auf viel zu unterschiedliche
Forschungsfragen und -praxen bezogen? Was bringt das Label bei diesem Umfang
noch und vor allem, wie sollen Bibliotheken und ähnliche Einrichtungen damit
umgehen?
Es scheint, als sollten unter dem Label “Digital Humanities” unterschiedliche
und teilweise unvereinbare Akteure und in vielen Fällen auch mit einem
Revolutionsversprechen zusammengeführt werden. Das Neue steht vor der Tür und
trägt derzeit ein glitzerndes Shirt auf dem Big Data, gern vor einer Cloud,
steht. Das sieht en vogue aus, ist aber nicht immer zwingend sinnvoll. So
bleibt offen, ob das Anliegen eines unifizierenden trans- und disziplinären
Überbaus unter der Bezeichnung “Digital Humanities” überhaupt tauglich sein
kann, um die mannigfaltigen Verschiebungen im Bereich der digitalen
Wissenschaft zu umfassen. Brauchen wir das Label “DH”?
Eine erste Unklarheit taucht im deutschsprachigen Raum bereits bei der
Übersetzung und den damit verbundenen Aktivitäten dieser „Wissenschaft“ auf.
Umfasst dieses Label nun die Digitalisierung (Digitalization) von
beispielsweise Kulturobjekten oder eher die Einführung EDV-basierter
Arbeitsprozesse (Digitization)? Die tatsächliche Forschungspraxis, also die
Studien, die unter diesem Label publiziert werden, scheinen eher in eine andere
Richtung zu deuten. Oft wird in kleinen Forschungsgruppen, teilweise auch
alleine, an Einzelfragen gearbeitet, häufig an einzelnen oder wenigen
Digitalisaten. Ist das nun eine Revolution? Oder nicht doch eher eine
Weiterentwicklung, aber weniger, wie etwa in den Naturwissenschaften, zu einer
„datengetriebenen“ Forschung, sondern zu einer Forschungspraxis, deren konkrete
Ausgestaltung noch grundsätzlich zu klären wäre?
c) Die Bibliotheken als Ort oder als Zulieferer für die Digital Humanities?
Sicher können Bibliotheken und die Bibliotheks- und Informationswissenschaft
Rollen und Aufgaben übernehmen, die als Digital Humanities gekennzeichnet
werden. Aber ist die Bibliotheks- und Informationswissenschaft nicht sogar die
genuine digitale Geisteswissenschaft? So lässt sich jedenfalls eine denkbare
These fassen. Und eine zweite ergänzt, dass sie dies ganz natürlich tun kann,
da zumindest die Gegenstandsseite vieler Geisteswissenschaften sowie die
Digitalisierung dieser Forschungsobjekte von vornherein von Bibliotheken
verwaltet und gesteuert wurde. Sie bieten also Material, Literatur und
Infrastruktur. Böten sie auch die Analysewerkzeuge, also das “Labor”, schlösse
sich der Kreis. Dies wurde bereits initiiert, beispielsweise mit der Digitalen
Forschungsplattform des Hathi-Trusts. Aber – genauso wie bei anderen Virtuellen
Forschungsumgebungen – stellt sich die Frage, welcher konkrete
Nutzungsmöglichkeiten damit verbunden sind und ob eine Weiterentwicklung
sinnvoll wäre. Entsprechen diese Angebote tatsächlich dem, das Forschende – die
zumeist auch selber in ihren eigenen Arbeitsumgebungen mit digitalen Werkzeugen
umgehen können – wollen und nutzen, oder eher etwas, von dem sich vor allem die
Forschungsfördereinrichtungen und die Bibliotheken als Anbieter wünschen, dass
sie es täten?
Gleichzeitig stellen sich Bibliotheken mit solchen Projekten in ein
Konkurrenzverhältnis. Dass sie Digitalisieren können ist richtig. Aber das
heisst nicht, dass Forschende in ihren Projekten nicht auch en masse selbst
Digitalisieren. Dass Bibliotheken Infrastrukturen zur Verfügung stellen können
ist ebenfalls richtig. Aber ebenso realisieren Forschende selbst immer mehr
digitalen Infrastrukturen für sich selber oder ihre Community. Was ist daraus
zu lernen? Sollen Bibliotheken die Forschenden verstärkt adressieren oder soll
man entsprechende Bemühungen von Bibliotheken besser zurückfahren? Und für
Bibliothekswissenschaft lautet die Frage: Wie soll man dieses Phänomen
untersuchen?
d) Die Post-Digital Humanities als Idee
Betrachtet man die Entwicklung der Wechselbeziehung von Digitalität und
Gesellschaft, so erkennt man, dass sich viele Bereiche längst in einem Zustand
befinden, den man als zum Postinternet gehörig beziehungsweise als postdigital
bezeichnen kann. Insofern liegt es nahe, einen Begriff der
“Post-Digital-Humanities” – als die Zeit nach den großen Versprechen, in der
die DH in den Allgemeinbetrieb übergeht – analog zur “Postinternet”-Kultur ins
Spiel zu bringen. Die Chance in eines solchen, eventuell, Gegenlabels, liegt in
der Öffnung eines dekonstruktiven und damit das Selbstverständnis
hinterfragenden sowie zugleich voranbringenden Ansatzes. Denn ein allen
Geisteswissenschaften gemeinsames Merkmal ist der Diskurs, der auch das
Hinterfragen der eigenen Methoden beinhaltet. Daher entscheiden wir uns sehr
bewusst für diese Bezeichnung sowohl zur Bestimmung des gegebenen Zustands als
auch als, hoffentlich, Bezugspunkt und Auslöser für entsprechende Reflexionen.
Postdigitale geisteswissenschaftliche Arbeit ist also eine wissenschaftliche
Praxis, die sich unter dem Einfluss und auch mit den Mitteln digitaler
Technologien, Netzwerken und Kultureffekten vollzieht. Das Spektrum reicht von
n-gram-Analysen über große und kleine Digitalisierungsprojekte bis zu
Altmetrics, beinhaltet also in etwa all das, was in der vordigitalen
Wissenschaft nicht umsetzbar, oft nicht einmal konzipierbar war. Damit lässt
sich die Reflexion sinnvoll über das engere Feld der DH-Anwendungen erweitern,
das de facto vor allem im Bereich der Analyse großer Datenmengen,
beispielsweise der Korpuslinguistik oder auch der digitalen Mustererkennung für
die Kunstgeschichte ihre sichtbarsten Konkretisierungen erfährt.
Wir versuchen zu ergründen, wie sich Bibliotheken in diesem Komplex
positionieren (können), wie sie entsprechende Bedarfe ansprechen (können) und
welche theoretischen Grundlegungen diese Anwendungspraxis aus der Bibliotheks-
und Informationswissenschaft erwarten kann. Dabei muss berücksichtigt werden,
dass die Digital Humanitäres seit ihrer Etablierung als Diskurs immer von
Kritiken begleitet werden, auf die sie bislang nur bedingt Antwort geben
können. Beispielsweise besteht die Gefahr auf Strukturen aufzubauen, die so nur
im Globalen Norden vorhanden sind, ohne dass diese Rahmung informationsethisch
reflektieren wird. Auch können die Digital Humanities bislang kaum auf den
Einwurf antworten, dass sie für kritische Forschungsmethoden und
-fragestellungen, die aktuell große Teile der Geisteswissenschaft prägen, kaum
Hilfestellungen geben. Das Distant Reading, also die Analyse großer Corpora,
scheint das Close Reading von Dokumenten beispielsweise für post-koloniale
Fragen oder Fragen der Konstitution von Subjektidentitäten kaum ersetzen zu
können.
e) Die Bibliotheks- und Informationswissenschaft als Meta-Akteurin
Schließlich wollen wir die Schraube noch weiterdrehen und fragen, inwieweit die
Bibliotheks- und Informationswissenschaft mit ihrem Metafocus auf die Idee von
Information, Wissen und Wissensvermittlung, selbst eine modellhafte, bewusst
digitale Phänomene und Folgen reflektierende quasi postdigitale
Geisteswissenschaft sein kann? Kann sie womöglich durch eine systematische
Beschäftigung mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Folgen digitaler
Geisteswissenschaft zu einer allgemeinen Normalisierung des Verständnisses
solcher Prozesse beitragen und damit zu einer Art “Leitdisziplin” für die
Geisteswissenschaften werden?
Für die Ausgabe #30 von LIBREAS suchen wir Beiträge (Artikel, Essays,
Kommentare, Ideen), die sich in diesem Reflexionsfeld bewegen und idealerweise
auch aufzeigen, welche Rolle die in der jüngeren Vergangenheit tief
verunsichterte Bibliotheks- und Informationswissenschaft in der und für die
Landschaft der Geisteswissenschaften übernehmen könnte. Der Termin für
Einreichungen ist der 31. August 2016 über die Adresse redaktion@xxxxxxxxxx.
Redaktion LIBREAS. Library Ideas
Berlin, Bielefeld, Chur, Dresden, München im Mai 2016
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.