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Re: [InetBib] Professor Reuß, das Urheberrecht und 1995
- Date: Tue, 1 Sep 2009 17:12:49 +0200
- From: Matthias Ulmer <mulmer@xxxxxxxx>
- Subject: Re: [InetBib] Professor Reuß, das Urheberrecht und 1995
Lieber Herr Steinhauer,
jetzt unterschreiten Sie Ihr Niveau aber erheblich. Sachlich,
theoretisch, mag das ja alles richtig sein. Aber: ist es Ihre und
unsere Zeit wert? Ist der Sommer so langweilig, dass Ihnen nichts
besseres einfällt als den Beckmesser von Herrn Reuß zu spielen?
Ja, bei jeder technischen Revolution gibt es Warner, Menschen die
den Untergang des Bestehenden fürchten. Asche aufs Haupt dieser Warner!
Aber gilt nicht auch: bei jeder Revolution gibt es Propheten des
Umsturzes, die das jüngste Gericht ankündigen, die komplette
Beseitigung alles Althergebrachten?
Und beim Rotwein, wenn Sie alleine sind und beide Augen ein bisschen
zudrücken, dann geben Sie vielleicht zu, dass weder die Warner noch
die Propheten, weder des Untergangs noch des Umsturzes je Recht
behalten haben. Es kommt immer etwas Neues dazu, es fällt immer
etwas Altes weg. Aber es bleibt auch immer sehr viel vom Alten
bestehen. So pragmatisch und langweilig geht Fortschritt vor sich.
Natürlich, unter den Propheten des Umsturzes wird der Warner
gesteinigt. Und umgekehrt. Und das, obwohl doch beide wissen, dass
das alles Käse ist.
Wenn man sich hier aber fröhlich den Mund über Herrn Reuß Bemerkung
zu PDF und XML zerreißt, wenn man ihm hier ein Narrenkäpplein
überzieht und dann fröhlich schenkelklatschend und jauchzend um ihn
herumhüpft, dann vergisst man hier leider, dass das Komische an der
Szene nicht die Person in der Mitte ist, sondern der Narrentanz, der
drum herum aufgeführt wird.
Mit dem Wandel bei den Medien, beim Mediennutzungsverhalten, beim
Schreiben, beim Kommunizieren, bei der Speicherung, bei der
Datenerschließung usw., mit diesem Wandel haben wir doch ein
ungeheuer komplexes Geschehen vor uns. Und jeder bewirbt sich
persönlich und eindringlich um eine Narrenkappe, wenn er behauptet,
dass er genau weiß, was passieren wird. Insoweit sind die Gedanken
von Herrn Reuß zur Bedeutung der gedruckten Werke für bestimmte
Wissenschaftsbereiche durchaus nachdenkenswert. Genau so wie die
Gedanken anderer zu Open Access. Oder zu Hybridpublikationen. Oder
zur Privatkopie. Oder zur Freiheit des Wissenschaftlers. Oder zur
Bedeutung der Bibliothek.
Ich finde es genau so nachdenkenswert, was das eigentlich bedeutet,
wenn vollkommen unwidersprochen seit einiger Zeit das Diktum
herrscht, dass die einzige Währung der Wissenschaft die Sichtbarkeit
oder die Verbreitung ist.
Herzliche Grüße
Matthias Ulmer
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Am 01.09.2009 um 13:23 schrieb Eric Steinhauer:
Liebe Liste,
die Äußerungen von Professor Reuß finde ich nicht weiter
belangvoll. Es war schon immer so, dass bei Einführung neuer Medien
einer das altbekannte Lied vom Untergang des Abendlandes singen muss.
Nun, diese Rolle spielt derzeit Professor Reuß. Und er spielt sie
ganz comme il faut.
Es wäre übrigens ein sehr spannendes Unterfangen, die
medienkritischen Äußerungen bei der Einführung von Buchdruck,
Fotographie, Telegraphie, Telefon, Radio und Fernsehen einmal zu
vergleichen.
Ich wage die These: Sie gleichen sich strukturell wie ein Ei dem
andern.
Professor Reuß selbst sollte freilich darauf achten, im Eifer des
Gefechts die eigene Praxis nicht zu übersehen. Wer das hohe Lied
der Urheberrechts singt und Menschen, die fremde Geisteswerke zur
Beförderung des eigenen Ruhms ausnutzen, als Eunuchen diffamiert,
muss sich selbst an diesen Maßstäben messen lassen.
Als Editionsphilologe ist Reuß vor allem durch seine Kafka-Ausgabe
bekannt und berühmt geworden. Ist es ein Zufall, dass diese
wichtige Edition im Jahre 1995 ihren Anfang nahm, just in dem Jahr,
als Kafkas Werke gemeinfrei wurden ... ?
Instruktiv ist hier, was Professor Reuß damals in der taz äußerte:
"Wir hatten ganz andere Probleme und bewegten uns in juristischen
Grauzonen. Bis zum 1. Dezember zum Beispiel war es strittig, ob man
im Falle der Handschrift von Kafkas »Process« nun die
Abdruckgenehmigung in einer öffentlichen Bibliothek, im Marbacher
Literaturarchiv, einholt oder beim S. Fischer Verlag, wo die
Urheberrechte lagen."
http://www.textkritik.de/rezensionen/kafka/einl_05.htm
Und hier gibt es Klartext:
"70 Jahre nach dem Tod Franz Kafkas werden die Rechte an seinem
Werk frei. Prompt kündigt der kleine Frankfurter Stroemfeld-Verlag
eine aufwendige Kafka-Edition an – Kampfansage gegen den bisherigen
Inhaber der Rechte, S. Fischer, dessen Kafka-Ausgaben bis heute den
Markt beherrschen."
Der Spiegel 1995, 1/2.
"Seit Sonntag darf jeder Kafka drucken, am Montag hat Wolff
zusammen mit den Herausgebern Roland Reuß und Peter Staengle den
Einleitungsband der neuen historisch-kritischen Franz-Kafka-Ausgabe
(FKA) vorgestellt. "
Süddeutsche Zeitung v. 4.1.1995
"Es kam, wie es kommen musste: Am ersten Tag, an dem nach deutschem
Urheberrecht die Schutzfrist für die Werke Franz Kafkas abgelaufen
war, kündigte der Frankfurter Verlag Stroemfeld/Roter Stern eine
historisch-kritische Kafka-Ausgabe an, die sämtliche Handschriften,
Drucke und Typoskripte umfassen soll."
NZZ 6.1.1995
"Der Einführungsband, konspirativ zum Druck befördert, wurde noch
fast in der Silvesternacht den Redaktionen überreicht. Denn erst
seit dem 1. Januar 1995, siebzig Jahre nach dem Tod ihres Urhebers,
sind die Werke Kafkas frei und der Verfügungsgewalt des S. Fischer
Verlags zu Frankfurt in entscheidenden Partien entzogen."
FAZ vom 10.1.1995
Quellen hier: http://www.textkritik.de/rezensionen/rezkafka.htm
Bei einem Verfechter des Urheberrechts wie Professor Reuß darf man
sicher davon ausgehen, dass die Autoren der Zeitungsartikel und
Rezensionen bzw. deren Verleger ihr Einverständnis zur frei
zugänglichen Publikation ihrer Texte auf der Hompage des Instituts
für Textkritik gegeben haben.
Wie sonst sollte man auch den Hinweis "Copyright by Institut für
Textkritik, Heidelberg © 2005" bei dem Artikel "Vor der Schrift :
Kafka, seine Editoren und die Germanisten" von Frank Schirrmacher
aus der FAZ vom 10. 1. 1995 verstehen?
Sauberes Rechtemanagement ist bei einem erklärten Freund eines
starken Urheberrechts selbstverständlich. Es wäre doch ein
unerträglicher Angriff auf die Autorenpersönlichkeit von Frank
Schirrmacher, wenn dessen Texte einfach so ungefragt im Internet
von jedermann gelesen, kopiert und ausgedruckt werden könnten!
Denn, wie heißt es im Heidelberger Appell: "Es muß auch künftig der
Entscheidung von Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern,
kurz: allen Kreativen freigestellt bleiben, ob und wo ihre Werke
veröffentlicht werden sollen."
Oder um es mit Professor Reuß selbst zu sagen: "Es gibt eine
essentielle,
vom Gesetz ausdrücklich geschützte Verantwortung des Autors für
sein Werk, und die erstreckt sich eben auch auf die sorgfältige
Wahl des Publikationsorts."
http://www.textkritik.de/digitalia/rr_interview_forschung_lehre.pdf
Und wenn ein Frank Schirrmacher die Homepage des Instituts für
Textkritik als Publikationsort - sorgfältig! - auswählt, dann adelt
das schon!! Vielleicht musste man Frank Schirrmacher aber auch gar
nicht fragen. Hat er doch den Heidelberger Appell - bis heute
jedenfalls - nicht unterschrieben ...
Eric Steinhauer
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