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Re: OT: Wissen und Bibliothek



Sehr geehrter Herr Jochum,

Sie monieren durchaus berechtigt, dass ich im Zusammenhang mit der Erzeugung von Wissen von Fließbandproduktion spreche.
Das Problem dabei ist, dass man früher unter Fließband das verstand, was im englischen conveyor belt heißt,
während es heute eine assembly line ist.
Ich meine hier natürlich die moderne Form einer Fließbandproduktion, bei der in Kooperation (typisch für die Big Science)
Wissen gemeinsam produziert und publiziert wird. Insofern entstehen die Inhalte der Digitalen Bibliothek immer stärker in Kooperation von Wissenschaftlern,
die über die ganze Welt verteilt zusammenarbeiten.


http://www.wissenschaftsforschung.de/JB00_179-200.pdf

Im englischen spricht man hier gern und viel von collaboration.
Wen Sie (ich könnte auch sagen wir) dabei trotzdem ein Unbehagen verspüren, von einem Fließband zu sprechen,
so stimme ich ihnen insofern zu, als ich auch der Meinung bin, dass man die Produktion von Wissen nicht mit der Produktion von Autos verwechseln darf.
Beim Auto ist klar, wer oder welcher Roboter ein bestimmtes Teil hinzufügt.
In der Wissenschaft nicht. Um so deutlicher müssen wir herausarbeiten, wo die Unterschiede liegen.
Im Internet machen sich die "Kollaborateure" weltweit darauf aufmerksam, was an Wissen da ist, und wo Wissen fehlt,
damit irgend ein Experte in der Welt versuchen kann diese Lücke zu schließen.
Das ist im Prinzip nichts neues, weil wir in den Bibliotheken schon immer,
und weiter verfeinert in den Dokumentationen, nichts anderes getan haben.
Als zusammengehöriges Wissen synoptisch darzustellen, damit die noch offenen Fragen leichter erkennbar sind.


Nun versuchen wir dies aber weiter zu perfektionieren, sozusagen just in time.
Darum glaube ich, dass es wichtig ist, auf diese neue Entwicklung hinzuweisen.
Denn sie hat eine Reihe von wichtigen Implikationen. Um nur zwei zu nennen:
1. Das man gemeinsam einen semiotischen Thesaurus wissenschaftlich basierter Begriffe (als Weiterentwicklung herkömmlicher Lexika) aufbauen kann. Wickipedia ist sicher ein erster Ansatz in diese Richtung. 2. Das man über Bücher und Zeitschriften hinaus gemeinsam Wissensbanken, für Decision Support systems, Expertensysteme und komplexe Modelle bauen kann.


Die meisten dieser Konsequenzen hängen sehr stark davon ab, in welchem rechtlichen Rahmen Bibliotheken in Zukunft agieren dürfen.

Um auch hier ein Beispiel zu nennen.
Wenn der Zugriff auf die elektronisch verfügbaren Dokumente in vielen Bibliotheken auf deren Räume beschränkt wird, müssen die Nutzer dort hin kommen.
Wenn man ihnen den Zugriff auch von zuhause oder vom Arbeitsplatz erlaubt, können sich die Bibliotheken viele Rechner und noch mehr Baukosten sparen.


Für besonders virulent halte ich die Frage, ob wir verstärkt in die amerikanische Richtung gehen, dass Informationsspezialisten für ihre Nutzer alles recherchieren, besorgen und aufbereiten, oder ob wir hier den Weg weiter gehen wollen, dass jeder für sich im Heuhaufen des Google herumstochert, und wir (wie in der Stefi Studie) beklagen, dass die Studierenden und Wissenschaftler keine ausreichende Informationskompetenz besitzen.
Tatsache ist, das die Arbeitsteilung in der Big Science zu- und nicht abnimmt.


MfG

W. Umstätter


Uwe Jochum wrote:


Bernhard Eversberg wrote on October 19 09:23

Die Diskussion um Wissen und Bibliotheken, wie sie anläßlich des
Topics zum "Lernort Bibliothek" aufgekommen ist, finde ich
unbehaglich, weil man zu selbstverständlich man davon ausgeht, daß
Wissenschaft Wissen produziert und Bibliotheken Speichereinrichtungen
für Wissen sind. Das erste ist problematisch, das zweite schlicht
falsch.



Mit dem letzten Satz haben Sie recht, aber diese Behauptungen waren
keineswegs aufgestellt worden noch war davon stillschweigend
ausgegangen worden.



Dann liegt es sicher daran, daß ich bei Sätzen wie "Wir haben nicht nur damit begonnen Wissen sozusagen am Fließband des Internets zu erzeugen" oder "Die Produktion von Information und Wissen wird immer teurer" eben genau das lese, was da nicht zu stehen scheint, nämlich daß Wissen fließbandmäßig als ein besitzbares Gut produziert werden könne. Dann frage ich mich allerdings, was da sonst steht.

Davon abgesehen freue ich mich aber gerne, wenn wir alle der Meinung
sein können, daß Wissen eben kein fließbandmäßig herstellbares und
besitzbares Gut ist.

Schöne Grüße,

Uwe Jochum







Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.