Karl Dietz schrieb:
Richtigstellen würde ich gerne noch, daß ich das Projekt mit meiner kritischen Einschätzung nicht sozusagen "in die Ecke stellen" will. Die Wikipedia kann als soziales Projekt natürlich nicht besser und nicht schlechter als die übrige Gesellschaft sein, in der sie stattfindet.Ergänzend zum letzten Satz noch ein Gedanke, denn es ist ja vor allem der grosse Erfolg der Wikipedia, der Leute anzieht, die ohne diesen nicht so sehr an einem solchen Projekt interessiert wären und in den ersten Jahren auch nicht derart aktiv zu sehen waren; sei es nun aus politischen oder marketingtechnischen oder ... Gründen. Und das in der Wikipedia nicht implizit zu sehen ist, wer was editiert, das ist schon ein Punkt, der die Dinge, also die Informationen, nicht einfacher macht, in der Einschätzung.
Daraus folgt aber eigentlich nichts Neues. "Medienkompetenz" heißt im Internet vor allem: Kritischer Umgang mit Quellen. Als Jurist bin ich es gewöhnt, Meinungen grundsätzlich distanziert zu benutzen und mir meinen eigenen Standpunkt zu erarbeiten. Das ist wichtiger denn je und müßte viel intensiver in den Schulen und im Studium vermittelt werden.
Wenn man sich nun vergegenwärtigt, daß die Wikipedia das Produkt eines "Editier-Diskurses" ist (siehe das Interview des Wikimedia-Vertreters), zu dem man sich positionieren muß, um damit überhaupt etwas anfangen zu können, das man also nicht einfach konsumieren darf, wäre das schon mal ein erster Ansatz.
Und das sich aktuell einige aktive Leute aus der Wikipedia verabschieden, die lange Zeit dort aktiv waren, das macht schon auch nachdenklich. Einige Links dazu sind in archivalia. Und da auch die Relevanzkriterien in diesem Thread erwähnt wurden, kann ich mal wieder an die unseelige Löschung des IRB und der Bücherfrauen in 2007 erinnern. incl. daran was hier in inetbib dazu zu lesen war. War lehrreich.
Ja. Auch Bekannte von mir haben sich schon lange aus der Wikipedia zurückgezogen, weil sie sich den Kindergarten nicht mehr antun wollten. Man kann ja auch seine eigene Benutzerseite verschwinden lassen, indem man sie zur "Schnellöschung" anmeldet.
Die Zahl der Nutzer hat sich jedenfalls vervielfacht, und die Probleme, die sich daraus und aus der Popularisierung ergeben, haben sich verschärft. Die Wikipedia versucht, darauf mit verstärkter sozialer Kontrolle zu reagieren: Vereinfachung der "Rückgängig"-Funktion, Einführung von "gesichteten" Fassungen und von Fußnoten, Einsatz von Bots zum Scannen von Inhalten, aber auch strengere Anforderungen an die "Relevanz" von Themen und an urheberrechtliche Aspekte.
Mein Fazit wäre: Ich benutze die Wikipedia immer noch gerne, weil sie zu dem Zweck, zu dem ich sie einsetze, sehr gut zu gebrauchen ist: Eine Suche nach einem mir unbekannten Begriff in der Wikipedia ist für den Anfang erfahrungegemäß ergiebiger als eine reine Suchmaschinenrecherche. Und die Wikipedia reagiert schneller als andere Medien auf Neues, die Reaktionszeit ist für mich immer noch erstaunlich. Todesfälle und Wahlergebnisse werden beispielsweise innerhalb von Minuten verzeichnet.
Man sollte sich aber immer bewußt sein, daß es sich natürlich nicht um das handelt, was standardmäßig oben links auf jeder Seite steht, eine "Enzyklopädie" nämlich. Sie ist ein Gemeinschaftsprojekt, bei dem einige zigtausend Leute an einem riesigen Korpus herumeditieren und dabei bestimmte Inhalte hinterlegen, ändern, diskutieren und wieder löschen (N.B.: beim Löschen einer Seite verschwindet auch deren Editions-"History"...). Es ist ein OpenSource-Projekt geworden in dem Sinne, in dem Eric S. Raymond den Begriff in der Britannica benutzt, nämlich ein "social movement" (der Artikel "open source" ist derzeit frei zugänglich über <http://www.juergenfenn.de/tex.html#wasist>, erster Punkt). Das Ergebnis dieses Prozesses ist eigentlich immer interessant. Aber es ist eben etwas völlig anderes als das, was unsere Lexikonverlage produzieren. Da finde ich in der Britannica etwa zu dem Stichwort "Ethics" einen sehr interessanten knapp 70seitigen Essay des nicht unumstrittenen Australiers Peter Singer, der ganz sicher zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema einlädt. Deshalb ist es auch nicht gerechtfertigt, die Wikipedia und die Enzyklopädien unkritisch nebeneinanderzustellen. Man vergleicht dabei Äpfel und Birnen.
Jürgen Fenn.