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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"
- Date: Thu, 22 Jul 2004 13:28:05 +0000
- From: Sean Nowak <seannowak@xxxxxx>
- Subject: Re: "Bibliothekare zur R-Reform"
Liebe Liste,
in sehr vielen Punkten schließe ich mich der Kritik an der
Rechtschreibreform an. Ich könnte mich auch einer Rücknahmeforderung
anschließen - aber nur in bestimmten, zum Beispiel wirklich
rechercherelevanten, Bereichen.
Die Argumente der Rücknahmeforderer, soweit sie nicht grundsätzlich jede
Änderung der Orthographie ablehnen, lassen sich mehr oder weniger in
einem Satz zusammenfassen: Die Zahl der nötigen Recherchevarianten wurde
durch die Reform unnötig erhöht. (Dabei wird übrigens mehr oder weniger
so getan, als ob die Orthographie vor der Reform immer korrekt und
einheitlich eingehalten worden wäre.) Die Rücknahme der Reform würde
also neu entstandenen unnötigen Arbeitsaufwand wieder reduzieren.
In den Bereichen der Getrennt- und Zusammenschreibung und der
Stammschreibung ("Stängel" / "Bibliografie" &c.) lasse ich diese
Argumentation gelten. Hier kann ich mich der Rücknahmeforderung
anschließen. (Zwar sind die jetzt gültigen "progressiven" Schreibungen
wahrscheinlich schon immer als Fehlerformen vorgekommen, aber wohl nicht
in einem Umfang, der eine Berücksichtigung bei der Recherche
gerechtfertigt hätte).
In anderen Bereichen bin ich eher zurückhaltend in meiner Unterstützung
des Aufstandes.
1. Bei den ss/ß-Schreibungen hat es in der Praxis schon immer sehr
beträchtliche Schwankungen gegeben, weil nun einmal erhebliche
Unsicherheit bestand (und besteht), ob man muß oder muss schreibt, Streß
oder Stress, Straße oder Strasse usw. In der Realität außerhalb des
Wörterbuchs existierten schon immer jeweils beide Formen nebeneinander -
von der Variante sz (siehe z.B. das Grimmsche Wörterbuch!) ganz zu
schweigen. Für die Recherche ist es also unerheblich, ob im Wörterbuch ß
oder ss steht; beide Formen müssen gesucht werden, zumal ss immer die
Notlösung darstellte, wenn ß nicht vorhanden war oder als nicht
fortschrittlich empfunden wurde - in der Schweiz war diese Notlösung
ohnehin längst offizielle Norm (sogar in der Handschrift). In diesem
Bereich nützt die Rücknahme dem Bibliothekar gar nichts, wie mir scheint.
2. Bei der Groß- und Kleinschreibung kommt zur Unsicherheit ("im
allgemeinen" oder "im Allgemeinen", "der andere" oder "der Andere"?)
noch Absicht hinzu: Viele sind schon lange zu mehr oder weniger
"gemäßigten" Formen der Kleinschreibung übergegangen, weil sie es
originell, bequem oder fortschrittlich finden (schon mindestens seit den
Junggrammatikern). Es ist egal, ob es amtlich "im allgemeinen" oder "im
Allgemeinen" heißt, beide Formen wurden und werden gebraucht, beide
müssen gefunden werden (- wenn man gerade danach recherchieren will).
Ohnehin wird in der Regel bei der Recherche die Groß- und
Kleinschreibung nicht beachtet. Also auch hier kein Nutzen.
3. Etwas anders sieht es bei den Dreifachkonsonanten aus. Das ist der
Fall "Brennessel" vs. "Brennnessel". Es läßt sich nicht leugnen, dass
hier neue Varianten für die Recherche entstanden sind. Aber man bedenke:
In diesem Bereich würde die Rücknahme der Reform die Rückkehr zu einer
Regelkombination bedeuten, nach der Schiffahrt mit ff geschrieben wird,
Sauerstoffflasche dagegen mit fff, bei der Silbentrennung aber beide
Wörter mit ff-f! Kann man das wollen? Und wieviele Allgemeingebildete
kannten oder kennen diese früher gültigen Unterscheidungen? Fragen Sie
mal ein paar Bibliothekare. Und wieviele können auf Anhieb die Regeln
dazu angeben? Dieser Bereich ist besonders empfindlich, weil manche
Leser hier ein ästhetisches Problem haben, das ihnen das Lesen
erschwert. Aber wenn eine so eklatant unlogische Regel einmal beseitigt
wurde, kann dann ihre Restitution wirklich ernsthaft gefordert werden?
Ich wage die Vorhersage: Die Ästhetik der Logik wird sich gegen die
Ästhetik der Gewohnheit durchsetzen. Übrigens: Wie trennen Sie Brennessel?!
Leider ist über die Rechtschreibreform in der (bibliothekarischen und
sonstigen) Öffentlichkeit nie wirklich besonders differenziert
diskutiert worden. Es scheint nur schwarz oder weiß zu geben.
Theoretisch müsste es doch möglich sein, sinnvolle Veränderungen, die
die Recherche nicht oder nur geringfügig tangieren, zu akzeptieren, und
nur unsinnige Veränderungen und solche, die die Recherche wirklich
behindern, abzulehnen.
Sean Nowak
Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.