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Re: [InetBib] Mobilmachung gegen Elsevier?



Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich sehe das wie Herr Herb: die rasante Entwicklung der Unterschriften 
auch und
gerade hochkarätiger Wissenschaftler (derzeit wohl noch hauptsächlich 
aus der
Mathematik Community) zeigt, dass da ein Nerv getroffen wurde und die Leute
wirklich unzufrieden mit dem gegenwärtigen System sind.

Es lohnt sich übrigens, die beiden Originalbeiträge vom 21. und 23. 
Januar im
Blog von Timoths Gower mitsamt den Kommentaren zu lesen, weil sie die
Verantwortung der Wissenschaftler und ihre divergierenden Interessen und
Handlungsoptionen sehr differenziert beleuchten.

Das ist auf jeden Fall ein Thema, das im Bibliotheksausschuss und 
bestehenden
Kommissionen/Arbeitsgruppen zum wissenschaftlichen Publizieren an der Hoch-
schule diskutiert werden sollte.

Bibliotheken an Universitäten, deren eigene Wissenschaftler auch gerade 
Unmut
gegen Elsevier zeigen (da gibt es hier im Lände unter den Exzellenz-Unis 
gerade
wieder ein neues Beispiel, nicht weit von Stuttgart), und die 
möglicherweise mit
einer solchen Erklärung selbst ein Zeichen setzen wollen, können die Chance
ergreifen, mit Rückendeckung der eigenen Wissenschaftler einen mutigen 
Schnitt
durch Kündigung der bisherigen Verträge ziehen, wenn der dadurch auf Jahre
gebundene und stetig wachsende Anteil am Zeitschriftenbudget nicht mehr
finanzierbar ist und die Kosten in Relation zur Nutzung zu wünschen 
übrig lassen,
alles im Wissen, dass das ggf. eine Durststrecke mit stark eingeschränktem
Zugang über Jahre bedeuten kann, bis Elsevier evtl. wieder bereit ist, 
Zugriff auf
eine größere Anzahl von Titeln zu stark reduzierten Gesamtkosten zu gewähren
(ich spreche aus eigener Erfahrung).

Bibliotheken sind in einer Zwickmühle, weil sie den Wissenschaftlern 
soviel wie
möglich Artikel zugänglich machen wollen und die Lizenzierung von "bulk 
access"
im Rahmen von Kollektionen dabei helfen. Aber es sind die 
Wissenschaftler und
ihre jeweilige Community, aus der die Entscheidung über Wertfragen und 
ethische
Fragen im wissenschaftlichen Kommunikationssystem kommen muß: wo will ich
publizieren, welche Verlage und Geschäftsphilosophien will ich durch 
Refereeing
und oft unbezahlte Arbeit und in vielen Fällen letztlich auch aus 
öffentlichen Mitteln
getragenen Tätigkeit im Editorial Board unterstützen?

Insbesondere stellt sich für Wissenschaftler und die von ihnen besetzten 
Editorial
Boards die Frage, ob wir im Zeitalter elektronischen Publizierens und 
den darin
gegebenen ganz anderen intuitiven Filtermöglichkeiten über Tagging 
(Browsing
über Collections und Subjects) und angesichts erfolgreicher neuer und
kosteneffizienter Modelle wie des Mega-Journals PLOS One wirklich noch so
viele Zeitschriften benötigen, von denen gerade die second rank 
Zeitschriften in
Relation zur Nutzung besonders teuer waren und sind (das will Elsevier 
jetzt
perspektivisch ändern, aber nicht etwa, indem sie die Second rank journals
billiger, sondern indem sie die Top Journals teurer macht). PLOS One hat 
Article
Level Metrics populär gemacht und das scheint letztlich die bessere 
Alternative
zur überkommenen Hackordnung der Journals und ihrer jeweiligen akademischen
Reputation.

Als Erwerbungsbibliothekar weiß ich natürlich, dass von den auf der ad hoc
aufgesetzen Website http://www.thecostofknowledge.com/
vorgebrachten 3 Haupteinwänden der 2. Einwand so nicht stimmt. Die 
wirklichen
Verhältnisse sind so komplex, dass es nicht wundert, wenn die Fakten 
falsch bei
den Wissenschaftlern ankommen (das nimmt dem Anliegen der Wissenschaftler
aber nicht seine Berechtigung). Tatsächlich kann jede Bibliothek 
Zeitschriften
im "pick & choose" Verfahren auch einzeln kaufen und auch wieder 
abbestellen,
wie sie möchte, aber die Zeitschriften werden dann noch teurer (z.T. um 
fast 20%)
und der Verlag verweigert i.a. die Ergänzung durch Subject Collections 
oder die
kpl. sog. "Freedom Collection", die nur angeboten werden, wenn man sich auf
eine mehrjährige Vertragsbindung über den gesamten Campus ohne Abbestell-
möglichkeit (nur Titeltausch ist zulässig) mit einer fixen, weit über 
der Inflationsrate
liegenden jährlichen Preissteigerung einlässt. Das Resultat ist die o.a.
"Durststrecke", auf die sich jede Universität einrichten muss, die ihren 
Umsatz
bei Elsevier deutlich reduzieren will. Und auch die Frage der 
exorbitanten Preise
kann sinnvoll nicht für Zeitschriftenabos individuell und losgelöst von 
den jeweiligen
lokalen/regionalen Arrangements für "cross access" und "additional 
access" über
Zeitschriftenkonsortien und lizenzierte Zeitschriftenpakete betrachtet 
werden.
Die tatsächlichen aggregierten Kosten pro Nutzung können je nach den Rand-
bedingungen bundling hoch oder niedrig ausfallen. Hier hängt alles davon 
ab, ob
es der Bibliothek - zumal in einem großen traditionell zweischichtigen 
Bibliotheks-
system gelingt, sich von der Preiskopplung an die historisch gewachsenen
(ehemaligen) Printbestände zu befreien, die auf heutigem Preisstand 
schlicht
nicht mehr finanzierbar sind. Manchmal hilft es halt nur, wenn man den 
gordischen
Knoten durchschlägt, auch wenn es wehtut.

Von Elsevier würde ich mir wünschen, dass sie flexibler in der 
Vertragsgestaltung
wären und z.B. wenigstens eine Cancellation allowance einräumten. Auch 
müsste
es möglich sein, im Falle von Etatkürzungen eine flexible Anpassung 
(Reduktion)
der lizenzierten Kollektionen vorzunehmen, das wäre ein Mittelweg zu dem 
mit
drastischen Einbußen an bereitgestellten Inhalten verbundenen Rückfall 
auf die
Lizenzierung von Einzeltiteln.

Mit besten Grüßen,
B.-C. Kämper, Universitätsbibliothek Stuttgart

P.S.: Gerade sendet mir mein Bibliotheksdirektor, Herr Stephan, einen 
Auszug aus
einen aktuellen Artikel der NZZ. Die ETH-Bibliothek wird jetzt von 
Elsevier und Co.
verklagt:

Ein Bärendienst an der Forschung
Wie Wissenschaftsverlage den freien Zugang zu Informationen zu 
blockieren versuchen

http://www.nzz.ch/nachrichten/hintergrund/wissenschaft/ein_baerendienst_an_der_forschung_1.14511447.html

Ich glaube, jetzt wird die Boykottbewegung der Wissenschaftler gegen 
Elsevier
erst recht Auftrieb bekommen,auch in Europa. Das kann noch spannend werden.

Am 27.01.2012 13:49, schrieb Ulrich Herb:
lieber herr müller,


darüber mag man rätseln, ich finde die iniative sehr interessant. und
nachdem die bibliotheken elsevier ja nicht gerade in panik versetzt
haben, dürfen nun mal die wissenschaftler ran. man muss die initiative
ja nicht feiern, aber man sollte auch nicht gleich die perspektiven in
frage stellen, ein solcher habitus muss wachsen und die kollegen machen
eben mal einen anfang, anstatt die hände in den schoß zu
legen.eigentlich schön, oder?


(btw glaube ich, dass bibliotheken für verlage immer marginaler werden,
wissenschaftler aber nicht)


viele grüße


ulrich herb



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