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Re: [InetBib] Und wo sind hier die Bücher?



Liebe Frau Haase,
 
mir ging es eigentlich darum, auch mit dem Hinweis auf den Artikel in der New 
York Times "Print is far from dead"
http://www.nytimes.com/2015/09/23/business/media/the-plot-twist-e-book-sales-slip-and-print-is-far-from-dead.html
dass das gedruckte Buch das zentrale Medium für lange Texte und die Darstellung 
komplexer Zusammenhänge bleiben wird, aus vielerlei Gründen, die man hier nicht 
alle aufführen kann. Michael Hagner hat das jüngst noch einmal für die 
Geisteswissenschaften dargelegt ("Zur Sache des Buches" 
https://www.perlentaucher.de/buch/michael-hagner/zur-sache-des-buches.html ).
Deutschland hat eine hochentwickelte Buchkultur (Verlage, Buchhandlungen, 
Bibliotheken) und Ebooks haben bisher hier nun einmal nur einen einstelligen 
Umsatzanteil, da beißt die Maus keinen Faden ab. Die meisten Leute lesen lieber 
Bücher in dreidimensionaler Form als in Form einer Datei. Das gilt für die 
Kunden der Publikumsverlage genauso wie für Wissenschaftler, in deren 
Arbeitsbereich das Buch ein wesentliches Medium der wissenschaftlichen 
Auseinandersetzung ist. In der neuen o-bib-Ausgabe ist das für die Medien- und 
Kommunikationswissenschaften noch einmal bestätigt worden (Sebastian Stopp: Was 
Kommunikations- und Medienwissenschaftler von einem Fachinformationsdienst 
erwarten: Design und Ergebnisse einer Fachcommunity-Befragung 
https://www.o-bib.de/article/view/2015H3S37-62/2895
 

Manche Bibliothekare scheinen mit den Vorlieben des Publikums Probleme zu haben 
und meinen offenbar, große Freihandbestände seien nicht mehr gefragt und 
Buchbestände nicht mehr zeitgemäß. "Weltweit fallen die Ausleihzahlen, Stellen 
werden gestrichen, Öffnungszeiten reduziert und Etats gekürzt.". So ist es und 
es ist doch längst an der Zeit dieser Realität ins Auge zu sehen," schreibt der 
Autor des FAZ-Artikels 
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/die-zukunft-der-bibliothek-das-dokk1-in-aarhus-13834316.html
 
Stimmt das denn wirklich? Ich glaube, der Autor des FAZ-Artikels irrt sich da. 
In der Zentral- und Landesbibliothek Berlin zum Beispiel, aus der ich meine 
Erfahrungen beziehe, ist das Gegenteil der Fall, und zwar wegen der guten 
Kulturpolitik des Berliner Senats (wohingegen die Personalpolitik dort eine 
Katastrophe ist). Der Etat wurde nicht gekürzt, die Stellenzahl wurde nicht 
reduziert, die Öffnungszeiten wurden erweitert und das Publikum ist begeistert 
vom vielfältigen Medienangebot. Deshalb sind die Ausleihzahlen weiterhin hoch, 
obwohl die neue Leitung den ohnehin schon zu kleinen Freihandbereich um ein 
Drittel verkleinert hat, sehr zum Ärger des Publikums.
 
Wenn man das Richtige tut, sind Bibliotheken erfolgreich. Sie werden gebraucht 
und sind beliebt, wenn das Angebot stimmt. Das sieht man auch in den Berliner 
Bezirksbibliotheken. Die Bezirksbibliothek Steglitz-Zehlendorf hat im letzten 
Jahr über 2 Mio. Ausleihen erreicht und ist damit der Spitzenreiter in Berlin.
 
Entscheidend ist, dass man den Wünschen des Publikums folgt, und da spricht die 
NuMob-Umfrage in Berlin https://numobberlin.wordpress.com/ eine deutliche 
Sprache. Die Leute wollen in den öffentlichen Bibliotheken vor allem Medien 
ausleihen. Ausleihzahlen allein sagen selbstverständlich nichts aus. Die kann 
man auch mit Lesefutter und populären Nonbooks erzielen. Es kommt auf die 
Qualität des Angebots an. Wenn die hoch ist und die Ausleihzahlen ebenso, ist 
das ein Erfolg für eine mit Steuermitteln finanzierte Bibliothek. Dann hat sie 
zur Vermittlung von Kultur und Wissenschaft eine großen Beitrag geleistet.
 
Aarhus ist keine gute Bibliothek. Das neue Konzept dort hat, was wenig bekannt 
ist, auch seinen Grund darin, dass der Etat  seit den Achtziger Jahren nicht 
erhöht worden ist und Personalkürzungen hingenommen werden mussten. Heute kann 
man den größten Teil der Bücher in Aarhus nur noch digital bekommen, was ja 
billiger ist und viel Personal spart.
 
Die Bibliothekskonzepte von Aarhus und auch von der neuen Zentralbibliothek in 
Amsterdam (keine eigene Erwerbungsabteilung, Bestand ausschließlich von 
Biblion, der niederländischen EKZ) sind eine Katastrophe, weil sie der 
nichtakademischen Bevölkerung die Ressourcen entziehen und nur noch ein 
verflachtes Einheitsangebot vorhalten. Man muss sich m. E. hüten, immer den 
neuesten Trends hinterherzulaufen, die von Gurus ausgerufen werden. Oberste 
Richtschnur müssen die Interessen der Leser sein und sie müssen bei allen 
Planungen beteiligt werden. Das ist in Berlin bei der ZLB - im Gegensatz zu 
Aarhus - leider nicht der Fall, was einen vielleicht möglichen Neubau und was 
die geplante Zerstörung des bewährten Bestandsprofils durch den Stiftungsrat 
und eine Leitung aus eben diesem Stiftungsrat betrifft.
 
Hier noch ein Tipp: Gerade ist die Arte-Sendung "Buch unter Druck" zu Ende 
gegangen  
http://www.arte.tv/guide/de/052795-000/buch-unter-druck
 
Schöne Grüße auch aus Berlin
Peter Delin
 
Apropos Berlin: Bekanntlich leben wir hier in der größten Verlagsstadt 
Deutschlands in einem Bibliotheksparadies und aus dem werden wir uns nicht 
vertreiben lassen, auch wenn das einige Bibliotheksverbandsfunktionäre und 
-wissenschaftler anders sehen.
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Liebe Frau Haase,
 
bis hierher reicht meine öffentliche Antwort auf Ihre Mail an Inetbib.
 
Ich halte es nicht für korrekt, wenn Sie an Ihre Mail an Inetbib eine private 
Antwort von mir an Sie anhängen und sie hier öffentlich posten. Diese Mail, die 
an Ihrem Posting hängt, war für Sie persönlich bestimmt (siehe Adressat), auch 
als Vorstandsmitglied des Landesverbands Berlin des DBV. Ich erwarte, dass Sie 
das korrigieren.
 
Mit besten Grüßen
Peter Delin
 
 
Peter Delin
Ringstraße 100
12203 Berlin

Tel.: 030/81305675
Mobil: 015787311689
Mail: peter.delin@xxxxxx
https://dvdbiblog.wordpress.com/[https://dvdbiblog.wordpress.com/]
 
 

Gesendet: Mittwoch, 14. Oktober 2015 um 19:32 Uhr
Von: "Haase Jana" <haase.jana@xxxxxxxxx>
An: inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx
Betreff: Re: [InetBib] Und wo sind hier die Bücher?
Lieber Herr Delin,

vielen Dank noch einmal für die Ausführungen. Der FAZ-Satz

"Weltweit fallen die Ausleihzahlen, Stellen werden gestrichen, Öffnungszeiten 
reduziert und Etats gekürzt." müsste demnach umgedreht werden "Weltweit werden 
Etats gekürzt, Öffnungszeiten reduziert, Stellen gestrichen und fallen die 
Ausleihzahlen".
Das ist natürlich ein wichtiger ein Aspekt des komplexen Problems.
ich sehe die Bibliothek aber auch als Ort - als Ort des Aufbewahrens von 
Informationsträgern, als Ort des Findens von Informationen, als Ort des 
Austauschs und der Kommunikation zwischen Menschen und Menschen sowie Menschen 
und Informationsträgern, als Ort des Aufenthalts, als Ort des Lernens und als 
geschützten Ort.
In unserem Kulturraum scheint gerade bei jungen Menschen letzteres an Bedeutung 
zu gewinnen. Die virtuelle Welt ist in Zeiten, da eine Verteidigungsministerin 
von Cyber War und ein Justizminister von Strafverfolgung bei Facebook spricht 
keine Option mehr für das Bedürfnis nach Lesen und Lernen und Kommunikation in 
geschützten Räumen. Ich sehe, wie meine Benutzer und Benutzerinnen sehr genau 
auswählen, was sie digitalisieren und auf die notwendigen virtuellen 
Plattformen bringen. Da wir im Rahmen unserer Einrichtung und ihrer Bibliothek 
nur sehr begrenzt Publikationen sammeln und bewahren können, würde ich mir 
wünschen, die einschlägigen Bibliotheken der Stadt würden dies tun. Wir sind 
als Bibliothek in der Ausbildungseinrichtung wirklich eher Arbeitsort und 
Vermittlerin zu den Angeboten der weiteren Bibliotheken.
Und zur Frage, was bleibt, wenn die Originale vernichtet werden, fällt mir nur 
eines ein: die Kopien und die Verzeichnisse.

Viele Grüße aus Berlin
 


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.