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Re: [InetBib] Bibliothek blockiert Wikileaks
- Date: Mon, 13 Dec 2010 23:14:13 +0100
- From: Silke Ecks <furious.sun@xxxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] Bibliothek blockiert Wikileaks
Lieber Herr Delin,
auch dies Link habe ich mir mit Interesse angesehen und mit innerer
Hitze den Nachtfrost vertrieben.
Es gibt dort noch weitere interessante Links.
Es ist interessant, zu lesen, dass viele Amerikaner und ihre
Bibliothekare die Notwendigkeit für das Handeln der LOC nicht
einsehen, mal abgesehen von der zumindest zur Zeit nicht möglichen
sonstigen Blockade.
Ich fasse zunächst zusammen, was ich gelesen habe - wen's nicht
betrifft, der möge es ignorieren -, und bitte offen und jederzeit um
inhaltliche und SACHLICHE Korrekturen IN MANIERLICHER FORM. Manches
davon betrifft z.B. Rechtsfragen, und davon habe ich nicht viel
Ahnung, nur Vermutungen dazu.
Es gibt so viele Punkte -
- soll denn nun auch z.B. die New York Times und sonst die Presse
blockiert werden? (die bei weitem häufigste und oft
ironisch-rhetorisch gesetzte Frage)
- Wie verhält sich das zur resp. Verfassungen u.a. Gesetzen?
- Wie verhält es sich zum Selbstverständnis und modernen Ethos der
Bibliothekare?
- wer hat das Recht, zu entscheiden, was wer liest und wo?
- die Benachteiligung von Mitmenschen, die auf Bibliotheken als ihren
Internetzugang angewiesen sind (es hat eben nicht jede/r einen Laptop,
um von freiem WLAN Gebrauch zu machen, und mag vielleicht auch das
durchschnittliche Internet-Café nicht - wo dann, wenn der Zugang frei
ist und die Atmosphäre nicht irgendwo zwischen Telefonhäuschen und
Stripschuppen baumelt, doch gerne Verzehrzwang herrscht.)
- Was wäre, wenn ein US-Abgeordneter eine inhaltliche Rechercheanfrage
zu diesen Dingen in seiner Bibliothek startet? (Sie selbst, Herr
Delin)
- irgendwie nicht ganz unberechtigt erscheinende, recht häufige
Vergleiche mit v.a. China, aber auch Nazi-Deutschland oder dem
finsteren Mittelalter, nicht nur in diesem Forum. Auch fällt der
Begriff "digital McCarthyism".
- Diplomatie ist sicher sinnvoll, und ein Teil ihrer Strategie und
ihres Erfolgs, sozusagen der Witz an ihr, besteht darin, der einen
Seite dies zu sagen und der anderen Seite jenes (The Now Show, BBC4
vom letzten Freitag)
- vermutlich sollte/ müßte/ dürfte doch auch in der LOC zwischen den
Computern, die der Belegschaft zugänglich sind, und öffentlichen
Terminals unterschieden werden?
- mal abgesehen von insgesamt nur zum Teil klassifizierten und auch
sonst ziemlich harmlosen Inhalten der Dokumente und folgendem Umstand:
- Wikileaks (oder Assange, in dieser Sache) steht bisher unter keiner
Anklage! Die einflussreiche Nicht-Regierungs-Organisation American
Civil Liberties Union (ACLU) rät dem Staat auch stark davon ab. (D.h.
m.E., dass eine Verweigerung der LOC dem Zensuransinnen gegenüber
rechtlich keineswegs auf tönernen Füßen stünde.)
- es wird bedauert, dass Wikileaks die Bankeninformationen, die sie
haben sollen, bisher nicht veröffentlicht haben,
- es wird, teilweise mit guten Begründungen, auch Zensur bei den
Kommentaren auf der genannten Site vermutet.
So. Meins.
- Etwas absurd scheint mir, dass vielleicht der- oder diejenigen, die
diese Informationen an Wikileaks weitergegeben haben, nun vor
Hochverratsanklagen stehen - was in den USA immer noch mit der
Todesstrafe geahndet werden kann. Und wohl auch anderswo.
- die Authentizität der Unterlagen ist bisher allenfalls durch die
Handlungen der US-Regierung implizit bestätigt, sie sind somit als
Quellenmaterial als einstweilen nur bedingt brauchbar
- im Falle weiterer Leaks: wer kann sicher sein, dass diese
(zukünftig) nicht eher unter "Desinformationsstrategie" fallen weren?
M.a.W.: Wikileaks ist als Site so oder so sozusagen "verbrannt", wie
James Bond das wohl nennen würde... Bisher war das vermutlich nicht
der Fall, weil es doch alles etwas überraschend kam, offenbar auch für
die Geheimdienste usw.- sollte man nicht schon deshalb diese erste und
zweite Generation von vermutlich nicht manipulierten Dokumenten
gewissermaßen als Maßstab schätzen?
- Und dass auch dort viele vor kommenden Enwicklungen, aka Zensur, warnen.
-------------
Im Anschluß an Herrn Fenn weiter oben:
Prüfungsaufgabe:
Was machen Sie, wenn eine Amtsperson an Sie herantritt und fordert,
dass Sie bestimmte Webseiten im Internetzugang Ihrer Bibliothek
blockieren?
Und wenn Sie Sich entscheiden sollten, es zu tun - wie machen Sie das?
Wie reagieren Sie auf dem folgende Nachfragen von Medien und Kunden?
Haufenweise böse Fragen, nicht nur für den FaMI-Abschluß oder
Bachelor-Arbeiten... :-D (bbbibbbbberr... Die Prüfer tun mir auch
leid...)
------------
Insgesamt wird dies alles vielleicht die offenbar nicht nur in den USA
nötige Debatte zum Thema (Internet-)Zensur verschärfen, und das halte
ich für durchaus sinnvoll, wo nicht notwendig. Es scheint oft das
Bewußtsein zu fehlen, auch für eine gewisse Dringlichkeit der Sache,
bevor das dann plötzlich zu spät ist. Und über Gegenmaßnahmen wird
nicht nachgedacht, weil, Zensur ist ja anderswo. Noch.
-------------
Die LOC ist (bzw. war) in einer schwierigen Situation (und hat sich
ihr, nicht nur m.E., nicht offen gestellt).
Der politische und nicht zuletzt sicherlich auch ökonomische Druck auf
die Bibliothek ist nachvollziehbar. Jedoch:
Sie hätte z.B. eine gerichtliche Klärung des rechtlichen Anspruchs von
etwas, das offenbar erstmal nur ein Hinweis an Dienststellen war,
nicht mehr, und keinesfalls ein dienstlicher Befehl, betreiben oder
einfordern können.
Hätthätthätt.
Jedoch: Wer die Klage bezahlt?
Tja, Geld ist eben nicht demokratisch. Nicht, wenn man keins hat. Ich
weiß, wovon ich rede.
Haben Bibliotheken auch Berufsschadensversicherungen (oder wie immer
die heißen mögen?)
Und wer bezahlt die?
Jedenfalls kann, genauso wenig wie das Zuschlagen der Stalltür je das
Vieh zurückbringt, der Schaden, der durch diese zu vorschnelle
Handlung verursacht wurde, wieder ohne Weiteres rückgängig gemacht
werden.
Das ist möglicherweise am Ende eine noch viel schwierigere Situation...
-----------
Zumindest in einem Land mit Präzendenzrecht interessant ist auch das
hier (ebenfalls @, wie von Herrn Delin genannt,
http://blogs.loc.gov/loc/2010/12/why-the-library-of-congress-is-blocking-wikileaks/)
51. Michael Fischer
December 4, 2010 at 3:14 am
My understanding is that once former secrets have been made public, the
information is no
longer subject to the law because it is no longer secret.
Die Veröffentlichung würde also den rechtlichen Status des
Veröffentlichten verändern. Das leuchtet mir durchaus ein - es ist
doch auch bei z.B. Dissertationen so, oder?
Wie jemand anders dort schrieb:
102. TC
December 5, 2010 at 11:42 am
[...] It’s illegal to leak classified information, but not to report or
publish it.
Auch hübsch:
81. Michael Cairns
December 4, 2010 at 2:19 pm
Presumably, the link will be live on the National Archives site…?
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Ganz was anderes zwischendurch, zur Auflockerung -
als eine nicht zu unterschätzende Bedrohung des Open-Access-Gedankens
und der Verpflichtung zur Archivierung des Publizierten betrachte ich
ja immer noch diese Wikipedia- u.a. Rip-Off-"Publikationen", die von
dem Knalltüten-Verlag da aus Mauritius "veröffentlicht" werden.
Wo soll DAS enden?! Wo endet BoD?
Wie soll das praktisch gehandhabt werden? Das ist doch so eine Art
Kopier-Tsunami!
-----------
Weiter:
Es wird anscheinend nicht klar gesehen, dass, zumindest in unseren
Tagen, die Bewertung, ob etwas legal, wünschenswert oder sonstwas ist,
nicht dem Urteil der Bibliothekare unterliegt (außerhalb des jeweils
Fachlichen jedenfalls - das war früher sicher anders, aber es ist m.E.
gut so, wie es ist) - deren Aufgabe es sein sollte, vorhandene
Informationen auch unter erschwerten Umständen zugänglich zu machen/
halten. Meinetwegen mit Warnschild, aber zugänglich!
Ein weiterer Punkt ist auch, was mit dem indirekten Zugang zu
unerwünschten Sites über weitere und immer neue Spiegel ist? Mal
abgesehen von den durchaus vorhandenen technischen Problemen beim
Versuch, sowas zu blockieren - aber die USA sind immer noch im Herz
des Internet - wenn die abschalten...
Wenn man da anfängt, riecht es jedenfalls nicht irgendwie nur nach
etwas angebrannter chinesischer Küche mit zuviel Geschmacksverstärker
- es ist wirklich der Versuch, "die Tide zurückzuschaufeln", wie auf
der oben genannten Website jemand schrieb.
Als Küstenbewohnerin kann ich Ihnen aber verraten, dass das völlig
zwecklos ist, und dass mitunter selbst starke Dämme trotzdem brechen.
Und dass es allemal nur wenig Freude macht, aber auch, dass daraus
gelernt werden kann, zum Bsp. über besseren Umgang mit der Umwelt...
(es treibt mich da offenbar immer wieder hin, selber schaufelnd).
Wie will diese wichtige, sehr große Bibliothek so ihre *anderen*
Aufgaben erfüllen? Zu denen die Unterdrückung und Zurückhaltung von
Informationen schon definitionsgemäß nicht gehört - die
Selbstbeschreibung des "mission statements" im ALA Bill of Rights
widerspricht den Vorgängen jedenfalls aufs Heftigste.
Mal abgesehen davon, dass diese Selbstzensur ungeachtet des Patriot
Acts usw. auch der Verfassung widerspricht - nicht nur der
amerikanischen.
(Die Beleuchtung der dt. Rechtslage in diesem Thread finde ich sehr
interessant und nützlich!)
So ist und bleibt das Handeln der LOC m.E. peinlich - und natürlich
(zum Glück) ineffektiv.
Aber genau das, dass wirklich jede/r sonstwo alle diese Dokumente
lesen könnte, wenn er oder sie es wollte, ist nicht der Punkt - der
Punkt ist, dass deise Bibliothekare eingeknickt sind, wo sie noch
lange hätten kämpfen sollen und auch sehr wohl problemlos gekonnt
hätten, und damit ein ganz schlechtes Beispiel geben.
Es ist aber ja auch nicht das erste oder einzige Mal, dass dort
Zensurbestrebungen nicht widerstanden wurde - oder Bücher verworfen,
oder?
Vielleicht wird bald ein Heulen, Wehklagen und Zähneklappern anheben
unter all jenen, die ihre alten Zettelkataloge nicht eingelagert
haben, oder gar weitergeführt - und das nicht etwa, weil der Strom
gründlichst ausgefallen ist...
Mir bleibt nur der Trost, dass in einem ordentlichen Haus nichts
wirklich verloren geht, und irgendwie ist am Ende diese Welt insgesamt
ein ziemlich ordentliches Haus. Aber es braucht bei so vielen Zimmern
Gedächtnisunterstützung... Manchmal träumte ich von einer
Bibliotheksstadt, der ganzen Hamburger Speicherstadt als
wohltemperierter Bibliothek... Borges und so...
Na ja. Blabla. Ist spät.
Gute Nacht, habt acht.
Silke Ecks
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2010/12/13 Delin, Peter <delin@xxxxxx>:
Hier die kurze "Rechtfertigung" aus dem Blog der LoC und die Kommentare
aus dem Publikum:
http://blogs.loc.gov/loc/2010/12/why-the-library-of-congress-is-blocking-wikileaks/
Beste Grüße
Peter Delin
Silke Ecks schrieb:
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http://www.inetbib.de
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.