Sehr geehrte Damen und Herren,
entschuldigen Sie bitte, die vorherige Mail war eigentlich nur für Frau
Bargmann in Wien gedacht. (Grüßen sie mir bitte die Bereiterinnen der
Spanischen Hofreitschule und die SchauspielerInnen/KünstlerInnen vom
"Institut für Angewandte Korruption"! Über die Ästhetik des Karlsdoms
schweige ich an dieser Stelle lieber.)
Was die Frage der Falsifizierung betrifft, bin ich da sehr skeptisch. Mal
beseite gelassen, daß Poppers Buch über "Die offene Gesellschaft und ihre
Feinde" zwar auf einer guten Grundidee basiert (lassen Wir Uns öffentlich
darüber diskutieren, wie diese Gesellschaft beschaffen sein sollte - und es
gibt ja z.B. auch eine Debatte zu Fragen des bedingungslosen
Grundeinkommens und zu (neoliberalen) Markttheorien/des Sinns und Unsinns
von Kapitalismus, siehe Handelsblatt, eigentlich ist Zensur ja abgeschafft,
auch wenn damals Immanuel Kant noch seine Probleme in Preußen hatte), aber
seine Interpretationen der antiken Philosophie, und zwar auch im Bereich
Vorsokratiker etc., sehr problematisch sind, weil Passagen aus dem Kontext
gerissen werden und isoliert interpretiert werden, statt den
Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen.
Es ist eine Beobachtung der Wissenschaftssoziologie, der jedeR
HistorikerIn, der/die sich mit Naturwissenschaften beschäftigt, auch
zustimmen wird, daß de facto keine Falsifizierung stattfindet, jedenfalls
nicht so, wie das bei Popper diskutiert und verstanden wird. Wer eine
halbwegs vernünftige Debatte über wissenschaftlichen "Fortschritt" führen
will, sollte mal Thomas Kuhn, "The Structure of Scientific Revolutions"
gelesen haben. Auch wenn kleingeistige ErbsenzählerInnen von Fliegen-,
Spinnen- und Schmetterlingsbeinen (oder Briefmarken) bemängeln werden, daß
darin bis zu 22 verschiedene begriffliche Unterschiede des Wortes
"Paradigma" zu finden sind, was übrigens auch über Hegel gesagt werden kann
(siehe die Arbeiten von Michael Theunissen zum Begriff der Dialektik), war
und ist dieses Buch bahnbrechend.
Im Bereich der Physik (z.B. der Entwicklung der Infinitesimalrechnung und
dem Fall Einstein) läßt sich gut zeigen, daß Veränderungen in den
Naturwissenschaften oft weniger mit Plausibilität und empirischen Beweisen
oder Falsifizierung zu tun haben, sondern daß viele "soziologische"
Kriterien eine Rolle spielen: Wie verhalten sich die Doyens der
Wissenschaften, wer leitet die Forschungslabore, wer trifft die
Entscheidungen, welche Projekte Gelder erhalten und welche nicht? Bei Kuhn
findet sich auch die etwas zynische Bemerkung, in gewissem Grade hänge die
Durchsetzung eines wissenschaftlichen Paradigmas (auch etwa der
Relativitätstheorie) davon ab, wann die alten Herren, die im alten
Paradigma geschult sind, darin sozialisiert sind und noch
intim-psychologisch daran kleben, "sich nicht lösen können", denn endlich
"wegsterben". In gewissen Kontexten zitiere ich diesen Satz allerdings
lieber nicht, je nachdem.
Zur Frage von Wissenschaftssoziologie und biologisch/medizinischer
Forschung, siehe übrigens auch die Arbeiten von Donna Haraway zur
Primatenforschung, Onkologie und Reproduktionsmedizin.
Im Bereich der Politologie im weitesten Sinne läßt sich zum Beispiel in den
USA beobachten, daß manche "Forschungsbeiträge" (ich denke hier unter
anderem an die Goldhagen-Debatte, an "The Clash of Civilizations" von
Samuel Philipps Huntington und an "The End of History and the Last Man" von
Francis Fukuyama) zu gutbezahlten Karrieren in der Wissenschaften und
Politik geführt haben. Diese Bücher sind breit zitiert und debattiert
worden. Ich möchte ganz deutlich sagen, daß ich denke, daß die
Goldhagen-Debatte viel Gutes in der deutschen Gesellschaft bewegt hat.
Allerdings muß er sich anscheinend schon den Vorwurf gefallen lassen, daß
wohl seine Deutsch-Kenntnisse (damals) so begrenzt waren, daß er viele
seiner Archiv-Quellen auf sehr problematische Art und Weise interpretiert
hat - die Nuancen der sprachlichen Äußerungen haben einfach seine
Kompetenzen überschritten. Bei deutschen HistorikerInnen wäre diese
Doktorarbeit, die zu einer guten Stelle in Harvard führte, wahrscheinlich
aufgrund solcher Probleme bereits im Vorfeld zurückgepfiffen worden und
hätte eine Lernphase (Deutschunterricht) und Überarbeitung notwendig
gemacht. Übrigens fand ich Herrn Goldhagens Präsentation zu der Frage,
warum Völkermorde stattfinden, so dermaßen massenmedien-orientiert und
uninformiert (ich hatte eher den Eindruck, daß hier ein Pop-Star vermarktet
wird, als daß da eine wissenschaftliche Debatte stattfindet), daß ich
irgendwann einfach gegangen bin. Eine Doktorandin der Ethnologie der Freien
Universität Berlin, Esther Denzinger, die über die Aufarbeitungsprozesse in
Ruanda arbeitet, kann da nicht nur wesentlich intelligentere und
aufschlußreichere Beobachtungen anbieten, sondern auch deutlich
konstruktivere Policy-Vorschläge machen. Allerdings sind ihre finanziellen
Kapazitäten deutlich unter denen von Herrn Goldhagen und der hochdotierte
Job ist auch (noch) nicht da.
Übrigens ist es in Harvard möglich, einen B.A. mit Spezialisierung auf
mittelalterliche Geschichte zu vollenden, wobei die sprachlichen
Anforderungen an Lateinkenntnisse mit dem Belegen eines 1,5-monatigen
Kurses ausreichen. Wenn ich das deutschen HistorikerInnen erzähle, bekommen
die wahlweise einen Lachkrampf oder sind schockiert. Deutsche
AbiturientInnen werden in Harvard automatisch ins zweite Jahr eingestuft.
Was Huntington und Fukuyama betrifft, haben beide ihre Thesen inzwischen
deutlich zurückgenommen bzw. relativiert. Übrigens hat Herr Huntington in
seinem einschlägigen Artikel nicht nur den peinlichen Fehler gemacht, daß
die statistischen Angaben, die er selbst zitiert, mehr Kriege innerhalb
seiner "Zivilisationen" belegen als zwischen seinen "Zivilisationen" (und
auch sein Zivilisations-Begriff ist sehr fragwürdig), sondern seine
Tätigkeit als US-Regierungsberater hat dann auch genau die Kriege
herbeigeführt, die er vorher in seiner "wissenschaftlichen" Arbeit
herbeischwadroniert hat. In der politologischen Forschung der USA waren die
Mängel der Arbeit bekannt, leider erweckt das z.B. die 1,5 Millionen toten
IrakerInnen, darunter die meisten ZivilistInnen, auch nicht wieder zum
Leben. Geldmangel ist vermutlich auch nicht das größte Problem von Herrn
Huntington oder Herrn Bush, der mit rasiertem Schädel in seiner Ranch in
Texas sitzt.
Wer sich für die philosophische Debatte zum Begriff des "radikal Bösen"
interessiert (und nebenbei viel über wissenschaftspolitische Probleme
damals in Preußen/Immanuel Kant lernen kann), sei auf das Buch von
Christoph Schulte verwiesen: "radikal böse - Die Karriere des Bösen von
Kant bis Nietzsche", Wilhelm Fink Verlag. Er behandelt darin neben einer
sehr textinformierten Lektüre von Kant und Autoren wie Baader, Schelling,
Hegel, Kierkegaard und Nietzsche auch die Frage, wie es kommen konnte, daß
die deutsche Lichtgestalt der Aufklärung und der allseits anerkannte
Philosoph Immanuel Kant aufgrund einer kleinen Bemerkung zur Religion von
den preußischen Zensurbehörden gemaßregelt wurde. Immerhin, er wußte sich
zu wehren.
Übrigens hat Herrn Schultes Lehrer Jacob Taubes den Ruf, die besten
Zusammenfassungen und Bemerkungen über Marx und Hegel geschrieben zu haben,
die mehr oder weniger auf Deutsch gedruckt wurden. Michael Theunissen hat
einmal gesagt (u.a. auf Hegel gemünzt, bei dem es rechtshegelianische und
linkshegelianische Interpretationen gibt), daß es Zeichen eines großen
Denkers ist, wenn er verschieden interpretiert werden kann. Dasselbe gilt
für Platon, bei dem auch manchmal Singular und Plural durcheinandergehen,
was allerdings z.B. JapanerInnen überhaupt nicht stört. Immerhin hat Platon
seine Blaupause für den Totalitarismus, bei dem sich nicht nur Stalin nach
orthodoxem Priesterseminar und christlicher Beratung bedient hat, bevor er
seine Gulags baute, später revidiert und die Nomoi geschrieben, bei denen
Institutionen als Wächterinstanzen eine große Rolle spielen.
DemokratieforscherInnen wissen, daß Institutionen des gut ausgebildeten
Personals bedürfen - ein Rechtsstaat ist das Papier nicht wert, auf dem er
geschrieben steht, wenn die Menschen nicht die juristischen Kenntnisse
haben, die sie brauchen, um z.B. zu richten. Ähnliches gilt für
Schummelkarrieren und Plagiate/Ghostwriting in der Wissenschaft.
Hannah Arendt hat einmal gesagt, Bürokratie sei eine "Niemandsherrschaft".
Auch wenn ihre Thesen zu Adolf Eichmann wirklich sehr problematisch sind
(siehe die Tagebücher des damaligen regelmäßigen Gesprächspartners von
Herrn Eichmann im israelischen Gefängnis) - sie ist wohl etwas naiv seiner
Selbstinszenierung während des Prozesses auf den Leim gegangen -, kann
nicht bestritten werden, daß sie sehr konsequent ihren Weg gegangen ist,
auch auf eigene Kosten, mit dem Risiko des Karriereendes. Die Frage ist
dann auch, wofür Wir leben und forschen, ob Wir gute oder schlechte
Kompromisse machen (Avischai Margalit) und welche Ziele und Zwecke Wir mit
der Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes eigentlich verfolgen.
Ich denke, daß dies keine quantitative Frage ist, und für mich selbst habe
ich jedenfalls geklärt, auf welcher Seite ich stehe.
Mit freundlichen Grüßen und guten Abend
Naomi Anne Kubota
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