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Re: [InetBib] "Vermieten" von Bestsellern
Lieber Rüdiger Schneemann,
ich will mich mitnichten in die Vermarktungsstrategien einmischen, mit
Hilfe derer Buchhändler und Verlage ihre Bestseller kreieren, ich sage nur:
nicht jeder Bestseller ist ein wirklich interessantes, gut geschriebenes,
inhaltsreiches oder sorgfältig erarbeitetes Buch (s. dazu die monatliche
Sichtung von Bestsellern durch den bekannten Literaturredakteur beim
Deutschlandfunk und "Druckfrisch"-Fernsehjournalisten Denis Scheck, der
regelmäßig 60-70 % der Spiegel-Bestsellerliste mit einem Minuszeichen
versieht), und ich sage nur: wenn man Lesern, die mit ihrer Lesekarte
(meist schon gegen nicht unerhebliche Jahresgebühr) das Recht erworben
haben, den vorhandenen Bestand der Bibliothek ohne weitere Kosten zu
benutzen und zu entleihen, für bestimmte Teile des Buchbestandes
Einzelgebühren abnimmt, dann suggeriert man doch, dass sie dafür auch etwas
besonders Wertvolles bekommen bzw. dass es in jedem Fall das Extrageld wert
ist, diesen oder jenen Bestseller jetzt sofort und unter erhöhtem Zeitdruck
(Ausleihfrist meist nur 14 Tage, Verlängerung wenn überhaupt nur gegen
erneute Gebührenzahlung) zu bekommen.
Das halte ich für eine fragwürdige Kanalisierung der durchaus sehr breiten
Interessen unserer erwachsenen Leser durch die Bibliothekare in Richtung
Mainstream (Horrorvorstellung: in den Regalen zahlreicher Stadtbibliotheken
stehen 4-5 Ex. von Peter Hahne: Schluss mit lustig, Corinne Hofmann:
Wiedersehen in Barsaloi, usw. usf, aber elementare Standardwerke zur
Zeitgeschichte, zur Aufarbeitung der Vergangenheit, selbst zu
Naturwissenschaften und Technik fehlen).
Ich sage ja nicht, dass die Bestseller nicht gekauft werden sollen, und
wenn, dass sollten sie auch so zügig wie möglich nach Erscheinen der Listen
in den Bestand eingearbeitet werden, aber es ist im Hinblick auf die
Verantwortung der Bibliothekare für die Qualität des Gesamtbestandes nicht
angemessen, diese Bestseller pauschal in massiver Staffelung anzubieten,
ohne auch einen prüfenden Blick auf die inhaltliche Qualität eines
einzelnen Bestsellers zu riskieren, und sich um viele andere Lücken im
Bestand gar nicht mehr zu kümmern, Hauptsache die Ausleihzahlen stimmen. Da
geben viele KollegInnen ihre inhaltliche Verantwortung für den
Bestandsaufbau in ihrer Bibliothek sozusagen an der Garderobe ab.
Außerdem habe ich in letzter Zeit mehrmals von interessierten
BibliotheksbenutzerInnen ganz spontane Äußerungen des Entsetzens gehört
über die Praxis der Bestseller-Gebühren. Das hat diese BenutzerInnen sehr
stark abgestoßen, aus grundsätzlich-ethischen (Freiheit des Zugangs zu
allen Medien und Informationen für jeden Bürger), sozialen (wachsende Zahl
der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Kleinstverdiener) und
pragmatischen Gründen (wir haben sowieso schon eine Jahresgebühr bezahlt,
es ist nicht logisch einsehbar, warum die Mehrzahl der Bücher und Medien
dann kostenlos entliehen werden kann, aber bestimmte Bücher nicht).
Ein zusätzlicher Widerspruch: in einigen Berliner Bezirksbibliotheken mit
Bestsellerservice bietet man aus einem Rest an schlechtem Gewissen heraus
parallel zu den gebührenpflichtigen Bestseller-Ausgaben jeweils ein
"Sozial"exemplar an ohne Extragebühren - da müssen sich doch manche Leser
an der Nase herum geführt vorkommen, wenn sie erst - durch auffällige
Hinweise dazu verleitet - für die Entleihung eines Bestsellers extra
bezahlen und hinterher im Regal entdecken: es gibt noch ein Sozialexemplar
(möglicherweise nur gegen Nachweis der sozialen Bedürftigkeit?).
"Kritische Sichtung" beim Bestandsaufbau heißt also nicht: auf die
Bestseller verzichten, aber ihre Bedeutung nicht noch überdimensional
aufblasen und das Leserinteresse forciert in diese Richtung lenken.
sondern den LeserInnen immer wieder gezielt andere Angebote machen, die
nach sorgfältiger Sichtung als Lücken im Bestand entdeckt wurden, auf die
unsere LeserInnen genauso Anspruch haben wie auf manchen Bestseller.
Mit freundlichen Grüßen,
Frauke Mahrt-Thomsen
At 14:00 12.01.2006 +0100, you wrote:
Frauke Mahrt-Thomsen schrieb:
Im Falle der Bestseller noch mit der fragwürdigen, an kommerziellen
Vorbildern orientierten Vorspiegelung, dass ihnen für die Gebühr auch etwas
ganz besonderes geboten werde, was mitnichten bei einem Großteil der
Bestseller der Fall ist ...
Liebe Kollegin,
da begeben Sie sich aber auf Glatteis: Sie wollen doch nicht etwa
vorschreiben, was ein Bestseller sein darf und was nicht?
Außerdem werden die z.T. recht simplen und
vordergründigen Vermarktungsstrategien der Großbuchhändler und Verlage
damit unterstützt ...
das kapiere ich nun gar nicht: Ziel des Gutachtens ist es doch nicht,
möglichst viele Gratis-Ausleihen zu ermöglichen, sondern den ÖBs in
Anbetracht ihrer schmalen Budgets die Chancen zu nehmen, von
nachgefragten Bücher mehr Ex. zur Ausleihe zu beschaffen.
Die Bibliotheken agieren also gegen Vermarktungsstrategien, jedenfalls
nach Auffassung des Gutachtens.
... anstatt - wie es der grundlegende Auftrag der
bibliothekarischen Zunft sein sollte - für ein möglichst breites,
differenziertes, kritisch gesichtetes und nicht auf den mainstream
fixiertes Buchangebot in den Bibliotheken zu sorgen
Noch mehr Glatteis:
was heisst denn hier kritisch gesichtet?
Erwerbungsboykott? Wegschliessen, "Bückware", Ausleihen nur nach
vorheriger Begründung beim Bibliothekspersonal?
Schöne Grüße
Rüdiger Schneemann
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