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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"



Liebe Liste,

in sehr vielen Punkten schließe ich mich der Kritik an der Rechtschreibreform an. Ich könnte mich auch einer Rücknahmeforderung anschließen - aber nur in bestimmten, zum Beispiel wirklich rechercherelevanten, Bereichen.

Die Argumente der Rücknahmeforderer, soweit sie nicht grundsätzlich jede Änderung der Orthographie ablehnen, lassen sich mehr oder weniger in einem Satz zusammenfassen: Die Zahl der nötigen Recherchevarianten wurde durch die Reform unnötig erhöht. (Dabei wird übrigens mehr oder weniger so getan, als ob die Orthographie vor der Reform immer korrekt und einheitlich eingehalten worden wäre.) Die Rücknahme der Reform würde also neu entstandenen unnötigen Arbeitsaufwand wieder reduzieren.

In den Bereichen der Getrennt- und Zusammenschreibung und der Stammschreibung ("Stängel" / "Bibliografie" &c.) lasse ich diese Argumentation gelten. Hier kann ich mich der Rücknahmeforderung anschließen. (Zwar sind die jetzt gültigen "progressiven" Schreibungen wahrscheinlich schon immer als Fehlerformen vorgekommen, aber wohl nicht in einem Umfang, der eine Berücksichtigung bei der Recherche gerechtfertigt hätte).

In anderen Bereichen bin ich eher zurückhaltend in meiner Unterstützung des Aufstandes.

1. Bei den ss/ß-Schreibungen hat es in der Praxis schon immer sehr beträchtliche Schwankungen gegeben, weil nun einmal erhebliche Unsicherheit bestand (und besteht), ob man muß oder muss schreibt, Streß oder Stress, Straße oder Strasse usw. In der Realität außerhalb des Wörterbuchs existierten schon immer jeweils beide Formen nebeneinander - von der Variante sz (siehe z.B. das Grimmsche Wörterbuch!) ganz zu schweigen. Für die Recherche ist es also unerheblich, ob im Wörterbuch ß oder ss steht; beide Formen müssen gesucht werden, zumal ss immer die Notlösung darstellte, wenn ß nicht vorhanden war oder als nicht fortschrittlich empfunden wurde - in der Schweiz war diese Notlösung ohnehin längst offizielle Norm (sogar in der Handschrift). In diesem Bereich nützt die Rücknahme dem Bibliothekar gar nichts, wie mir scheint.

2. Bei der Groß- und Kleinschreibung kommt zur Unsicherheit ("im allgemeinen" oder "im Allgemeinen", "der andere" oder "der Andere"?) noch Absicht hinzu: Viele sind schon lange zu mehr oder weniger "gemäßigten" Formen der Kleinschreibung übergegangen, weil sie es originell, bequem oder fortschrittlich finden (schon mindestens seit den Junggrammatikern). Es ist egal, ob es amtlich "im allgemeinen" oder "im Allgemeinen" heißt, beide Formen wurden und werden gebraucht, beide müssen gefunden werden (- wenn man gerade danach recherchieren will). Ohnehin wird in der Regel bei der Recherche die Groß- und Kleinschreibung nicht beachtet. Also auch hier kein Nutzen.

3. Etwas anders sieht es bei den Dreifachkonsonanten aus. Das ist der Fall "Brennessel" vs. "Brennnessel". Es läßt sich nicht leugnen, dass hier neue Varianten für die Recherche entstanden sind. Aber man bedenke: In diesem Bereich würde die Rücknahme der Reform die Rückkehr zu einer Regelkombination bedeuten, nach der Schiffahrt mit ff geschrieben wird, Sauerstoffflasche dagegen mit fff, bei der Silbentrennung aber beide Wörter mit ff-f! Kann man das wollen? Und wieviele Allgemeingebildete kannten oder kennen diese früher gültigen Unterscheidungen? Fragen Sie mal ein paar Bibliothekare. Und wieviele können auf Anhieb die Regeln dazu angeben? Dieser Bereich ist besonders empfindlich, weil manche Leser hier ein ästhetisches Problem haben, das ihnen das Lesen erschwert. Aber wenn eine so eklatant unlogische Regel einmal beseitigt wurde, kann dann ihre Restitution wirklich ernsthaft gefordert werden? Ich wage die Vorhersage: Die Ästhetik der Logik wird sich gegen die Ästhetik der Gewohnheit durchsetzen. Übrigens: Wie trennen Sie Brennessel?!

Leider ist über die Rechtschreibreform in der (bibliothekarischen und sonstigen) Öffentlichkeit nie wirklich besonders differenziert diskutiert worden. Es scheint nur schwarz oder weiß zu geben. Theoretisch müsste es doch möglich sein, sinnvolle Veränderungen, die die Recherche nicht oder nur geringfügig tangieren, zu akzeptieren, und nur unsinnige Veränderungen und solche, die die Recherche wirklich behindern, abzulehnen.

Sean Nowak


Listeninformationen unter http://www.inetbib.de.