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[InetBib] Professor Reuß, das Urheberrecht und 1995



Liebe Liste,

die Äußerungen von Professor Reuß finde ich nicht weiter belangvoll. Es war 
schon immer so, dass bei Einführung neuer Medien einer das altbekannte Lied vom 
Untergang des Abendlandes singen muss.

Nun, diese Rolle spielt derzeit Professor Reuß. Und er spielt sie ganz comme il 
faut.

Es wäre übrigens ein sehr spannendes Unterfangen, die medienkritischen 
Äußerungen bei der Einführung von Buchdruck, Fotographie, Telegraphie, Telefon, 
Radio und Fernsehen einmal zu vergleichen. 

Ich wage die These: Sie gleichen sich strukturell wie ein Ei dem andern. 

Professor Reuß selbst sollte freilich darauf achten, im Eifer des Gefechts die 
eigene Praxis nicht zu übersehen. Wer das hohe Lied der Urheberrechts singt und 
Menschen, die fremde Geisteswerke zur Beförderung des eigenen Ruhms ausnutzen, 
als Eunuchen diffamiert, muss sich selbst an diesen Maßstäben messen lassen.

Als Editionsphilologe ist Reuß vor allem durch seine Kafka-Ausgabe bekannt und 
berühmt geworden. Ist es ein Zufall, dass diese wichtige Edition im Jahre 1995 
ihren Anfang nahm, just in dem Jahr, als Kafkas Werke gemeinfrei wurden ... ?

Instruktiv ist hier, was Professor Reuß damals in der taz äußerte:
"Wir hatten ganz andere Probleme und bewegten uns in juristischen Grauzonen. 
Bis zum 1. Dezember zum Beispiel war es strittig, ob man im Falle der 
Handschrift von Kafkas »Process« nun die Abdruckgenehmigung in einer 
öffentlichen Bibliothek, im Marbacher Literaturarchiv, einholt oder beim S. 
Fischer Verlag, wo die Urheberrechte lagen."
http://www.textkritik.de/rezensionen/kafka/einl_05.htm

Und hier gibt es Klartext:
"70 Jahre nach dem Tod Franz Kafkas werden die Rechte an seinem Werk frei. 
Prompt kündigt der kleine Frankfurter Stroemfeld-Verlag eine aufwendige 
Kafka-Edition an ? Kampfansage gegen den bisherigen Inhaber der Rechte, S. 
Fischer, dessen Kafka-Ausgaben bis heute den Markt beherrschen."
Der Spiegel 1995, 1/2.

"Seit Sonntag darf jeder Kafka drucken, am Montag hat Wolff zusammen mit den 
Herausgebern Roland Reuß und Peter Staengle den Einleitungsband der neuen 
historisch-kritischen Franz-Kafka-Ausgabe (FKA) vorgestellt. "
Süddeutsche Zeitung v. 4.1.1995

"Es kam, wie es kommen musste: Am ersten Tag, an dem nach deutschem 
Urheberrecht die Schutzfrist für die Werke Franz Kafkas abgelaufen war, 
kündigte der Frankfurter Verlag Stroemfeld/Roter Stern eine 
historisch-kritische Kafka-Ausgabe an, die sämtliche Handschriften, Drucke und 
Typoskripte umfassen soll."
NZZ 6.1.1995

"Der Einführungsband, konspirativ zum Druck befördert, wurde noch fast in der 
Silvesternacht den Redaktionen überreicht. Denn erst seit dem 1. Januar 1995, 
siebzig Jahre nach dem Tod ihres Urhebers, sind die Werke Kafkas frei und der 
Verfügungsgewalt des S. Fischer Verlags zu Frankfurt in entscheidenden Partien 
entzogen."
FAZ vom 10.1.1995

Quellen hier: http://www.textkritik.de/rezensionen/rezkafka.htm

Bei einem Verfechter des Urheberrechts wie Professor Reuß darf man sicher davon 
ausgehen, dass die Autoren der Zeitungsartikel und Rezensionen bzw. deren 
Verleger ihr Einverständnis zur frei zugänglichen Publikation ihrer Texte auf 
der Hompage des Instituts für Textkritik gegeben haben. 

Wie sonst sollte man auch den Hinweis "Copyright by Institut für Textkritik, 
Heidelberg © 2005" bei dem Artikel "Vor der Schrift : Kafka, seine Editoren und 
die Germanisten" von Frank Schirrmacher aus der FAZ vom 10. 1. 1995 verstehen? 

Sauberes Rechtemanagement ist bei einem erklärten Freund eines starken 
Urheberrechts selbstverständlich. Es wäre doch ein unerträglicher Angriff auf 
die Autorenpersönlichkeit von Frank Schirrmacher, wenn dessen Texte einfach so 
ungefragt im Internet von jedermann gelesen, kopiert und ausgedruckt werden 
könnten!

Denn, wie heißt es im Heidelberger Appell: "Es muß auch künftig der 
Entscheidung von Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, kurz: allen 
Kreativen freigestellt bleiben, ob und wo ihre Werke veröffentlicht werden 
sollen."

Oder um es mit Professor Reuß selbst zu sagen: "Es gibt eine essentielle,
vom Gesetz ausdrücklich geschützte Verantwortung des Autors für sein Werk, und 
die erstreckt sich eben auch auf die sorgfältige Wahl des Publikationsorts."
http://www.textkritik.de/digitalia/rr_interview_forschung_lehre.pdf

Und wenn ein Frank Schirrmacher die Homepage des Instituts für Textkritik als 
Publikationsort - sorgfältig! - auswählt, dann adelt das schon!! Vielleicht 
musste man Frank Schirrmacher aber auch gar nicht fragen. Hat er doch den 
Heidelberger Appell - bis heute jedenfalls - nicht unterschrieben ...

Eric Steinhauer

-- 
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