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OT: Wissen und Bibliothek
Die Diskussion um Wissen und Bibliotheken, wie sie anläßlich des
Topics zum "Lernort Bibliothek" aufgekommen ist, finde ich
unbehaglich, weil man zu selbstverständlich man davon ausgeht, daß
Wissenschaft Wissen produziert und Bibliotheken Speichereinrichtungen
für Wissen sind. Das erste ist problematisch, das zweite schlicht
falsch.
Zum Problematischen: Wissenschaft "produziert" nicht Wissen wie
Brötchenfabriken Brötchen, Wissenschaft ist zunächst ein
Erkenntnisinstrument, das nach vorauslaufenden
Wirklichkeitskonzeptionen bestimmte Wirklichkeitsbereiche erschließt
und dabei bisher Unbekanntes entdeckt. Dabei versucht sie, das neu
Entdeckte in ein System des zuvor bereits Entdeckten einzufügen und
durch das System schließlich die Wirklichkeitsbereiche für
manipulativ-technische Zugriffe aufzuschließen. Das heißt, die interne
Logik der Wissenschaft (systematische Erkenntnis) dient der
Verfügbarmachung bestimmter Bereiche der Wirklichkeit (über das, was
eben angewandte Wissenschaft heißt und insgesamt dann zur Technik
wird). Wissen wird daraus dann, wenn das, was da alles entdeckt wird,
auf seine Ermöglichungsbedingungen hin reflektiert wird, wenn also
nicht einfach nach Maßgabe eines vorlaufenden Entwurfs von
Wirklichkeit bestimmte Wirklichkeitsbereiche entdeckt und erschlossen
werden, sondern wenn auf die Grundlagen des maßgeblichen Entwurfs
reflektiert wird. Dieser reflexive Vorgang ist zwar dokumentiert in
Büchern und Aufsätzen, aber er ist ein Vorgang, der individuell in
jedermanns und jederfraus Kopf stattfinden muß und niemandem
abgenommen werden kann. Wer ohne das auskommen zu können meint, mag
ein patenter Wissenschaftler in seinem Fachgebiet sein und allerlei
entdeckt haben; aber er weiß dann eben nicht, warum er was entdeckt
hat. Erst wer weiß, aufgrund welchen vorauslaufenden Entwurfs er
überhaupt in der Lage war, etwas zu entdecken, und erst wer angeben
kann, wie sich dieser Entwurf überhaupt legitimieren läßt, verfügt
über jenes reflektierte Wissen, das im eigentlichen Sinn Wissen ist.
Zum Falschen: Bibliotheken speichern die materiale Seite dieses
Entdeckungs- und Wissensprozesses, also Bücher und Aufsätze in Medien
aller Art. Sie bedienen sich dabei einer umfangreichen Logistik, um
die Speicher- und Suchprozesse steuern zu können. Aber was immer das
dann im Detail sein mag, es ist eben nicht die Verwaltung des Wissens
selbst, sondern der Speichermedien des Wissens. Von daher ist es auch
völlig verfehlt, die Bibliotheken in Filtereinrichtungen der
Wissenschaft umwidmen zu wollen: die Wissenschaftsprozesse sind in
ihrem Kern etwas anderes als die Speicherprozesse der materialen Seite
der Wissenschaft.
Uwe Jochum
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.