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Bibliotheken brauchen bessere Digitalisierung
Unter dem Titel "Elektronischer Selbstbetrug" wettert der
Konstanzer Bibliothekar Uwe Jochum in der FAZ von heute (S.
41, nicht frei online) gegen die Digitalisierung in den
Bibliotheken. Eine archaische Polemik gegen die schoene
neue digitale Welt, eine Invektive, die mich ueber weite
Strecken eher ignorant und dumm duenkt.
Zunaechst mokiert sich Jochum ueber die Klage ueber den
Brandverlust in Weimar.
"Ein Blick in die Bibliotheksgeschichte zeigt, daß
sämtliche bisherigen Bibliothekskatastrophen für die
nationalen Kulturhaushalte zum Glück stets verschmerzbar
waren, weil der Großteil der vernichteten Bücher über den
Antiquariatsmarkt wiederbeschafft werden konnte und das
wenige, was unersetzbar und nicht wiederzubeschaffen war,
sich entweder rekonstruieren ließ oder als unmaßgeblich
herausstellte."
Das ist falsch, denn die in reichem Mass bei den
angefuehrten Beispielen unwiederbringlich vernichteten
Unikate werden nicht beruecksichtigt. In Weimar ist
unausgewertet der Bestand der Musikhandschriften dem Feuer
zum Opfer gefallen, und nur ein obsoletes und in der
Konsequenz meines Erachtens auch niedertraechtiges
Dublettendenken kann leugnen, dass die vernichteten
Weimarer Privatbibliotheken Bibliothekskoerper eigenen
Rechts waren, reich an individuellen Eigenheiten wie
Besitzvermerken, handschriftlichen Glossen,
charakteristischen Einbaenden, Provenienzbestaende eben,
die als Ganzes unendlich viel mehr sind als die Summe in
der Tat wiederbeschaffbarer Einzeldrucke.
Natuerlich ist die Gutenberg-Forschung nach dem von
deutschem Chauvinismus verursachten Verlust der
grossartigen Strassburger Stadtbibliothek 1870 (die nach
1870 ein voellig anderes Profil hatte als vor 1870!) nicht
zusammengebrochen, aber es liegt nun einmal in der Natur
der Forschung, dass auch nach Katastrophen die Forschung
weitergeht. Und es ist ihr gutes Recht, die Katastrophen
(wie z.B. die Aufloesung der FFHB in Donaueschingen)
lautstark zu beklagen und zu versuchen, zu rekonstruieren,
was zu rekonstruieren ist.
Dass aber am Ende bei Jochum von "Krokodilstraenen" ueber
Weimar die Rede ist, sollte jeden empoeren, fuer den
historisches Kulturgut in Bibliotheken wichtig ist.
Dann aber wendet sich Jochum der Digitalisierung zu, wobei
zunaechst eine treffende Diagnose gegeben wird:
"Die wahre Bibliothekskatastrophe ist nicht jenes
exzeptionelle Ereignis der Brandkatastrophe, sondern der
Alltag der Bibliotheken, für den sich niemand interessiert.
Dieser Alltag zeichnet sich durch eine groteske finanzielle
Unterversorgung der Bibliotheken aus, die jedem Versuch,
Anschluß an international bedeutende Einrichtungen zu
finden, hohnspricht. Diese Unterversorgung ist zu einem
strukturellen Merkmal des deutschen Bibliothekswesens
geworden, von den größten und leistungsfähigsten bis zu den
kleinsten und ehrgeizigsten Bibliotheken. Wer daher die
Bibliotheken als wichtigste Infrastruktureinrichtungen für
die Wissenschaft auf jenes internationale Spitzenniveau
bringen will, von dem überall die Rede ist, der wird die
Tatsache zu akzeptieren haben, daß dieses Niveau nur für
viel Geld zu haben ist. So muß man wissen, daß das
Bibliothekssystem der Harvard University mit einem
jährlichen Anschaffungsetat von 26,5 Millionen Dollar
ausgestattet ist und über 1300 Personalstellen verfügt,
während die Berliner Staatsbibliothek als wichtigste
deutsche Bibliothek mit einem Etat von knapp neun Millionen
Euro und 815 Personalstellen auskommen muß. Damit käme
Berlin ins Mittelfeld der amerikanischen
Universitätsbibliotheken, zwischen Platz 40 und 50."
Nun aber zur Digitalisierung:
"Die Unsummen, die die Digitalisierung verschlingt, werden
in den Landes-, Universitäts- und Bibliothekshaushalten in
aller Regel durch Umschichtung zu Lasten der
konventionellen Medien, also der Bücher und Zeitschriften
aus Papier, aufgebracht."
Zahlen nennt Jochum wohlweislich nicht.
Mit zwei Argumenten versuche man, diese Kosten dem Publikum
zu verkaufen.
Erstens die Zeitschriftenkrise. Aber die Kosten fuer die
langfristige Vorhaltung der Daten seien katastrophal hoch.
Ist das so? Dass gewisse Probleme bestehen, zugegeben, aber
es wird doch auch an allen Ecken und Enden ueber
Langzeitarchivierung nachgedacht.
"Zweitens wird behauptet, die Umschichtung in den
Bibliotheksetats zugunsten der digitalen Medien sei nur der
Ausdruck einer gesamtkulturellen Entwicklung, die auf die
Digitalisierung zusteuere und in nicht allzu ferner Zukunft
den tradierten Medienmix aus Tontafeln, Papyri, Pergamenten
und viel Papier durch ein einheitliches digitales Medium
ersetzen werde, als dessen Vorschein wir das Internet
haben. Die Vorteile dieses neuen Mediums seien
beträchtlich: Von überall her zu jeder Zeit auf beliebige
Datenbestände zugreifen zu können - das scheint das
Versprechen eines intellektuellen Glücks, das Hand in Hand
geht mit dem Versprechen auf einen demokratischeren Zugriff
auf Wissen und Informationen, die bislang in den
Bibliotheken unzugänglich verborgen gewesen seien.
Nun mag es zwar richtig sein, daß Wissenschaft längst eine
weltweite Angelegenheit geworden ist, die man nur noch
durch transnationale Netzwerke und E-Mails steuern kann.
Aber es bleibt doch auch richtig, daß Wissenschaft und
Bildung weiterhin lokale Phänomene sind. Das meint nicht
nur, daß ihr Gedeihen von einer Infrastruktur abhängt, die
es mancherorts gibt, andernorts aber nicht. Das meint vor
allem, daß Bildung und Wissenschaft auf eine Tradition
angewiesen sind, die von Ort zu Ort differiert, so daß auch
Bildung und Wissenschaft von Ort zu Ort verschieden sind:
was man in Erlangen für Philosophie hält, muß man in Berlin
nicht schätzen; was die Bonner Genetiker umtreibt, läßt die
Passauer Biologen unter Umständen kalt.
Daß die Digitalisierung die Funktion der Bibliotheken
aushöhlt, läßt sich daher so beschreiben: Die Umschichtung
der Bibliotheksetats dient der Finanzierung einer Wette auf
die digitale Zukunft; zur Finanzierung der Wette ist man
nicht nur gezwungen, die über Jahrhunderte gesammelten
konventionellen Bestände strukturell zu vernachlässigen,
sondern vor allem auch den lokalen Bezug zwischen
Bibliothek und Wissenschaft zu negieren."
Daraus spricht nur bare Unkenntnis des extremen
Informationshungers naturwissenschaftlicher Disziplinen und
ein Bild von der Forschung, das an Spitzweg gemahnt. Gerade
Naturwissenschaftler agieren zunehmend vor dem Hintergrund
globaler, rasch verfuegbarer und in englischer Sprache
vorliegender Wissensbestaende. Die DNS einer Ratte ist in
Harvard die gleiche wie in Konstanz.
Die weiteren Ausfuehrungen ueber die lokalen
Traditionsbezuege koennen annaehernd klug genannt werden,
auch wenn sie den vehementen Wunsch nach
Universalbibliotheken und Wissens-Summen in der Geschichte
ignorieren.
"Weil die Bücher in ihrer physischen Form aus Papier und
Leinen in den Regalen einen festen Ort haben, kann man
jederzeit feststellen, was alles man nicht weiß und was
alles von dem, was man nicht weiß, vielleicht einen näheren
Blick lohnte.
Anders das Internet. Es ist ein grenzenloser Raum von
Daten, in dem weder ausgemacht werden kann, was er enthält,
noch was er nicht enthält."
Als ob man in Harvard bei Millionen Buechern feststellen
koennte, was vorhanden ist, ohne ein Heer von Hilfskraeften
zu beschaeftigen!
Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist es theoretisch auch
moeglich festzustellen, was das Internet an akademisch
verwertbarem Material enthaelt, und mehr und mehr versucht
man, angemessene Formen der Erschliessung zu finden, auch
wenn hier noch sehr viel im Argen liegt.
Aber wenn beispielsweise Altbestaende ueber Jahrzehnte
unerschlossen bleiben (und sei es auf Karteikarten oder
meinetwegen fuer Herrn Jochum auch auf Tontafeln oder
Papyrusrollen), kann auch keine "historische Tiefenlotung"
erfolgen, an der Herrn Jochum so viel liegt.
Der Bestand ist, da sind wir uns einig, "ein Monument und
Erinnerungszeichen [...], in dem sich das Eigene und Fremde
oder Fremdgewordene miteinander verschränken und jedem, der
durch die Regale streift, signalisieren: Hier sind die
Fragen, die du bist."
Nach etwa zehn Jahren Internet sollte man aber auch aus
hermeneutischer Perspektive sagen koennen, dass es "ein
Monument und Erinnerungszeichen ist, in dem sich das Eigene
und Fremde oder Fremdgewordene miteinander verschränken und
jedem, der durch" http://web.archive.org "streift,
signalisieren: Hier sind die Fragen, die du bist".
Die frommen Moenche, die weiterhin Codices schrieben, als
der Buchdruck erfunden wurde, konnten das Rad der
Geschichte nicht zurueckdrehen. Auch wenn man eine
allgemeine Mahnung zur Besonnenheit grundsaetzlich
gutheissen moechte, gibt es gesellschaftliche
Rahmenbedingungen, deren Nichtbeachtung die Bibliotheken
noch mehr marginalisieren wuerde. Es geht nicht mehr um
Digitalisierung ja oder nein, es geht um eine klugere
Digitalisierung als bisher und ich darf einmal mehr auf
meine diesbezueglichen kritischen Ausfuehrungen verweisen:
http://www.listserv.dfn.de/cgi-bin/wa?A2=ind0403&L=hexenforschung&P=R1430&I=-3
http://www.ub.uni-dortmund.de/listen/inetbib/msg25363.html
Historische Buchbestaende sollten durch die Digitalisierung
nicht ueberfluessig werden, sondern in ihrem wahren Wert
erkannt werden. Viele tausend alte Drucke sind online
verfuegbar, eine exzellente verteilte digitale
Forschungsbibliothek, wenngleich man sich dringend
wuenschen moechte, dass sie besser erschlossen wuerde.
Gerade fuer wissenschaftshistorische Studien ist der
Fortschritt durch Retrodigitalisierung atemberaubend.
Tiefenbohrungen sind moeglich, die frueher viel zu
aufwaendig gewesen waeren (Ausleihe per Fernleihe,
Bestellung teurer Mikrofilme usw.).
Die Bibliotheken duerfen nicht zu Buchmuseen werden,
gewiss, aber sie sollten AUCH im Interesse ihrer
historischen Bestaende die Digitalisierung in besonnener
Weise nutzen.
Ich halte also nichts davon, die faktische
Vernachlaessigung der Altbestaende in den deutschen
Bibliotheken gegen die Digitalisierung auszuspielen.
Sich an das bewaehrte zu klammern, wie es Jochum
vorschlaegt, ist alles andere als hilfreich.
Klaus Graf
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.