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Re: Bibliothekare und Bertolt Brecht zur RSR



Sehr geehrter Herr Jochum,

Ihre Aussage: "Evolution hingegen ist der großangelegte
Versuch, ohne Zielursachen und also gänzlich ohne Teleologie auszukommen."
gibt die Bemühungen in der Biologie richtig wieder. Man geht nicht von einer Zielgerichteten
Evolution im Sinne einer Teleologie aus, obwohl auch dies im Sinne einer Teleonomie etc.
immer wieder hinterfragt werden muss, und auch hinterfragt wird.


Der scheinbare Widerspruch zur realen Evolution vom Bakterium zum
Homo sapiens, also zum Menschen mit Sprache und Bewusstsein, bleibt aber damit offen.
Er kann z.Z. nur durch eine Strategie erklärt werden, die zwar kein Ziel hatte (zumindest kennen wir es noch nicht),
die aber in der Phylogenie eindeutig Menschen hervorbrachte, die nicht nur ein inneres Modell
von dieser Welt zu erzeugen vermochten (das können Tiere auch),
sondern dieses auch noch in Sprache untereinander kommunizieren können.


Wie beispielsweise ein Brocasches Zentrum aus komplex neuronalen Begrifflichkeiten, Benennung macht,
die wir dann auch noch aussprechen und in ganze Sätze fassen können, ist faszinierend.
Das alles ist zweifellos über Jahrmillionen aufgebaut worden und genetisch fixiert.


Ihre äußerst verwegene Behauptung, die Rechtschreibreform sei ein Vorgang, "der mit Evolution nicht das geringste ... zu tun hat." vernachlässigt die Tatsache, wie weit Sprache im Menschen
genetisch verankert ist. Es ist unzweifelhaft, dass die Rechtschreibreform sehr viel mit Sprachgefühl zu tun hat.
Das ist doch gerade der Punkt, dass sich viele Menschen in ihrem Sprachgefühl von einer kleinen Minderheit vergewaltigt fühlen.
Sprachgefühl ist aber nichts anderes als ein zunächst unterbewusstes und durch Erfahrung modifiziertes genetisch fixiertes Sprachverhalten.
Hier unterscheidet die Biologie zwischen Mutation und Modifikation.


Im Sinne Huxleys, der sich über die Evolutionstheorie (wir sprechen heute berechtigterweise zunehmend von Evolutionsstrategie)
mit Wilberforth stritt, müsste ich sagen: Haben Sie schon einmal einen Affen gefragt, warum er nicht mit Ihnen spricht?
Vermutlich kennen Sie auch die zahlreichen Bemühungen von Verhaltensforscherinnen, das zu erreichen.


Die Evolutionsstrategie kennt übrigens auch Atavismen (die der Mensch mehrfach durchlaufen hat).
Das sind im Prinzip nichts anderes als revolutionäre Einschnitte in der Phylo- und Ontogenie.


Wie ich sehe begrenzt Ihre Spracherfahrung das Wort Revolution auf die Politik(wissenschaft), weil Sie es mit "zielgeleitetem Handeln" verbinden. Haben Sie sich aber schon einmal gefragt, wie stark Revolutionen, Kämpfe zwischen Parteien,
Gruppen, Horden, Menschen oder Tieren, wirklich bewusste Auseinandersetzungen sind.
Verhaltensforscher und Philosophen diskutieren z.Z. gerade auf der Basis des Libet-Experiments,
ob es einen freien Willen des Menschen überhaupt geben kann.
Im Prinzip weiß jeder, dass es einen solchen freien Willen natürlich gibt, es ist aber nicht trivial die Fehlinterpretation des Libet-Experiments zu erkennen.


Wenn Sie einem Biologen, der sich seit über drei Jahrzehnten mit Evolutionsstrategien und mit der damit verbundenen
Selbstorganisation von Wissen beschäftigt, schreiben, er rede "nicht mehr von Evolution, sondern von etwas anderem."
dann sollten Sie das möglicherweise überdenken.


Ihr scheinbar logischer Schluss, "die Evolution kann gar keine "Strategie" haben, eben weil sie nicht teleologisch ist".
Ist leider falsch. Die Evolution muss eine "Strategie" haben, eben weil sie nicht im Sinne der Griechen
teleologisch sondern wahrscheinlichkeitstheoretisch bedingt ist, und stufenweise (über gradualness, wie es Darwin nannte)
höhere Lebewesen hervorgebracht hat.


Genau in dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen Voraussetzung liegt auch die fundamentale Bedeutung der Informationstheorie,
von der wir uns somit fragen müssen, ob diese Welt nicht nach dem selben Grundprinzip einer wahrscheinlichkeitsbedingten Informationsstrategie
aufgebaut ist. Wäre das nicht ein faszinierender Gedanke in der Fortführung von Monods Zufall und Notwendigkeit?



MfG



Walther Umstätter



Uwe Jochum wrote:


Lieber Herr Umstätter,

in Ihrer Mail mischen sich wiederum in äußerst bunter Weise zwei
gänzlich verschiedene Konzepte, die, man mag sich da anstrengen wie
man will, nicht kompatibel sind: Evolution ist ein Begriff für die
Entwicklung natürlicher Systeme, Revolution dagegen ein
Handlungsbegriff aus der Politik(wissenschaft) und
Geschichte/Geschichtswissenschaft. Letzterer meint immer, daß Handeln
als teleologisch zu verstehen ist und daß genau die von
reflektierenden Subjekten geführte Auseinandersetzung um die Ziele und
dann um die Methoden und Mittel der Zielerreichung der springende
Punkt ist; das Konzept der Evolution hingegen ist der großangelegte
Versuch, ohne Zielursachen und also gänzlich ohne Teleologie
auszukommen.

Es ist nun mehr als evident, daß die Rechtschreibreform ein Vorgang
ist, der mit Evolution nicht das geringste, mit Revolution oder
überhaupt mit zielgeleitetem Handeln und der Auseinandersetzung um
Ziele sehr viel zu tun hat. Ebendeshalb DISKUTIEREN wir die Sache hier
ja auch: weil wir uneins sind und verschiedene politische Konzeptionen
aufeinandertreffen. Ihr Versuch, die Rechtschreibreform in eine
"Evolutionsstrategie" einzubetten, verkennt diese politische
Dimension; und ist auch amüsant, denn schon der Begriff konterkariert
sich selbst: die Evolution kann gar keine "Strategie" haben, eben weil
sie nicht teleologisch ist; und wenn Sie das Gegenteil meinen, reden
Sie nicht mehr von Evolution, sondern von etwas anderem.


Uwe Jochum







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