[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: [InetBib] Bibliotheken ohne Bücher?



Lieber Herr Umstätter,

Sie schreiben ja nahezu in jeder Mail davon, dass die Verlegerlobby in einem 
großen Coup erreicht habe, dass E-Books nicht als Bücher betrachtet werden. Als 
Bestandteil dieser Verlegerlobby wüsste ich ja gerne davon, damit ich mich über 
unseren Erfolg freuen kann. Aber tatsächlich ist mir noch nicht einmal klar, wo 
wer wie dafür aktiv geworden sei.

Zur Frage Ist ein E-Book ein Buch?
Ich stelle die Frage mal anders: Ist ein Musikdownload eine Schallplatte? Ist 
ein Kinofilm eine Videokassette? Natürlich nicht. Es gibt einen Inhalt, der auf 
unterschiedlichen Trägermedien transportiert wird. Und jedes Trägermedium hat 
spezifische Eigenschaften. 
Für jeden sachlichen Zusammenhang müssen im Gespräch oder in der Analyse die 
dafür jeweils relevanten spezifischen Eigenschaften der Medien berücksichtigt 
werden. Wenn wir uns über die Story eines Romans unterhalten, dann kann man von 
Buch reden, ohne dass es relevant ist, ob es jemand gedruckt oder digital 
gelesen hat. Wenn wir uns über die Wirkung von Schulbüchern unterhalten, dann 
wird die Unterschiedlichkeit schon eine größere Rolle spielen. Und wenn man 
sich über das Thema Diebstahl unterhält, dann ist es sogar fundamental, ob es 
um ein gedrucktes oder digitales Buch geht.
Bezüglich des Urheberrechts hat die Rechtsdogmatik und die Rechtsprechung 
(nicht die Lobbyarbeit) definiert, wo die Unterschiede zwischen digitalem und 
gedrucktem Werk liegen. Bezüglich der Umsatzsteuer hat das eine 
Umsatzsteuerrichtlinie getan, die ja auch festlegt, was (aus umsatzsteuerlicher 
Sicht) der Unterschied zwischen einem Esel und einem Maultier oder zwischen 
einem Big Mac im Lokal und einem zum Mitnehmen ist. Und für die Preisbindung 
gab es seit Jahrzehnten eine Rechtsprechung, die eine Grenze zwischen einem 
Buch und seinen Substituten und einem über das reine Substitut hinausgehenden 
Medium zu ziehen versucht hat. In der Folge dieser Rechtsprechung hat die 
Buchhandelsbranche das Thema kontrovers diskutiert und der Börsenverein dann 
das Ergebnis der Diskussion als Auslegung der Branche kommuniziert. Es war 
unklar, ob die Gerichte der Auffassung folgen würden. Aber es hat auch niemand 
ernsthaft vor Gericht angegriffen. Und jetzt wird die Auslegung durch die 
Änderung des Preisbindungsgesetzes durch das Parlament kodifiziert werden.


Zu Mythos einer säkularen Entscheidungsschlacht um das gedruckte Buch:
Glauben Sie, dass die Investitionen der Verlage in die Digitalisierung von 
Büchern/Zeitschriften und anderen Informationsangeboten bislang geringer waren, 
als die Investitionen der Bibliotheken?
Glauben Sie, dass Verleger untereinander damit prahlen, wer den geringsten 
Anteil Digitalerlöse an den Gesamterlösen hat?
Ich hatte gerade gestern Gesellschafterversammlung und musste meinen 
Gesellschaftern erläutern, warum wir seit Jahren in die Digitalisierung 
investieren und die Umsätze dennoch so verschwindend sind.
Sie schreiben, dass seit einem halben Jahrhundert ein Krieg tobt… Kommt Ihnen 
nicht irgend wann mal in den Sinn, dass Sie sich da vor lauter Übereifer in 
eine Sackgasse manövriert haben? Dass Sie vielleicht an einer 
Verschwörungstheorie kleben gebleiben sind?
Ist es vielleicht Ihre Vision, dass Autoren zukünftig nicht mehr über die 
Verbreitung und Vervielfältigung ihrer Werke bestimmen dürfen und durch die 
„Befreiung der Werke aus den Kerkern der Autoren und Verwerter“ die Menscheit 
in einem Informationsparadies auf eine neue Daseinsstufe gehoben werden? Es 
soll jeder seine Visionen vom Paradies haben, sonst wäre die Welt ärmer. Aber 
lassen Sie mich die Frage stellen: enteignen Autoren/Verlage die Bibliotheken 
(oder die gesamte Gesellschaft), indem sie auf die Gültigkeit ihrer Rechte 
bestehen, oder wollen nicht viel mehr Sie die Autoren/Verleger enteignen, um 
Ihre Vision realisieren zu können?
Als Verleger sehe ich meine Aufgabe darin, die Vermittlung zwischen Autor und 
Leser zu verbessern. Ich bin überzeugt, dass wir eine entscheidende Rolle bei 
der Vermittlung spielen und dass unsere Leistungen so sind, dass wir dafür vom 
Käufer auch gerne bezahlt werden. Wenn Autoren anderer Meinung sind, dann gehen 
sie zu einem anderen Verlag oder veröffentlichen selbst, jeder wie er mag. Wenn 
Leser ein Werk aus unserem Verlag wollen, dann kaufen sie es, wenn sie lieber 
eins aus einem anderen Verlag wollen, auch schön. Und wenn sie lieber etwas 
lesen wollen, was anderweitig publiziert wurde, im Netz, privat, wie auch 
immer: auch schön. Und wenn Verlage nicht mehr gebraucht werden, dann werden 
sie verschwinden, wie der Köhler. Das alles hat mit Entscheidungsschlachten um 
MIttelerde doch gar nichts zu tun.

Herzliche Grüße
Matthias Ulmer


_________________________________________________________________
Verlag Eugen Ulmer
Matthias Ulmer
Postfach 700561 - 70574 Stuttgart
Wollgrasweg 41 - 70599 Stuttgart-Hohenheim
Tel: +49 (0)711-4507-164
FAX: +49 (0)711-4507-225
mulmer@xxxxxxxx
www.ulmer.de 


 
Eugen Ulmer KG
Sitz Stuttgart
Registergericht Stuttgart, HRA 581
Geschäftsführer: Matthias Ulmer





Am 16.02.2016 um 19:52 schrieb Walther Umstaetter 
<walther.umstaetter@xxxxxxxxxxxxxxxx>:

Liebe Listenteilnehmer/innen,

die Auseinandersetzung zwischen Ball, Hagner und ihren jeweiligen 
Mitstreitern ist eigentlich keine Diskussion, sondern eher eine 
Kriegsberichterstattung über den Kampf der Verlagslobby zur Erhaltung des 
gedruckten Buches mit Scheinangriffen, taktischen Wendungen und Frontwechseln 
bei Open Access. Nur es geht um Sieg oder Niederlage, aber nicht um geistige 
Auseinandersetzung.

Der größte Etappensieg dabei war die juristische Festlegung: „Das E-Book ist 
aber kein Buch!“ Eigentlich ein selten dummer Satz, den normale Leser kaum 
verstehen können, denn wenn damit die Aussage gemeint ist:
Das E-Book ist kein gedrucktes Buch, dann fehlt das Wort „gedrucktes“, nur um 
zu provozieren. Wenn damit aber gemeint ist:
Das E-Book ist kein Buch (Buch als Oberbegriff von gedruckten, geschriebenen 
bzw. elektronisch gespeicherten Monographien – thematisch begrenzten 
Informationseinheiten), dann ist es natürlich absurd, den Unterbegriff vom 
Oberbegriff auszuklammern. Immerhin geht es hier um ein und das selbe 
Dokument, mit den selben Urhebern, Aussagen und Zitationsstellen.

Hier wird also absichtlich eine unscharfe Begrifflichkeit von Buch gewählt, 
nur um bei Bedarf taktische Gewinne zu erzielen, und damit man darüber nicht 
ernstlich diskutieren kann. So wurde das E-Book kürzlich rasch wieder zum 
Buch, als es um die Buchpreisbindung ging. Als man noch um die Mehrwertsteuer 
kämpfte, war es der Verlagslobby noch wichtiger, das E-Book als Datei zu 
deklarieren, damit die Verwertungsinhaber immer im Besitz ihrer 
Verwertungsrechte bleiben können, und nur Nutzungsrechte vergeben müssen. Als 
Kollateralschaden bleiben zur Zeit im Kampf um das E-Book die Bibliotheken 
auf der Strecke, wobei sich einige Bibliothekare darüber noch freuen, weil 
auch sie der Illusion unterliegen, dass das gedruckte Buch seine alte 
Bedeutung erhalten kann. Als würden nicht täglich mehr Bücher und 
Zeitschriften in elektronischer Form angeboten, um die Erde geschickt, 
genutzt und digital erzeugt.

Diese unscharfe Begrifflichkeit führt dann auch zu den so beliebten 
Oxymoronen wie „Bibliotheken ohne Bücher“, die immer so tief geistig wirken 
und an „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ erinnern. So wie auch „Ein E-Book ist 
aber kein Buch.“ Insider freuen sich dann, dass nur sie diesen Unsinn 
verstehen.

Das größte begriffliche Durcheinander entsteht dadurch, dass man Wissen in 
Zukunft noch öfter als bisher in Computern modellieren, über Expertensysteme 
automatisieren und in Lernsystemen interaktiv optimieren kann. Natürlich sind 
das dann alles keine Bücher oder Zeitschriften mehr, sondern Formen von 
Wissensbanken mit Inferenzmaschinen. So haben bei einer Delphistudie (Alice 
Keller 2000) etliche Experten bezüglich der Zukunft von Zeitschriften ihre 
Vorstellungen entwickelt, ohne daran zu denken, dass das dann keine 
Zeitschriften mehr sind. Dass die Verlage diesen Mehrwert schon für die 
heutigen E-Books in Anspruch nehmen, nur weil man in den E-Books jedes Wort 
suchen kann, was in gedruckten Büchern über deren Indices nur bedingt möglich 
ist, entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man sich daran erinnert, mit 
welchem Aufwand die Verlage diese Suchfunktion, die man schon in jedem 
ASCII-Text benutzt, durch die E-Book-Formate unterdrückt haben, hauptsächlich 
darum, damit der Leser eines E-Books auch das gleiche Feeling wie beim 
gedruckten Buch hat, wenn er vor oder zurück blättert. Im Prinzip sind doch 
E-Books Simulationen der gedruckten Bücher. Auch die dreiste Behauptung, die 
man wiederholt hört und liest, um E-Book-Formate zu rechtfertigen, 
ASCII-Texte seien unstrukturiert, werfen die Frage auf, ob einige Verleger 
die Bedeutung von Punkt, Komma etc. vergessen haben.

Schon in den klassischen Volltextrecherchen einiger Datenbanken waren die 
Interpunktion eine wichtige Voraussetzung für die Recherche, die E-Books bis 
heute nicht erbringen (z.B. Suche Wort A UND B im selben Satz, Absatz etc.). 
Der sogenannte Mehrwert der E-Books ist somit ein Feigenblatt, nur um 
Verwertungsrechte nicht veräußern zu müssen, und etliche Juristen sind darauf 
reingefallen. Interessant ist dabei auch, dass man nun in Wikipedia unter 
„E-Book“ den schönen Satz findet „Bis vor wenigen Jahren kam dafür noch das 
PDF Format zum Einsatz.“. Marschrichtung: Ein elektronisches Buch ist nur 
dann ein solches, wenn es nicht kopiert werden kann, und wenn die Verleger 
die Benutzung jederzeit abschalten können.

Bei diesem Rückblick versteht man auch, warum Laien manche Bücher auch als 
Wissensbanken bezeichnen, nur weil sie den Unterschied zu echten 
Wissensbanken nicht kennen. Das erinnert an Bibliotheksprojekte, in denen so 
mancher Online Katalog vollmundig als Virtuelle Bibliothek deklariert wurde, 
um die entsprechenden Projektgelder zu akquirieren.

Jeder weiß, dass wir heute immer öfter frei entscheiden können, ob wir ein 
Buch gedruckt, auf CD-ROM oder als E-Book erwerben wollen, dass gedruckte 
Bücher eigentlich nichts anderes als eine Ausgabeform der Dateien sind, die 
auch als E-Book angeboten werden, und trotzdem ist es der Verlagslobby 
gelungen, die Digitale Bibliothek mit Hilfe der Juristen in ihren 
Privatbesitz zu bringen, und die Bibliotheken weitgehend zu enteignen. 
Natürlich hat ihnen dabei der allgemeine Trend zur Privatisierung mit GATS 
beim weltweiten Zusammenbruch der kommunistischen Idee geholfen. Nun warten 
wir auf die ideologsche Gegenbewegung, die sich im Kampf gegen TTIP bereits 
ankündigt.

Worin liegt die Definition des Buches:
„Das Buch im eigentlichen Sinne ist nach seiner Form ein nicht periodisch 
erscheinendes Druckwerk mit meist hundert bis tausend Seiten, die durch 
Heftung oder Leimung verbunden und durch einen Einband oder Umschlag 
geschützt sind. Trotz erheblicher Schwankungen in Form und Größe nimmt es im 
Regal meist weniger als 3 x 25 x 25 cm ein. Es ist damit eine handhabbare 
,Informationseinheit’. In elektronischer Form spricht man vom E-Book.
Entsprechend der UNESCO sollte bei Büchern die Zahl von 49 Seiten nicht 
unterschritten werden. Anderenfalls spricht man von einer Broschüre.“ 
(Lehrbuch des Bibliotheksmanagements S. 9 (2011)

Die große Bedeutung des Buches in der Geschichte der Menschheit erwuchs aus 
seiner Vielfalt und Anpassungsfähigkeit an unzählige monographische Themen 
mit einem oder mehreren Urhebern. Aber auch hier gibt es verheerende 
Missverständnisse, weil die Verlagslobby gern von Urheberrechten spricht, 
aber ihre Verwertungsrechte meint. Wie man an den Copyrights erkennt geht es 
weniger um Urheber, als um Kopierrechte und damit wissenschaftlich gesprochen 
um die Erzeugung von Redundanz (und nicht um Information, wie Laien gern und 
oft nachbeten). Die Einschränkung „im eigentlichen Sinne“ macht auch 
deutlich, dass die Menschheit beim Umstieg von den Buchrollen, zu den 
gebundenen Büchern, sich darüber im klaren war, dass der Inhalt einer 
Papyrusrolle, übertragen auf ein geschriebenes bzw. gedrucktes Buch, als 
Informationseinheit, gleichbedeutend ist. Auch die digitale Archivierung 
erfordert, dass ein Buch ein Buch bleibt, und der weitaus größte Teil aller 
Bücher kann nur noch digital archiviert werden.

Was die Verlagslobby mit allen Mitteln versucht, ist die Verhinderung, dass 
Dokumente immer rascher und authentischer kopiert und an alle Menschen in 
dieser Welt verbreitet werden können. Nein! Das ist nicht ganz richtig, nur 
einige versuchen dafür unanständig viel Geld zu verlangen, mit der Ausrede, 
sie täten es für die Urheber.

Dieser Krieg tobt nun schon seit einem halben Jahrhundert, und aus jeder neu 
heranwachsenden Generation werden frische Kräfte an die Front geschickt. 
Nicht selten auch Professoren und Bibliotheksdirektoren, die für das 
Verlagswesen eine Lanze brechen, auch wenn sie dabei ihre wissenschaftliche 
Integrität verlieren ;-)

MfG
Walther Umstätter


Am 2016-02-15 08:01, schrieb Michael Lemke:
Liebe Liste,
Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich,
hat sich ebenfalls in der NZZ zum Interview von Herrn Ball geäu8ert:
http://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-eine-zukunftsvision-die-ein-horrorszenario-sein-koennte-1.18693786
einen schönen Tag,
Michael Lemke
UB Passau





Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.