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Re: [InetBib] Bibliotheken ohne Bücher?



Liebe Listenteilnehmer/innen,

die Auseinandersetzung zwischen Ball, Hagner und ihren jeweiligen Mitstreitern ist eigentlich keine Diskussion, sondern eher eine Kriegsberichterstattung über den Kampf der Verlagslobby zur Erhaltung des gedruckten Buches mit Scheinangriffen, taktischen Wendungen und Frontwechseln bei Open Access. Nur es geht um Sieg oder Niederlage, aber nicht um geistige Auseinandersetzung.

Der größte Etappensieg dabei war die juristische Festlegung: „Das E-Book ist aber kein Buch!“ Eigentlich ein selten dummer Satz, den normale Leser kaum verstehen können, denn wenn damit die Aussage gemeint ist: Das E-Book ist kein gedrucktes Buch, dann fehlt das Wort „gedrucktes“, nur um zu provozieren. Wenn damit aber gemeint ist: Das E-Book ist kein Buch (Buch als Oberbegriff von gedruckten, geschriebenen bzw. elektronisch gespeicherten Monographien – thematisch begrenzten Informationseinheiten), dann ist es natürlich absurd, den Unterbegriff vom Oberbegriff auszuklammern. Immerhin geht es hier um ein und das selbe Dokument, mit den selben Urhebern, Aussagen und Zitationsstellen.

Hier wird also absichtlich eine unscharfe Begrifflichkeit von Buch gewählt, nur um bei Bedarf taktische Gewinne zu erzielen, und damit man darüber nicht ernstlich diskutieren kann. So wurde das E-Book kürzlich rasch wieder zum Buch, als es um die Buchpreisbindung ging. Als man noch um die Mehrwertsteuer kämpfte, war es der Verlagslobby noch wichtiger, das E-Book als Datei zu deklarieren, damit die Verwertungsinhaber immer im Besitz ihrer Verwertungsrechte bleiben können, und nur Nutzungsrechte vergeben müssen. Als Kollateralschaden bleiben zur Zeit im Kampf um das E-Book die Bibliotheken auf der Strecke, wobei sich einige Bibliothekare darüber noch freuen, weil auch sie der Illusion unterliegen, dass das gedruckte Buch seine alte Bedeutung erhalten kann. Als würden nicht täglich mehr Bücher und Zeitschriften in elektronischer Form angeboten, um die Erde geschickt, genutzt und digital erzeugt.

Diese unscharfe Begrifflichkeit führt dann auch zu den so beliebten Oxymoronen wie „Bibliotheken ohne Bücher“, die immer so tief geistig wirken und an „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ erinnern. So wie auch „Ein E-Book ist aber kein Buch.“ Insider freuen sich dann, dass nur sie diesen Unsinn verstehen.

Das größte begriffliche Durcheinander entsteht dadurch, dass man Wissen in Zukunft noch öfter als bisher in Computern modellieren, über Expertensysteme automatisieren und in Lernsystemen interaktiv optimieren kann. Natürlich sind das dann alles keine Bücher oder Zeitschriften mehr, sondern Formen von Wissensbanken mit Inferenzmaschinen. So haben bei einer Delphistudie (Alice Keller 2000) etliche Experten bezüglich der Zukunft von Zeitschriften ihre Vorstellungen entwickelt, ohne daran zu denken, dass das dann keine Zeitschriften mehr sind. Dass die Verlage diesen Mehrwert schon für die heutigen E-Books in Anspruch nehmen, nur weil man in den E-Books jedes Wort suchen kann, was in gedruckten Büchern über deren Indices nur bedingt möglich ist, entbehrt nicht einer gewissen Komik, wenn man sich daran erinnert, mit welchem Aufwand die Verlage diese Suchfunktion, die man schon in jedem ASCII-Text benutzt, durch die E-Book-Formate unterdrückt haben, hauptsächlich darum, damit der Leser eines E-Books auch das gleiche Feeling wie beim gedruckten Buch hat, wenn er vor oder zurück blättert. Im Prinzip sind doch E-Books Simulationen der gedruckten Bücher. Auch die dreiste Behauptung, die man wiederholt hört und liest, um E-Book-Formate zu rechtfertigen, ASCII-Texte seien unstrukturiert, werfen die Frage auf, ob einige Verleger die Bedeutung von Punkt, Komma etc. vergessen haben.

Schon in den klassischen Volltextrecherchen einiger Datenbanken waren die Interpunktion eine wichtige Voraussetzung für die Recherche, die E-Books bis heute nicht erbringen (z.B. Suche Wort A UND B im selben Satz, Absatz etc.). Der sogenannte Mehrwert der E-Books ist somit ein Feigenblatt, nur um Verwertungsrechte nicht veräußern zu müssen, und etliche Juristen sind darauf reingefallen. Interessant ist dabei auch, dass man nun in Wikipedia unter „E-Book“ den schönen Satz findet „Bis vor wenigen Jahren kam dafür noch das PDF Format zum Einsatz.“. Marschrichtung: Ein elektronisches Buch ist nur dann ein solches, wenn es nicht kopiert werden kann, und wenn die Verleger die Benutzung jederzeit abschalten können.

Bei diesem Rückblick versteht man auch, warum Laien manche Bücher auch als Wissensbanken bezeichnen, nur weil sie den Unterschied zu echten Wissensbanken nicht kennen. Das erinnert an Bibliotheksprojekte, in denen so mancher Online Katalog vollmundig als Virtuelle Bibliothek deklariert wurde, um die entsprechenden Projektgelder zu akquirieren.

Jeder weiß, dass wir heute immer öfter frei entscheiden können, ob wir ein Buch gedruckt, auf CD-ROM oder als E-Book erwerben wollen, dass gedruckte Bücher eigentlich nichts anderes als eine Ausgabeform der Dateien sind, die auch als E-Book angeboten werden, und trotzdem ist es der Verlagslobby gelungen, die Digitale Bibliothek mit Hilfe der Juristen in ihren Privatbesitz zu bringen, und die Bibliotheken weitgehend zu enteignen. Natürlich hat ihnen dabei der allgemeine Trend zur Privatisierung mit GATS beim weltweiten Zusammenbruch der kommunistischen Idee geholfen. Nun warten wir auf die ideologsche Gegenbewegung, die sich im Kampf gegen TTIP bereits ankündigt.

Worin liegt die Definition des Buches:
„Das Buch im eigentlichen Sinne ist nach seiner Form ein nicht periodisch erscheinendes Druckwerk mit meist hundert bis tausend Seiten, die durch Heftung oder Leimung verbunden und durch einen Einband oder Umschlag geschützt sind. Trotz erheblicher Schwankungen in Form und Größe nimmt es im Regal meist weniger als 3 x 25 x 25 cm ein. Es ist damit eine handhabbare ,Informationseinheit’. In elektronischer Form spricht man vom E-Book. Entsprechend der UNESCO sollte bei Büchern die Zahl von 49 Seiten nicht unterschritten werden. Anderenfalls spricht man von einer Broschüre.“ (Lehrbuch des Bibliotheksmanagements S. 9 (2011)

Die große Bedeutung des Buches in der Geschichte der Menschheit erwuchs aus seiner Vielfalt und Anpassungsfähigkeit an unzählige monographische Themen mit einem oder mehreren Urhebern. Aber auch hier gibt es verheerende Missverständnisse, weil die Verlagslobby gern von Urheberrechten spricht, aber ihre Verwertungsrechte meint. Wie man an den Copyrights erkennt geht es weniger um Urheber, als um Kopierrechte und damit wissenschaftlich gesprochen um die Erzeugung von Redundanz (und nicht um Information, wie Laien gern und oft nachbeten). Die Einschränkung „im eigentlichen Sinne“ macht auch deutlich, dass die Menschheit beim Umstieg von den Buchrollen, zu den gebundenen Büchern, sich darüber im klaren war, dass der Inhalt einer Papyrusrolle, übertragen auf ein geschriebenes bzw. gedrucktes Buch, als Informationseinheit, gleichbedeutend ist. Auch die digitale Archivierung erfordert, dass ein Buch ein Buch bleibt, und der weitaus größte Teil aller Bücher kann nur noch digital archiviert werden.

Was die Verlagslobby mit allen Mitteln versucht, ist die Verhinderung, dass Dokumente immer rascher und authentischer kopiert und an alle Menschen in dieser Welt verbreitet werden können. Nein! Das ist nicht ganz richtig, nur einige versuchen dafür unanständig viel Geld zu verlangen, mit der Ausrede, sie täten es für die Urheber.

Dieser Krieg tobt nun schon seit einem halben Jahrhundert, und aus jeder neu heranwachsenden Generation werden frische Kräfte an die Front geschickt. Nicht selten auch Professoren und Bibliotheksdirektoren, die für das Verlagswesen eine Lanze brechen, auch wenn sie dabei ihre wissenschaftliche Integrität verlieren ;-)

MfG
Walther Umstätter


Am 2016-02-15 08:01, schrieb Michael Lemke:
Liebe Liste,

Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich,
hat sich ebenfalls in der NZZ zum Interview von Herrn Ball geäu8ert:
http://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-eine-zukunftsvision-die-ein-horrorszenario-sein-koennte-1.18693786


einen schönen Tag,
Michael Lemke
UB Passau


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