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[InetBib] Professor Reuß, das Urheberrecht und 1995
- Date: Tue, 1 Sep 2009 13:23:26 +0200 (CEST)
- From: Eric Steinhauer<eric.steinhauer@xxxxxxxxx>
- Subject: [InetBib] Professor Reuß, das Urheberrecht und 1995
Liebe Liste,
die Äußerungen von Professor Reuß finde ich nicht weiter belangvoll. Es war
schon immer so, dass bei Einführung neuer Medien einer das altbekannte Lied vom
Untergang des Abendlandes singen muss.
Nun, diese Rolle spielt derzeit Professor Reuß. Und er spielt sie ganz comme il
faut.
Es wäre übrigens ein sehr spannendes Unterfangen, die medienkritischen
Äußerungen bei der Einführung von Buchdruck, Fotographie, Telegraphie, Telefon,
Radio und Fernsehen einmal zu vergleichen.
Ich wage die These: Sie gleichen sich strukturell wie ein Ei dem andern.
Professor Reuß selbst sollte freilich darauf achten, im Eifer des Gefechts die
eigene Praxis nicht zu übersehen. Wer das hohe Lied der Urheberrechts singt und
Menschen, die fremde Geisteswerke zur Beförderung des eigenen Ruhms ausnutzen,
als Eunuchen diffamiert, muss sich selbst an diesen Maßstäben messen lassen.
Als Editionsphilologe ist Reuß vor allem durch seine Kafka-Ausgabe bekannt und
berühmt geworden. Ist es ein Zufall, dass diese wichtige Edition im Jahre 1995
ihren Anfang nahm, just in dem Jahr, als Kafkas Werke gemeinfrei wurden ... ?
Instruktiv ist hier, was Professor Reuß damals in der taz äußerte:
"Wir hatten ganz andere Probleme und bewegten uns in juristischen Grauzonen.
Bis zum 1. Dezember zum Beispiel war es strittig, ob man im Falle der
Handschrift von Kafkas »Process« nun die Abdruckgenehmigung in einer
öffentlichen Bibliothek, im Marbacher Literaturarchiv, einholt oder beim S.
Fischer Verlag, wo die Urheberrechte lagen."
http://www.textkritik.de/rezensionen/kafka/einl_05.htm
Und hier gibt es Klartext:
"70 Jahre nach dem Tod Franz Kafkas werden die Rechte an seinem Werk frei.
Prompt kündigt der kleine Frankfurter Stroemfeld-Verlag eine aufwendige
Kafka-Edition an ? Kampfansage gegen den bisherigen Inhaber der Rechte, S.
Fischer, dessen Kafka-Ausgaben bis heute den Markt beherrschen."
Der Spiegel 1995, 1/2.
"Seit Sonntag darf jeder Kafka drucken, am Montag hat Wolff zusammen mit den
Herausgebern Roland Reuß und Peter Staengle den Einleitungsband der neuen
historisch-kritischen Franz-Kafka-Ausgabe (FKA) vorgestellt. "
Süddeutsche Zeitung v. 4.1.1995
"Es kam, wie es kommen musste: Am ersten Tag, an dem nach deutschem
Urheberrecht die Schutzfrist für die Werke Franz Kafkas abgelaufen war,
kündigte der Frankfurter Verlag Stroemfeld/Roter Stern eine
historisch-kritische Kafka-Ausgabe an, die sämtliche Handschriften, Drucke und
Typoskripte umfassen soll."
NZZ 6.1.1995
"Der Einführungsband, konspirativ zum Druck befördert, wurde noch fast in der
Silvesternacht den Redaktionen überreicht. Denn erst seit dem 1. Januar 1995,
siebzig Jahre nach dem Tod ihres Urhebers, sind die Werke Kafkas frei und der
Verfügungsgewalt des S. Fischer Verlags zu Frankfurt in entscheidenden Partien
entzogen."
FAZ vom 10.1.1995
Quellen hier: http://www.textkritik.de/rezensionen/rezkafka.htm
Bei einem Verfechter des Urheberrechts wie Professor Reuß darf man sicher davon
ausgehen, dass die Autoren der Zeitungsartikel und Rezensionen bzw. deren
Verleger ihr Einverständnis zur frei zugänglichen Publikation ihrer Texte auf
der Hompage des Instituts für Textkritik gegeben haben.
Wie sonst sollte man auch den Hinweis "Copyright by Institut für Textkritik,
Heidelberg © 2005" bei dem Artikel "Vor der Schrift : Kafka, seine Editoren und
die Germanisten" von Frank Schirrmacher aus der FAZ vom 10. 1. 1995 verstehen?
Sauberes Rechtemanagement ist bei einem erklärten Freund eines starken
Urheberrechts selbstverständlich. Es wäre doch ein unerträglicher Angriff auf
die Autorenpersönlichkeit von Frank Schirrmacher, wenn dessen Texte einfach so
ungefragt im Internet von jedermann gelesen, kopiert und ausgedruckt werden
könnten!
Denn, wie heißt es im Heidelberger Appell: "Es muß auch künftig der
Entscheidung von Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, kurz: allen
Kreativen freigestellt bleiben, ob und wo ihre Werke veröffentlicht werden
sollen."
Oder um es mit Professor Reuß selbst zu sagen: "Es gibt eine essentielle,
vom Gesetz ausdrücklich geschützte Verantwortung des Autors für sein Werk, und
die erstreckt sich eben auch auf die sorgfältige Wahl des Publikationsorts."
http://www.textkritik.de/digitalia/rr_interview_forschung_lehre.pdf
Und wenn ein Frank Schirrmacher die Homepage des Instituts für Textkritik als
Publikationsort - sorgfältig! - auswählt, dann adelt das schon!! Vielleicht
musste man Frank Schirrmacher aber auch gar nicht fragen. Hat er doch den
Heidelberger Appell - bis heute jedenfalls - nicht unterschrieben ...
Eric Steinhauer
--
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