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Re: "Bibliothekare zur R-Reform"



Ich habe vor relativ kurzer Zeit drei Jahre in Norwegen gelebt. In
Norwegen ist die zentrale "linguistische Instanz", der "spraakraad"
("Sprachrat") per Satzung dazu verpflichtet, sich der Propagierung
"linguistischer Toleranz" auch und vor allem im Alltagsleben zu widmen.
Es gibt - verkürzend - nahezu nichts Norwegisches, das Sie nicht auch
anders schreiben können. Meine norwegischen KollegInnen sind mir nicht
als sonderlich illiterat aufgefallen. Die norwegischen Schulkinder haben
bei Pisa deutlich besser abgeschnitten als die deutschen. (Letzteres
sage ich ungern, weil ich von dieser Studie nicht allzu viel halte.)


Ich halte es für plausibel, daß in einem kleinen Land wie Norwegen mit
4,5 Millionen Einwohnern es nicht sehr ins Gewicht fällt, ob die einen
so, die anderen aber anders schreiben; das bleibt aufgrund der
Einwohnerzahl alles noch überschaubar und "familiär". Wenn Sie das
aber auf 80 Millionen Sprecher/Schreiber extrapolieren, haben Sie bei
abweichenden Schreibgewohnheiten irgendwann ein Problem, denn dann
tendieren die abweichenden Schreibungen zuerst zu "Regionalismen" und
dann vielleicht zu Sondersprachen --- und irgendwann gibt es
Verständigungsprobleme. Mich wundert daher nicht, daß große
selbstbewußte Sprachgemeinschaften wie die englische auf
orthographische Homogeneität achten (und daß die Unterschiede zwischen
britischem und amerikanischen Englisch eben genau das sind, was sie
sein sollen: kulturelle Abstandsmarkierungen). Gute Gründe also, das
Deutsche nicht schlechter zu behandeln als das Englische und
angesichts der Größe unsrer Sprach- und Schreibgemeinschaft die Sache
nicht aus dem Ruder laufen zu lassen.

Schöne Grüße,

Uwe Jochum

Erfahrungsgemäß reichen schon weitaus weniger als 4,5 Millionen Einwohnern für jede ansehnliche Sprachverwirrung aus,
insofern ist das keine Frage der Größe des Landes. Es ist der Vorteil einer Publikation, wie der des Duden,
für den es egal ist, ob ihn 5, 50 oder 500 Mio. Menschen lesen. "Regionalismen" kann man schon in jedem kleinen Tal und in jedem Stadtteil problemlos erzeugen. Ob sie Rechtschreibrelevanz bekommen entscheidet in Deutschland auch weitgehend
der Duden auf Grund ihrer Ausbreitung, und die wird immer stärker von den Massenmedien bestimmt.


Ohne die Massenmedien einerseits und die Globalisierung andererseits hätte sich das Sinn machen (make sense)
gegen das Sinn haben nicht so rasch durchsetzen können. Wobei der Unterschied zwischen Sinn haben und Bedeutung haben
weitgehend verloren gegangen ist, obwohl es einen großen Unterschied macht,
ob eine Handlung sinnvoll ist, und ein Beobachter diesen Sinn erkennt oder einen eigenen hineininterpretiert.


Durch die weltweite Massenkommunikation gewinnt die Sprache in allen Ländern eine immer größere Dynamik.
Sie sinnvoll zu kontrollieren ist weitaus wichtiger, als sie nostalgisch zurückdrehen zu wollen.
Sprache muss sich weiterentwickeln, weil sich sonst das neue Wissen nicht ausbreiten kann.
Dass man dabei fast alles verballhornen kann ist klar. Insofern fand ich das Beispiel "Ich habe liebe Genossen (genossen) in Berlin.",
immer sehr aufschlussreich. Anstatt einen von unzählig vielen anderen zweideutigen Sätzen zu unterlassen,
nutzte man ihn gern und oft für eine in diesem Punkt völlig überflüssige Diskussion.


Eine Diskussion über die Verbesserung unserer Sprache ist zweifellos wichtig,
ebenso wie die Beseitigung von Fehlern in der Rechtschreibreform.
Man kann sich aber weiterhin des Eindrucks nicht erwehren, dass es vielen Menschen darum weniger geht,
als um die Rückgängimachung aus Prinzip,
um den Erhalt alter Gewohnheiten, um die Demonstration verfehlter Politik des politischen Gegners,
um den Nachweis unterschiedlicher Intelligenz, um den Erhalt etablierter Denkstrukturen und vieles mehr.
Mich stört dabei weiternin, wenn Bibliothekare ihr ohnehin verstaubtes Image aufpolieren.


Wie weit es Engländern und Amerikanern um "kulturelle Abstandsmarkierungen" geht, ist eine interessante Frage,
wenn man sieht, wie so mancher amerikanische oder auch englische Spielfilm davon lebt,
dass die modernen dynamischen Amerikaner sich am old fashioned english erfreuen.
Wie hieß es u.a. bei Eartha Kitt: "An Englishman Needs Time".
Eine nette Variante wäre: "A librarian need's time".


MFG

Umstätter


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