Am 2015-04-30 19:19, schrieb Haase Jana:
Lieber Herr Umstätter, den Faust hat ja nicht der Goethe erfunden. Er hat das uralte Motiv ja auch nur in dem zu seiner Zeit populären Unterhaltungsformat verwertet.
Liebe Frau Haase, ich befürchte, dass Sie da die schöpferische Leistung des Herrn Geheimrates unterschätzen. Goethe hatte eine der für ihn wichtigsten Erkenntnisse im Faust verarbeitet, nämlich die Einsicht, dass Menschen im Wissensgewinn drei wichtige Phasen durchlaufen, das Streben, den Genuss und die Resignation. Er hat das ~1801 mit Schiller diskutiert, der als Professor für Geschichte die Bedeutung dieser Erkenntnis auch sofort für historische Zusammenhänge erkannte. Goethe hat dann den Faust auf dieser Grundlage als Gedankenexperiment des faustischen Menschen, der immer nur nach neuem Wissen strebt, aufgebaut. Wobei er das grundlegende Wissensparadox, dass man mit jedem neuen Wissen auf ein noch größeres Meer von Unwissenheit und neuen Problemen hinaus blickt, in der Osternacht dramatisierte. Ein Paradox, das jeder Knowledge Manager kennen sollte. Als Faust aus Verzweiflung über diese Erkenntnis selbstmord machen will, denn als Arzt weiß er wie viel Menschenleben sein unzureichendes Wissen gekostet hat, kommt sein Famulus mit dem entwaffnend ahnungslosen Satz "Zwar weiß ich viel, doch möcht' ich alles wissen." herein. Ein Niveau, das deutsche Massenmedien mit "Alles Wissen" etc. pflegen, als hätten Sie das Buch dieses deutschen Dichterfürsten noch nie gelesen.
Und als Informationsspezialistin und Ethnologin kann ich den Bibeltext auch als komprimiertes Datenformat einer jahrtausendelangen und sehr komplexen oralen Erzähung ansehen, welches eine andere Berufsgruppe seit hunderten von Jahren zu encodieren versucht.
Darauf näher einzugehen, führt hier leider zu weit. Es ist aber eine wirklich interessante Frage, wer z. B. Urheber der Erkenntnis für den Beginn des Menschseins ist. In der bildlichen Sprache der Bibel, haben Adam und Eva vom Baume der Erkenntnis gegessen, und danach zwischen gut und böse unterscheiden können. Im Gegensatz zum Glauben vieler anthropozentrisch orientierter Menschen können das Tiere nicht, Tiere und Pflanzen haben viel phylogenetisch erworbenes Wissen zum überleben, aber kein Bewusstsein. Sie können sich ihr angeborenes unbewusstes Wissen nicht bewusst machen, es analysieren und hinterfragen, wie wir Menschen. Damit können sie auch nicht zwischen gut und böse unterscheiden. Besonders brisant dabei ist die Frage, wann das bei Kleinkindern (oder auch bei Affen) ansatzweise einsetzt, und wann damit die "Würde" des Menschseins wirklich beginnt, bzw. wieder verschwindet. Einer meiner Zoologieprofessoren, (K. A. Günther) sprach davon, dass sich der Mensch plötzlich der Natur gegenüber gestellt sah. Das Buch der Bücher enthält also ein durchaus erstaunliches Wissen, zu dem an einigen Stellen bis heute wenig dazu gekommen ist.
Als Bibliothekarin sehe ich mich am ehesten als Verwalterin von Datenträgern, die es irgendwie hinbekommen muss, immer mehr verschiedene Formate für ihre Kunden lesbar vorzuhalten.
Das ist sicher auch eine wichtige bibliothekarische Aufgaben, aber neudeutsch sind Bibliothekare in erster Linie Content Manager, sonst würde in ihrer Ausbildung die Sacherschließung keine so große Rolle spielen (s. "Einführung in die Katalogkunde" Hiersamann Verl. 2005). Ob da die LoT (Library of Things) die Rettung für die von den Verlagen enteigneten Bibliotheken sein wird, ist eine durchaus spannende Frage.
Wie der Kollege Kuhlen schon richtig anmerkte, geht es beim Urheberrecht um Inhalte (die schöpferische Leistung bei der enthaltenen Information - geistiges Eigentum ist immer immateriell) und weniger um die Informationsträger (Synapsen, modulierte elektromagnetische Wellen, Festplatten, Papier oder Tontafeln). Der Autor, der ein Buch als Manuskript schreibt, und der Verlag, der es auf verschiedensten Datenträgern vermarktet, bebildert oder auch verballhornt, sie haben beide völlig getrennte Aufgaben, beim gemeinsamen Ziel. Was aber etliche Verlage heute tun, ist nichts als elektronische Verknappung von Büchern, um Information als marktfähige Ware zu deklarieren, und die Justiz unterstützt sie im Moment dabei, um einen Berufsstand zu retten. Es ist problemlos vorhersehbar, dass sich die Juristen bei Verwechslung und Vermengung dieser getrennten Teilbereiche auf Dauer in Widersprüchen verwickeln werden. Die Frage nach der Preisbindung bei Büchern, die aber keine Bücher sein dürfen, weil sie ja Dienstleistungen sind, ist erst der Anfang. Die Frage der Archivierung des Kulturgutes Buch für die Nachwelt ist das nächste Problem.
MfG Walther Umstätter
Ein schönes Wochenende und viele Grüße -- Jana HaaseAm Friedrichshain 19 c10407 BerlinTel. 030 441 50 84 ----- ursprüngliche Nachricht --------- Subject: Re: [InetBib] Preisbindung für E-Books Date: Do 30 Apr 2015 14:26:34 CEST From: h0228kdm<h0228kdm@xxxxxxxxxxxxxxxx> To: Internet in Bibliotheken<inetbib@xxxxxxxxxxxxxxxxxx> „natürlich sind eBooks Bücher." Ebenso wie Bücher der Oberbegriff von eBooks und pBooks sind, ist „Frauen“ der Oberbegriff von Ehe- und Nebenfrauen. Darum ist dieser Vergleich wirklich schräg. Für Menschen, deren Spezialgebiet bibliothekarische Klassifikationen sind, dürfte das kein wirkliches Problem sein. Daran können auch juristische Tricks nichts ändern. Denn es ist auch unzweifelhaft, das Goethes Faust urheberrechtlich bei J. W. von Goethe bleibt, gleichgültig, ob er als Hörbuch, gedrucktes Buch, ASCII-Datei, PDF-Datei, als eBook oder in Stein gehauen erschienen ist, er ist von einem Urheber untrennbar als Buch konzipiert, und welcher Verlag welche Verwertungsrechte besitzt, ist zunächst zweitrangig. Es ist richtig, dass man den Faust auch verfilmen kann, und dass er dannnicht mehr als Buch, sondern als Film erscheint. Manchmal fragt man sichschon beim Theater, was da noch vom Faust übrig geblieben ist, aber das ist eine andere Frage, denn ein veränderter Text ist eine Verfälschung, und kann nur anhand des Originals überprüft werden. Darum war es vonjeher Aufgabe der Bibliotheken, mit dazu beizutragen, dass Bücher, durchdie Möglichkeit von Textvergleichen, möglichst authentisch erhalten bleiben. Ansonsten nennt man das dann künstlerische Freiheit, wenn Regisseure aus Faust ein Happening machen ;-) Die permanenteVerwechslung von Urheber- mit Verwertungsrechten ist dabei sehr störend,auch wenn sie von einer gewissen Lobby verständlicherweise gewollt ist. Ansonsten erkennt man an dem enhanced Book, und daran, dass ein Buch,wie Goethes Faust beispielsweise als ASCII-Text plötzlich kein Buch mehrsein soll, dass die Verlagslobby hier schon recht gute Arbeit geleistet hat. Die ersten Digitalisierungen von Büchern, waren alle nur ASCII-Texte. Erst mit den Versuchen, die Bücher in elektronischer Form nicht mehr kopierbar zu machen, ihre Existenz also zu verknappen, und damit die Bibliotheken zu enteignen, kam das „enhanced“ mit ins Spiel. Denn im Prinzip kann man mit einem guten Retrieval- bzw. Textanalysesystem ein Buch als ASCII-Text viel besser analysieren und für die eigenen Belange aufbereiten, als es die e-Books ermöglichen.Ich hätte gedacht, dass Informationsspezialisten auf diesen juristischenTrick mit der Dienstleistung bzw. Datei nicht hereinfallen. Wir wusstendoch von Anfang an, dass eine Bibliografie als Datenbank auf einer Dateibasiert, trotzdem bezeichnen noch etliche Verlage ihre Datenbanken als Bibliografien. Wir müssen klar unterscheiden zwischen der Information, die in einem System enthalten ist, und der Software, mit der wir dieseInformation analysieren bzw. aufbereiten. Beide haben eigene Autoren undeigene Urheber. MfG Walther Umstätter Am 2015-04-30 07:54, schrieb Alexandra Jobmann:Mmmmmh.Rainer Kuhlen <rainer.kuhlen@xxxxxxxxxxxxxxx> wrote:> >Sehe ich doch leicht anders - natürlich sind eBooks >Bücher.Sind in Ihren Augen eBooks auch dann noch Bücher, wenn sie nur einen geringen Teil Text enthalten und sonst Videos oder Audiofiles oder was auch immer man sich noch vorstellen kann? Ich dachte immer eBook steht für enhanced books und nicht für electronic book.... Und das macht dann doch einen riesen Unterschied aus und wir sind wieder dabei, eBooks als Dateien anzusehen. Was sie meiner Meinung nach sind. Ein Textbook in ein PDF umzuwandeln und online zu stellen macht für mich noch kein eBook aus. Und mit der Buchpreisbindung für eBooks wird IMHO der jetzige Zustand dieses Mediums zementiert. Das sollten Informationsprofis eigentlich nicht unterstützen. Viele Grüße Alexandra Jobmann -- Alexandra Jobmann - Bibliotheksleiterin - IPN - Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik Olshausenstr. 62 24118 Kiel Tel.: 0431-880-3105-- http://www.inetbib.de ---- ursprüngliche Nachricht Ende ----
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